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■ Gedanken am Abend
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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2008-07-22 | |
Es schneite pausenlos seit zwei Tagen. Der Schnee hatte mit seiner gestaltenden Decke vieles verborgen; man konnte die Wege nicht mehr erkennen, auf den Feldern, die noch vor einigen Monaten mit roten Herbstblumen bedeckt waren, herrschte nur Schnee, der so glänzte, als ob sich in ihm Edelsteine versteckten. In den Wäldern war es unmöglich, den schmalen Pfaden zu folgen, obwohl hier die hohen Bäume den Boden ein wenig beschützten. Alle Tiere hatten sich in ihre Häuschen versteckt und warteten auf bessere Zeiten, wenn die Sonne wieder scheint und die Blumen sie mit ihren Düften herauslocken.
Arwid saß am Fenster und schaute, wie die Schneeflocken eintönig auf den Boden und die Äste der Bäume fielen. Er dachte an die schönen Tage mit Sonne, wenn er mit seinem Vater in den Wald gehen wird, um Bäume zu fällen; wenn die Tiere wieder mit ihrer Anwesenheit das Bild fröhlicher machen werden. All das schien Arwid in diesem Augenblick aber unmöglich. Der Junge wohnte zusammen mit seinem Vater in einer kleinen Holzhütte, am Rande eines Tannenwaldes, weit entfernt von der Stadt. Sein Vater war von Beruf Holzfäller und verdiente sein tägliches Brot recht schwer. Arwid konnte nicht lesen und schreiben und hatte nie eine Schule besucht. Er verschwendete seine Zeit, indem er durch den Wald spazierte und sich Geschichten, die sein Vater ihm erzählt hatte, durch den Kopf gehen ließ, Geschichten, die am Feuer mitten im Winter erzählt werden, von alten Zeiten, als Hexen die Welt regierten und Tiere sprechen konnten, oder andere über Waldgeister, die Wünsche erfüllen können. Obwohl Arwid den stets grünen Tannenwald sehr gut kannte und oft auf Entdeckungsreise ging, hatte er nie einen Waldgeist gesehen, von dem sein Vater so lebensnah erzählte. Einmal hatte sich der Junge vorgestellt, er würde einen Schatz finden und mit dem Geld, das er für seinen Verkauf bekommen würde, in eine Stadt ziehen, wo er die Schule besuchen dürfte und sein Vater eine gute Arbeitsstelle bekommen würde; das ließe auch den nicht mehr allzu jungen Vater die Hoffnung schöpfen, das Holzfällen aufgeben zu können, um sich mit Arwid auf Abenteuer zu begeben. Doch so sehr sie auch wochenlang an den Wurzeln der Bäume, in kleinen Grotten und am Rande eines Flusses suchen und in der Erde bohren sollten, würden sie nichts finden. Arwid schaute weiter aus dem Fenster und träumte, endlich mal Freunde zu haben und sich nie mehr zu langweilen. Drinnen, wo sich der Vater mit dem Feuer beschäftigte, war es warm und bequem, während man draußen sah, wie der Wind die Schneeflocken zu einem wilden Tanz führte. Es war ziemlich dunkel und düster, dicke, graue Wolken beherrschten den Himmel und ließen keinen Sonnenschein ein bisschen Freude ins Herzen der Menschen bringen. Arwid dachte an die Länder, von denen sein Vater so oft erzählt hatte, wo die Sonne nie untergeht, wo es immer schön warm ist, wo die Vögel immer fröhlich zwitschern und das blaue Meer den Meerjungfrauen Schutz bietet. Das Meer. Es klang so melodisch, so schön. Wie fühlt es sich an? Wie schaut es in Wirklichkeit aus?, fragte sich Arwid, der mehr als die Umgebung, in der er wohnte, den Wald und die Holzhütte nicht kannte. Er wünschte sich so sehr, in einem der sonnigen Länder zu sein, deren Schönheit alle Märchen loben. ... Ein Schütteln unterbrach Arwids Träume. Er drehte sich um. Sein Vater stand mit besorgtem Gesicht vor ihm. In seinen blaue Augen konnte Arwid bemerken, dass er unruhig war. Seine ziemlich weißen Harre verrieten, dass er auch nicht mehr sehr jung sein konnte. „Wir brauchen dringend Holz fürs Feuer, Arwid. Ich muss hier bleiben, damit die Flamme nicht erlöscht. Sei bitte vorsichtig, damit du nicht irgendwo hinfällst und dir wehtust.“ * * * Arwid zog einen dicken Pelzmantel und seine Lederstiefel an und trat auf die hölzerne Tür zu. Als er sie öffnete, blies der Wind ins Haus hinein und die Kälte wirkte einige Momente lang, so als wolle sie die spärliche Flamme auslöschen. „Schließ doch die Tür zu! Und bleib nicht lange im Wald, komm schnell zurück!“, rief der Vater ihm nach, der neben dem Ofen stand und versuchte, das Feuer am Lodern zu halten. Arwid packte schnell die Klinke und zog die Tür mit aller Kraf hinter sich zu, so dass der Wind nicht mehr ins Haus gelangen konnte. Er atmete tief ein. Es fehlte ihm der Duft der Blumen und der Geruch nach frischem Gras so sehr. Nur die schwere, sehr kalte Luft war jetzt zu spüren. Sie trieb ihm die Weite ins Herz, die Kälte des Winters, die er hasste. Die Tannen waren nicht mehr mit Vögeln bewohnt, jenen Lebewesen, die es schafften, Freude in die Welt zu bringen. „Sie sind weit weg, in Afrika, wo es warm ist und wo es ihnen gefällt“, erzählte ihm sein Vater. „Werden sie wieder zurückkommen?“, hatte er einmal gefragt. „Natürlich, wie immer“, hatte sein Vater geantwortet. Doch wenn Arwin den weißen Schnee ansah, der alles bedeckte, hatte er trotzdem noch Angst, dass die Vögel nie mehr zurückkehren könnten, wenn sie sowieso die Wärme liebten. Der Junge schaute auf den Pfad. Der war wie alles andere vom Schnee bedeckt. Das würde seine Arbeit nicht leichter machen, denn er konnte sich sehr schwer im Winter orientieren. Alle Bäume, alle Wege schienen ihm gleich. Er näherte sich langsam dem Wald. Der Wind peitschte ihm ins Gesicht. Am Waldrand sah er ein paar gefallene Äste. Er sammelte einige, die er für gut zum Feuermachen hielt. Unter den gesammelten Ästen gewahrte er noch wenige Grashalme. Doch gleich wurde alles wieder weiß, da es gerade stark schneite. Ohne dass er es merkte, drang Arwid mehr und mehr in den Wald ein und sammelte weiterhin Holz. Die Stille im Wald ließ ihn angespannt den Kopf heben. Sie hörte sich so fremd an. Nichts war im Wald, nur Schnee, so weit man mit den Augen sehen konnte und an manchen Stellen dünne Baumstämme, die sich elegant empor gen Himmel reckten. Man hörte den Wind weit weg heulen, so als würde er an ein Tor klopfen. Ab und zu brach ein vom Schnee belasteter Ast. Das leise Knirschen der Stiefel im Schnee war das einzige Geräusch, das oft die Stille brach. Es hörte sich so merkwürdig an. Plötzlich meinte Arwid ein paar Spuren im Schnee zu sehen. Er eilte dorthin, sah aber die große Wurzel eines Baumes nicht und stolperte drüber. Dabei fiel ihm das Holz aus den Armen und verstreute sich über den Boden. Der Junge aber fiel mit dem Kopf auf einen Stein, der vom Schnee bedeckt war. Er fühlte einen Schmerz, stöhnte leise und blieb auf dem Boden liegen. Er wurde ohnmächtig. * * * Arwids Vater saß in der Hütte an dem inzwischen wieder großen Feuer auf einem uralten Lehnstuhl. Als Erstes dachte er, dass Arwid wahrscheinlich kein Holz findet, dann wurde er allmählich böse und dachte, dass das Kind irgendwo einen Schneeman baut. Aber als Nächstes wurde er besorgt, denn die alte Pendeluhr auf der Wand zeigte, dass schon viel Zeit vergangen war, seitem der Bursche von zuhause weg war. Und die alte Uhr aus wertvollem Eichenholz hatte sich nie geirrt, war nie mit nur einer Minute vor- oder nachgegangen. Der Vater hob sich langsam von seinem Stuhl und seuftzte tief. Ob er noch auf seinen Sohn warten sollte? Er beschloss, ihn zu suchen, und zog sich an: dicke, große Pelzstifel und einen langen Hirtenmantel, den er von seinem Vater geerbt hatte. Arwids Vater löschte das Feuer und öffnete die Tür. Ihm war so kalt. Er ging aber weiter, da er befürchtete, dass Arwid auf seinem Weg Wölfen begegnet sein könnte. Als Waffe gegen die Bestien nahm er eine Axt mit. Auf seiner Glatze hatten sich schon Schneeflocken gesammelt und man konnte die weißen Haare, die ihm noch geblieben waren, nicht mehr vom Schnee unterscheiden. Er schüttelte den Kopf und ging in die Richtung, in die ihn die Spuren seines Sohn, die inzwischen kaum noch sichtbar waren, führten. * * * Zur gleichen Zeit saß Arwid im Schnee und rührte sich nicht. Wie sein Vater befürchtet hatte, erschien aus dem unendlichen Schnee ein hungriger, kleiner Wolf. Das Tier roch zuerst die Umgebung ab und schnüffelte fröhlich mit der Schnauze. Es näherte sich geräuschlos dem Kind und zog es am Ärmel. Erst nachher wollte es prüfen, ob das Gefundene noch lebt, wie ihn seine Mutter es gelehrt hatte. Arwid öffnete langsam die Augen und sah vor sich ein langes, zottiges, graues Fell und dazu stank etwas furchtbar. Er sprang so schnell er konnte hoch und wollte laufen, doch als er das kleine Tier vor sich sah, musste er lachen. Es versuchte, Arwid Angst zu machen, zeigte seine Zähne, aber alles schien so, als würde es ein Grinsen üben. Der junge Wolf merkte, dass er ausgelacht wurde und ging beleidigt neben einen Baumstamm, wo er gähnte und Arwid weiter beobachtete. Ein Wolfsschrei. Der Kleine stand auf. Er hatte sich erinnert, dass er eine Arbeit zu erledigen hatte und ging in die Richtung, aus der der Schrei zu hören gewesen war. Der Junge hatte sich an die Spuren erinnert, die er im Schnee vor seinem Hinfallen gesehen hatte. Ob er sie noch finden wird? Dann schoss es ihm durch den Kopf, dass er nicht einmal wusste, wie viel Zeit vergangen ist, seit er auf Holzsuche von Zuhause weg war. Sein Vater hatte sich bestimmt Sorgen gemacht. Arwid hob den Kopf und wollte den Himmel ansehen. War es schon Abend? Oder erst Nachmittag? Groß war sein Erstaunen und zugleich seine Traurigkeit, als er bemerkte, dass er sich mitten im Walde befand, wo dieser am dichtesten war. Man konnte den Himmel gar nicht sehen, nur überall hohe Tannen, die einen weißen Anzug trugen. Ab und zu fielen monoton auch manche Schneeflocken. Er sah sich selbst an. Von seinen Kleidern war nichts mehr zu erkennen. Er dachte an die Schneemänner, die er mit seinem Vater einmal gebaut hatte. Weiß, mit einer alten Mütze auf dem Kopf. Und mit einer roten Karotte als Nase, genauso wie er. Er lächelte bei diesen Gedanken. Es war ihm so kalt! Seine Zähne begannen sogar zu klappern. Er musste doch das Holz nach Hause bringen ... Ob das nicht zu spät war? Arwid schaute nach den Ästen. Sollte er nicht besser nach Hause gehen und zusammen mit seinem Vater Holz sammeln? Und was sollte er sagen? „Ach, ja, liebster Vater, ich bin gestolpert und war für eine Weile ohnmächtig. Und, apropos, das Holz habe ich auch nicht.“ Nein, er musste unbedingt die Äste nach Hause bringen. Er beugte sich vor und tastete sich durch den Schnee. Ein erster Ast kam zum Vorschein, dann noch einer. Auf alle hatte sich eine dünne Schicht Schnee gelegt. Ein Heulen ertönte. Das konnte nur eins bedeuten, dachte sich der Junge. Das waren bestimmt hungrige Wölfe. Arwid ging in die Richtung, in der er meinte, dass er nach Hause kommen würde. Ob das der richtige Weg war? Er sah sich wieder um. Ja, nur Bäume und Schnee. Arwid wusste nicht mehr Bescheid, welches der Weg war, der ihn nach Hause bringen sollte. Er erinnerte sich an die Spuren, die er gesehen hatte. Menschenspuren. Der Junge drehte sich mit dem Holz im Arm um. Da, da war etwas. Er ging dorthin und legte sich in den Schnee, um die Spuren besser sehen zu können. Enttäuscht hob er sich und verzog das Gesicht. Es waren Pfotenabdrücke von Tieren gewesen. „Wahrscheinlich Füchse“, sagte er sich. Aber er sah noch etwas und ging auch dorthin. Das waren endlich die Menschenspuren. Und er war sich sicher, dass er sich nicht täuschte. Wie glücklich er war! Arwid folgte den Spuren. Langsam wurde es dunkel. Das Heulen war jetzt besser zu hören. Es schneite stark. Der Junge wurde auf einmal so müde von dem vielen Stafpen und ließ sich auf den Boden nieder. „Nur jetzt nicht einschlafen!“, dachte er. Er erinnerte sich an die Gemütlichkeit von zuhause, an die Wärme. Wie sehr er sich wünschte, dort zu sein! Er gähnte laut. Arwid stand wieder auf. Mit dem Holz in den Armen, mühte er sich durch den Schnee. Was machte sein Vater eigentlich? Wahrscheinlich suchte er nach ihm. Er seufzte und hoffte, dass sich sein Vater doch nicht sehr, sehr große Sorgen um ihn machte. * * * Während dieser ganzen Zeit suchte der Vater tatsächlich nach seinem Kind. Die ersten Schritte konnte man kaum sehen, doch je tiefer mehr er in den Wald vordrang, vermischten sich die Spuren mit anderen, die von Tierpfoten herrührten. Wo konnte der Bursche sein?! Plötzlich hörte er ein fernes Heulen. „Nur keine Wölfe!“, murmelte der Vater und ging weiter. Der Schnee glänzte manchmal so sehr, dass er die Augen zumachen wollte. An einer Stelle konnte der Mann durch die mächtigen Bäume den Untergang der Sonne beobachten, die halb zwischen den Wolken versteckt war. Dann schien sie am hellsten, so als wollte sie einen kleinen Sieg über die Dunkelheit ankündigen. Der Vater wurde ungeduldiger. Er musste sich beeilen, denn es würde nicht mehr lange dauern, bis die hungrigen Bestien aus ihren Verstecken kommen werden. Doch, wo sollte er hingehen?! Wäre es nicht besser, wenn er nach Hause zurückkehren würde, wo es so warm war und dieser zweimal verfluchte Wind nicht gegen sein Gesicht wehte? Doch er schüttelte den Kopf, so als würde er sich selbst ermutigen. Nein, das konnte er auf keinen Fall tun! Was würde aus seinem Sohn, falls er ihn nicht finden würde? Er ging ein paar Schritte weiter. Plötzlich erschienen vor ihm ein paar Spuren, die er noch nicht bemerkt hatte. Spuren von Schuhen. Ziemlich alt, aber vielleicht würden sie ihn doch zu seinem Sohn führen. Langsam folgte er ihnen. * * * Arwid ging weiter. Einige Äste fielen ihm aus den Armen. Er bückte sich, um sie einzusammeln. Dabei fiel ihm auch der Rest des Holzes in den Schnee. Nein, nicht gerade jetzt!, schrie er in seinen Gedanken. Genau jetzt, wo es dunkler wurde und er schneller einen Ort finden musste, wo er übernachten konnte. Nun musste er auch noch Zeit damit verlieren, das Holz einzusammeln. Das wichtige Holz und die noch wichtigere Zeit! Beides brauchte er zum Überleben. Also begann er die Äste zu sammeln. Der Wind wehte ihm in den Rücken, die Kleider klebten an seinem Körper fest. Seine Finger konnte er kaum bewegen.Und dafür kam auch noch ein Niesen, gefolgt von einem zweiten. Er beeilte sich, so gut er konnte. Als er endlich mit dem Sammeln fertig war, wäre ihm beinahe das Holz wieder aus den Armen gefallen. Er begann zu rennen, ohne die Spuren zu verlassen. Er hatte wieder einen Wolfsschrei gehört. Diesmal ziemlich nahe. Würde er doch den Ort finden, wo er sich geschützt fühlen konnte! * * * Sein Vater sah keine Spuren mehr. Er hörte schon die Wölfe in seiner Nähe. Doch wo steckte sein Sohn?! Der Vater hoffte aus ganzem Herzen, dass ihm nichts Schlimmes passiert war, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass inzwischen nichts vorgefallen war, da Arwid nach Hause gekommen wäre. Und da schoss es ihm durch den Kopf: Was, wenn der Junge in der Zeit schon zu Hause war, und sich Sorgen um seinen Vater machte? Was, wenn er es allein nicht schaffte, das Feuer am Brennen zu halten? Der Mann wollte zurück, aber er kannte den Weg nicht mehr. Seine Fußspuren hatten sich längst mit andere vermischt, von Tieren, die keinen Winterschlaf hielten, denn es schneite gerade nicht. In dem Augenblick fühlte er sich wie ein Kind. Was konnte er anfangen? Er entschloss sich, den Spuren weiter zu folgen. Seltsamerweise, hatten sich diese nicht ganz mit anderen vermischt, sondern tauchten regelmäßig auf, so als hätten sie entschlossen, jemand in Not zu helfen. Er sah sich genau um, damit er sicher war, dass ihm keine Bestie folgte. Nur Schnee. Der Mann ging müde weiter und träumte mit offenen Augen, dass er schneller an die so gewünschte Wärme kommen könnte. Er ahnte nicht, dass seinem Sohn das Gleiche widerfuhr. * * * Arwid jedoch merkte, dass die Bäume nicht mehr so dicht nebeneinander standen und es immer weniger wurden. Aber die Spuren hörten nicht auf, ihn an einen unbekannten Ort weiterzuführen. Als er den Kopf hob, sah er vor sich einen zugefrorener Fluss. Es schien ihm, dass er an diesem Platz schon einmal war. Ja, das stimmte. Er erinnerte sich an die alte Tanne, die am gegenüberliegenden Ufer stand. So hoch und mächtig! Arwid war im Sommer an diesem Ort mit seinem Vater vorbeigekommen, als sie Bäume zum Fällen suchten. Sein Vater wollte die große Tanne fällen, doch der Junge bat ihn, das nicht zu tun, weil es schade war, so einen alten, prachtvollen Baum zum Verfeuern oder zum Möbelherstellen zu verwenden. Wahrscheinlich war es die älteste Tanne aus dem ganzen Wald! „Prima, der König aus diesem Wald!“, dachte Arwid. Ein Rascheln riss ihn aus seinen Gedanken. Ob das vielleicht Wölfe waren? Er hatte Angst, sich umzudrehen. Er hatte Angst, seine Feinde zu sehen. Warum wusste er selber nicht. Der Junge musste sich schnell davonmachen. Wie denn?, fragte er sich. Keine Gedanken, nichts. Seine Füße begannen von allein zu laufen. Dann hörte er eine Stimme. Menschenstimme! Endlich! Ob er sich nicht getäuscht hatte? Egal, meinte er und drehte sich um. Aber eigentlich war es ihm gar nicht egal, war er doch so froh, wieder Menschen reden zu hören! Es schien ihm schon so lange her, seitdem er die Hütte verlassen hatte. Noch mit den Holz in den Armen, wartete er, dass jemand oder etwas zum Vorschein kommt. Vielleicht war es doch sein Vater! Aus dem Schnee tauchte ein Mann auf. Er hatte eine blaue Mütze auf dem Kopf, unter der vereinzelt rötliche Strähnen zum Vorschein kamen. Das Gesicht war rot von der Kälte. Er schaute Arwid erstaunt an. „Was suchst du hier? Das ist kein richtiger Spielplatz! Du solltest schnellstens wieder ins Dorf gehen, es dauert nicht mehr lange, bis es sehr dunkel wird.“ „’Tschuldigung!“, gab Arwid als Begrüßung. „Ich wohne neben dem Wald. Als ich Holzsammeln ging, habe ich mich im Wald verlaufen. Jetzt finde ich den Weg nach Hause nicht mehr.“ „Ach, soso...“, murmelte der Unbekannte. „Meinst du nicht, es wäre besser, wenn du bei mir übernachten würdest? Morgen suchen wir gemeinsam dein Haus. Ist es dir recht so?“ Arwid wusste nicht, was er sagen sollte. Eigentlich wäre es viel besser, einen Schlafplatz zu haben ... aber er machte sich gleichzeitig Sorgen um seinen Vater. Er nickte und sagte einfach „Ja.“ „Ich freue mich, jemand zu haben, mit dem ich sprechen kann, dann vergeht die Zeit viel schneller“, antwortete der Mann. Er näherte sich dem Jungen. „Komm, ich zeige dir, wo wir die Nacht verbringen werden.“ Wer war dieser Mann?, fragte sich Arwid. Warum stellt er sich nicht vor?! Warum denn nicht? Und wieso befand er sich mitten im Wald, dort wo doch fast keine Menschen herumspatzierten. Es schien Arwid, als kannte der Mann den Wald. Vielleicht wohnte er allein und lebte nur von Früchten? Was aß er dann im Winter??? Sie machten gemeinsam ein paar Schritte. Zwischen den Beiden herrschte Stille. Eigentlich war es überall still, als würde auch der Wald auf Arwids Fragen eine Antwort erwarten. Meistens war es ja still, aber immerhin hörte man oft Knirschen. „Wer sind Sie?“, sprach Arwid. Er wollte noch Fragen stellen, doch als er den Mund öffnete, schloss er ihn auch gleich wieder. Er fand es peinlich, dass er diese Stille unterbrochen hatte. So, als wäre diese ein Ritual gewesen ... Der Unbekannte aber begann zu lachen. „Wer ich bin?“ Er machte eine Pause und schaute Arwid amüsiert an, indem er stehen blieb und die große Tanne ansah. „Beeile dich. Ich werde es dir zeigen!“ Zeigen? Wieso zeigen?, fragte sich Arwid. War das etwa ironisch gemeint? Warum konnte er nicht einfach erklären, wer er sei? Der Junge war sich nicht mehr ganz sicher, ob er dem Mann folgen sollte. Doch weil er keine andere Wahl hatte, ging er ihm nach. Er hatte keine andere Wahl mehr, weil er selbst bemerkt hatte, dass der Mond schon schüchtern schien und in der Ferne Wölfe heulten. Der Mann machte sich wegen den Wölfen keine Probleme, er sah gar nicht unruhig aus, sondern eher gut gelaunt. Inzwischen begann es auch langsam zu schneien. Bald kamen sie an einer Öffnung an. Drinnen war es finster. „Mmm“, versuchte es Arwid. „Ja?“, fragte der Mann, während er hineintrat. „Wohnt da irgendein Tier?“, setzte der Junge nach. Ein Grinsen breitete sich über das Gesicht des Unbekannten. „Nein, da werden wir heute Nacht schlafen.“, gab er zur Antwort. Arwid sagte nichts, aber er war ziemlich erschrocken. In einer Grube zu schlafen? Außerdem konnten Wölfe draußen um diese Behausung sein. Und es würde kalt werden. Er dachte, der Mann musste verrückt sein, um so etwas zu tun. ... Und war er vielleicht sogar ein Wahnsinniger? Arwid schüttelte den Kopf und verdrängte diesen Gedanken. Er hatte doch keine andere Wahl! Der Mann versuchte mit Arwids Holz ein Feuer zu machen. Als er es endlich schaffte, wurde die ganze Grube beleuchtet. Arwid konnte endlich sehen, wo er sich befand. Überall auf dem Boden lagen unbekannte Dinge und ein Heft, wie das, in dem sein Vater immer aufnotierte, wie viel Geld er in einem Monat verdient hatte. Als der Mann sah, wie erstaunt Arwid auf seine Sachen schaute, lachte er. Der Junge fühlte sich so peinlich. Warum wurde er immer ausgelacht? Sah er wirklich wie ein Blöder aus? „Ich bin ein Wissenschaftler,“ erklärte der Mann. „Ein Wiss... ein was???“, fragte Arwid. „Wissenschaft heißt das, was ich mache. Eigentlich mache ich Studien, wie sich Tiere im Winter benehmen.“ „Aha,“, meinte Arwid noch, obwohl er nicht genau wusste, was Studien waren. Er hatte weiterhin dieses peinlichen Gefühl, obwohl er schon wusste, dass der Typ irgendein Wissenschaller sei. ... Aber er konnte sich das selbst nicht erklären. „Was sind das für Dinge, die Ihr überall auf dem Boden liegen gelasen habt.“ „Das werde ich dir erklären, nachdem du mir hilfst, das Essen vorzubereiten.“ Arwid nickte zufrieden und bemerkte erst jetzt, dass er sehr hungrig war. * * * In dieser Zeit folgte Arwids Vater den merkwürdigen Spuren im Schnee. Wo war sein Sohn? Was ist mit ihm passiert? Wem gehörten diese Spuren? Arwids Spuren konnten es nicht sein, da sie zu groß waren. Würde er einen Schlafort finden, wo er die Nacht endlich mal verbringen könnte? Eine Menge Fragen liefen ihm durch den Kopf. Er war so müde, dass er langsamer durch den Schnee gehen musste. Es frierte ihn. Und weil er keine Mütze auf dem Kopf hatte, war ihm sehr kalt. Er würde sich sicherlich erkälten! Auf einmal hörte er Heulen in der Nähe. Der Vater drehte sich um. Er hatte zum Glück noch seine Axt, mit der er sich vor den Bestien wehren konnte. Er wartete, dass sie angreifen. Unerwartet, als es stiller wurde, sprang ein Wolf ihn an. Von wo, konnte der alte Mann nicht sehen. Noch zwei andere tauchten auf. Ziemlich wenig für eine Wolfsmeute ... Wahrscheinlich nur einfach eine Familie. Einer griff an. Der Vater wehrte sich. Der Wolf hüpfte erschrocken zurück. Auf seinem Fell war ein wenig Blut zu sehen. Ein schönes graues Fell hatten die Tiere, doch sie waren sehr mager. Das konnte dem Vater ein wenig helfen, weil die Tiere nicht so viel Kraft hatten. Ihre grasgrünen Augen glänzten schlau und für einen Moment, hatte der Mann Angst. Er stürmte auf einen der Wölfe zu, der erwachsener aussah. Das Tier wich zurück. ... Eigentlich sahen sie auch gar nicht sehr erwachsen aus. Vielleicht wollten sie doch nur spielen. Und was würde geschehen, wenn sie ihre Verwandten rufen würden? Der Vater lies die Axt los. Er konnte einfach den Tieren nichts machen. Er liebte Tiere. Er nahm sein Axt wieder auf und ging weiter, den Spuren folgend. So viel Angst nur wegen diesen Wölfen! Warum wurden sie in allen Märchen als negative Wesen beschrieben? Die Wölfe schauten ihm lange nach. „Menschen sind doch gar nicht so böse“, dachten sie vielleicht. Sie sahen sich an, dann liefen sie dem alten Vater nach. * * * „Arwid, ich arbeite mit diesen Gegenstände!“, sagte der Wissenschaftler. Ich versuche ein Tier im Winterschlaf zu beobachten. Das sind Sachen, die mir dabei helfen“, erklärte er sie Arwid. „Aha. Hmm, komisch“, meinte der Junge. Sie saßen gemeinsam um das Feuer und aßen einige Brötchen. „Ich liebe Tiere, das ist meine Welt,“ erzälte der Wissenschaftler weiter. „Ich auch!“, erwiderte Arwid. Langsam wurde das Gespräch langweilig. Meistens wurde nur mit „Aha oder Hmm“ geantwortet. Keiner verstand den anderen besonders gut. Arwid verstand die merkwürdigen Dinge, mit denen sich der Wissenschaftler beschäftigte nicht, und der Mann verstand Arwids Situation nicht. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie Leute so weit entfernt von einer menschlichen Siedlung wohnen können, ohne die Regeln der Stadt. Einfach nach den Regeln der Natur. „Eine Frage“, versuchte Arwid. „Natürlich,“ antwortete der Mann. „Wieso haben Sie diese Spuren im Schnee gelassen? Wo waren Sie? Kennen Sie diesen Wald?“ Wieder breitete sich ein Ginsen über dem Gesicht des Wissenschaftlers aus. „Ich bin noch einmal durch den Wald spazieren gegangen. Da habe ich diese Grotte gefunden. Es ist sehr seltsam, wie ich sie noch einmal gefunden habe. Ich werde es dir kurz erzählen.“ Arwid schaute ihn erwartungsvoll an. Das Feuer brannte weiter und verbreitete orangene Strahlen. Von draußen her kam nur wenig Kälte. Die beiden saßen auf einer dicken Wolldecke. „Als ich mich entschied, Tiere zu studieren, waren vorwiegend Wölfe gemeint. Ich wusste, dass ich in diesem Wald eine Chance haben würde, sie zu beobachten, also machte ich mich auf den Weg. Das war heute Morgen. Ich verirrte mich durch diesen dichten Wald und wusste nicht mehr, in welche Richtung ich gehen sollte. Meine Spuren im Schnee konnte man nicht mehr gut erkennen, weil es sehr stark schneite und sie schon zugedeckt worden waren. Plötzlich erschienen drei Wölfe. Zuerst dachte ich mir, sie würden hungrig sein und wollen angreifen, aber sie schauten mich nur seltsam an und liefen weiter. Manchmal blieben sie stehen und schauten mir nach, ob ich ihnen folge. Es war mir klar, dass sie mich an einen Ort führen werden. Sie zeigten mir diese Grotte, die ich ohne ihre Hilfe nie wieder gefunden hätte ...“ Der Wissenschaftler machte eine kleine Pause. „Also sind diese Tiere gar nicht böse ... und außerdem klug,“ meinte Arwid. „Sehr klug! Aber ich weiß nicht, wieso sie mich verstanden haben. Wahrscheinlich sind sie sogar gescheiter als Menschen ... Nachdem sie mir die Grotte gezeigt hatten, waren sie einfach verschwunden, als ich mich nach ihnen umdrehte.“ Was für Wesen waren das gewesen?, fragte sich Arwid. Mehr als einfache Tiere, auf jeden Fall ... „Ich weiß nicht, ob ich darüber in meinen Studien schreiben soll. Niemand würde mir glauben, dass Wölfe hilfsbereit sind“, erklärte der Mann. Für einen Moment ließ sich die Stille nieder. * * * Arwids Vater ging den Wölfen nach. Es schien ihm, als würden diese ihm helfen wollen. Er folgte ihnen, weil es sowieso dunkel wurde und man die Schritte nicht mehr sehen konnte. Die Silhouetten schlichen durch die Finsternis. Meistens konnte der alte Mann sie sehen, wenn sich die Tiere umdrehten. Dann konnte er ihre grünen Augen bemerken. Es wurde langsam kalt. Arwids Vater hielt eine Hand in der Hosentasche und in der anderen hatte er die Axt, obwohl er nicht mehr genau wusste, ob er sie noch verwenden würde. * * * Arwid war sehr müde. Seine Augen schlossen sich, aber dann wachte er wieder auf. Eine Menge Gedanken hielten ihn wach. Wo befand sich sein Vater? Und was war mit diesen Wölfen eigentlich los? Der Wissenschaftler machte sich Notitzen in sein Heft. Er hatte Arwid erklärt, dass er ein Tagebuch führte, also er erzälte vom vergangenen Tag. Er schien damit sehr beschäftigt zu sein. Arwid wollte ihn nicht mit Fragen stören, die vielleicht auch der Mann selber nicht beantworten konnte Man hörte ein Rascheln. „Feuer!“ schrie jemand. Der Wissenschaftler hob den Kopf von seinem Heft. Er drehte sich um und flüsterte Arwid „Ich sehe einen Menschen.“ Auch der Junge hatte ihn gesehen. Der Wissenschaftler hob sich vom Boden und ging den Mann zu begrüßen. Arwid folgte ihm. „Arwid!“ Der Mann lief auf den Burschen zu und umarmte ihn. Er zitterte. Wahrscheinlich teils vor Freude, teils vor Kälte. Hinter ihm standen drei Wesen. Ihre grasgrünen Augen funkelten neugierig. „Wo warst du die ganze Zeit?!“, fragte der Vater erleichtert. „Es ist nicht lange her, seit er hier ist“, klärte der Wissenschaftler ihn auf. In dieser Zeit kniete Arwid im Schnee neben den drei Wölfen und schaute ihnen in die Augen. „Wer seid ihr?“, flüsterte er. Es schien ihm, als hätte er einen davon schon einmal gesehen. Dabei drehten sich die Tiere um und verschwanden in den dunklen Wald. Die Männer gaben sich die Hand. Sie legten sich erneut um das Feuer. Arwids Vater erklärte kurz, was ihm die ganze Zeit passiert war. Der Wissenschaftler rief auf einmal: „Das Ganze muss ich unbedingt in meinem Tagebuch festhalten.“ Arwid blieb nachdenklich am Feuer sitzen. Er war teilweise froh, dass er sich im Wald verirrt hatte. Er hatte diese Wölfe gesehen. Diese Tiere hatten zwei Menschen gerettet. Wer waren diese Wölfe? Oder besser gesagt, was waren diese Wölfe? Meine Daten: Name: Teodora Toc Geburtsdatum: 06. 12. 1995 Rumänien (Foto: http://www.gigapolis.com/zauberwald/wolf/bilder/woelfe_3_winter.jpg) |
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