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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2004-02-09 | |
Gregory Shomrykov sah auf die Uhr. Zehn vor neun. Er hatte also noch 25 Minuten bis zum Beginn der Sitzung. Zeit genug für eine letzte oder sogar vorletzte Zigarette. Er hasste diese Dinger, war sich aber unterbewusst im Klaren, dass er nie von ihnen loskommen würde. Auf dem Gang, draußen vor dem großen Sitzungssaal traf er auf Shamir. Er mochte diesen kleinen, untersetzten Tschetschenen. Shamir Kostolunica war ein brillanter Redner. Zum Glück von Väterchen Russland hatte er allerdings nur selten Gelegenheit diese Redekunst vor der Vollversammlung zur Schau zu stellen. „Zigarette?“ fragte Gregory. „Nein, Danke, habe vor zwei Wochen aufgehört“, antwortete Shamir. Aus seinen Augen blitzte die Schläue und Gregory wunderte sich, wie ein solcher Mann sein Talent für den aussichtslosen Unabhängigkeitskampf Tschetscheniens verschwenden konnte. „Da... tatsächlich? Seit zwei Wochen also schon“, brummte der Russe und zündete sich eine filterlose Gitanes an dem silbernen Dior-Feuerzeug an, das ihm Kostolunica entgegenstreckte. „Wird ein harter Kampf werden heute, nicht?“ Shamir sah den Russen erwartungsfroh an. „Wahrscheinlich werd’ ich mir fünf Beine ausreißen müssen, damit die verdammten Amis ihr Veto zurückziehen. Hast Du ein Glück, dass Du nur Beobachterstatus hast.“ - „Du kannst mir glauben, dass mir etwas mehr Einfluss durchaus lieber wäre“, gab Shamir zurück, „vergiss bitte nicht, wie wichtig Deine Position für die Beziehung zwischen unseren beiden Staaten ist.“
Gregory betrachtete den Tschetschenen mit einem Kopfschütteln. Am liebsten hätte er erwidert, dass Tschetschenien kein unabhängiger Staat sei und auch niemals sein werde, doch wie soll man das diesem starrsinnigen Idealisten erklären. „Shamir, Du weißt doch, dass meine Position nicht meine Position, sondern Russlands Position ist. Oder hast Du das vergessen? Ich kann nicht unbedingt so wie ich will. Ich muss mich an den Willen des Volkes halten, und mein Volk hat nun mal Angst, dass die neue georgische Regierung eine Gefahr für Russlands Sicherheit darstellt.“ – „Das heißt also Russland wird keinesfalls einlenken, habe ich das richtig verstanden?“ – „Korrekt. Wir werden diese Schurkenregierung zur Not auch mit Gewalt stürzen.“ Langsam kroch auch in Gregory die Unruhe hoch. Mit spitzen Fingern zerdrückte er die Zigarettenkippe in dem freistehenden ovalen Aschenbecher, blickte kurz auf die Uhr und fingerte dann eine neue Zigarette aus der ziemlich verbeulten Schachtel. Er verstand natürlich genau, was Shamir meinte. Sollte Russland Georgien angreifen, dann stünde Tschetschenien international als der Buhmann da. Immerhin kontrollieren sie den Zugang zu dem noch übrig gebliebenen Schwarzen Gold. Ihre Unbeugsamkeit wird den tschetschenischen Muslimen in diesem Fall selbst schaden, denn solange sie keine Einigung mit der russischen Zentralregierung erzielen, solange ist Russland auf die Wohlgesonnenheit Georgiens angewiesen. Doch natürlich will kein Tschetschene, auch Shamir nicht, auf seinen eigenen Vorteil verzichten und nur um des regionalen Friedens Willen die Unversehrtheit eines anderen Staates erkaufen. „Gregory, Du weißt, dass die neue Regierung in Tiflis alles andere als eine Schurkenregierung ist. Und Du weißt, dass eine Intervention in Georgien die tschetschenischen Karten extrem verschlechtert. Glaubst du wirklich, wir hätten alle Radikalen im Griff?“ Gregory sah Shamir ernst an. „Ich gehe jetzt einmal davon aus, dass das nicht als Drohung gemeint war.“ Er wusste, dass es genau das war. Eine Drohung. Eine Drohung den Konflikt zwischen Russland und Tschetschenien wieder eskalieren zu lassen, sollte Russland in Georgien intervenieren. Und er wusste, dass Shamir recht hatte. Dass radikale tschetschenische Akteure den Georgienkonflikt nutzen werden. Simple politische Logik. Ein lauter Gong ertönte und gemahnte die Umstehenden sich zu ihren Plätzen zu begeben. „Ich wünsch Dir trotzdem viel Glück.“ Shamir klopfte Gregory auf die Schulter. „Meine Sitzung ist erst in einer Stunde, ich habe noch ein wenig Zeit.“ Auch Gregory wäre es im Moment sehr recht gewesen, nur einer Vollversammlung beiwohnen zu müssen. Doch für ihn ging es nun in den Sicherheitsrat. Als Redner. Er, Gregory Shomrykov, russischer Außenminister, musste nun die Mächtigen dieser Welt von der Gefahr überzeugen, die von dem kleinen Georgien ausgeht. Dabei wusste er schon im Voraus, dass sein Schaulauf eine ähnliche Farce werden würde, wie einst die Kriegsgründe, welche die damalige US-Regierung gegen den Irak vorgebracht hatte. Doch sie hatten damals eine wichtige Neuerung der internationalen Spielregeln geprägt. Den Präventivkrieg. Was heißen soll, dass es im Grunde egal ist, ob die Vereinigten Staaten ein Veto einlegen oder nicht. Dass es egal ist, dass Deutschland grundsätzlich gegen einen Kriegseinsatz stimmt, weil sich sein Volk, laut Robert Kagan, in den Frieden verliebt hat. Wer einen Präventivkrieg führt, braucht keinen Grund. Außer den, dass er sich bedroht fühlt. So etwas erleichtert die Rechtfertigung natürlich ungemein. „Gehen wir nachher noch ein Bierchen trinken?“ – „Klar, ruf mich einfach auf dem Handy an, nachdem Deine Sitzung vorbei ist. Wird wohl etwas länger dauern als meine,“ antwortete Shamir, „und vielleicht kannst Du es ja doch so aussehen lassen, als würdet ihr in Tschetschenien die Zügel nicht wirklich lockerer lassen.“ Darum ging es dem gewitzten Hund also. Deswegen hatte er Gregory vor der Sitzung noch einmal abgepasst. Welch brillante Idee. Weiterhin Härte gegen die Extremisten zu symbolisieren könnte den Ausbruch von erneuter Gewalt zumindest hinauszögern. Gregory war auf einmal schon ein wenig zufriedener. Zehn Stunden später... „Es wäre alles nicht soweit gekommen, hättet ihr damals nicht darauf gedrängt Schewardnadse zu stürzen.“ Edward Singh, der indische Außenminister war als aufbrausend bekannt. Durch den Zigarettennebel, der sich bereits tief und dick über die dunkle Einrichtung der Bar der Vereinten Nationen gelegt hatte, einer der wenigen Gesellschaftsräume, in denen man in New York überhaupt noch rauchen durfte, beäugte er seinen amerikanischen Pendant. Dieser lehnte sich ein Stück nach vorne, griff nach seiner Budweiserflasche und prostete dem Inder zu, der diese Geste erwiderte. „Eddie“, sagte er, „ich dachte ihr Sikhs trinkt keinen Alkohol.“ „Oh, wir halten dass ähnlich wie die Muslime, eine persönliche Sache“, antwortete dieser. „Also das mit Schewardnadse war so...“, begann Sid Bossmer, lehnte sich wieder in seine bequeme Ursprungshaltung zwischen den breiten Schultern von Karl Langen und den etwas dünner geratenen des Franzosen Jeuneville zurück und nahm einen weiteren Schluck Bier. „Erstens war das damals unter Bush und zweitens war es gar keine wirklich offizielle Sache. James Baker ist da auch halb geschäftlich hingefahren.“ – „Und hat der georgischen Opposition ganz nebenbei die volle Unterstützung und Anerkennung der amerikanischen Regierung für den Fall einer Revolution ausgesprochen. Und das alles für die geringe Gegenleistung, der Carlyle Group einige Bohr-, Ausrüstungs- und Vermarktungsrechte zu überlassen. Na danke schön“, fügte Singh hinzu. Bossmer wirkte in keiner Weise entrüstet. „Schewardnadse wollte sich einfach auf keinen Deal einlassen. Außerdem war er doch sowieso am Ende und eine Revolution dringend überfällig. Warum also die Opposition nicht spüren lassen, dass sie internationale Unterstützung genießt.“ „Eure Probleme will ich haben“, mischte sich Gregory ein, „ich habe hier nur einen kleinen dummen Krieg an der Backe, weil ein paar größenwahnsinnige Georgier glauben, auf dem Öl zu sitzen gebe ihnen einen Freifahrtschein zur Nuklearmacht. Ein amerikanisches Veto, weil ihr in Eurem Land nicht die leiseste Ahnung mehr habt, wo die Grenzen zwischen Politik und Wirtschaft noch liegen. Und Edward! Würde Indien in Kaschmir nicht diese absolut unnötige und verflucht harte Linie fahren, hätte ich nicht die Hälfte der Probleme mit den Islamisten in Tschetschenien, wie ich sie heute habe.“ Mit künstlich beleidigtem Gesichtsausdruck grinste Gregory den hochaufgewachsenen, bärtigen Sikh an. „Huh, ausgepoltert?“, erwiderte Bossmer, „keep smiling, Baby! Du fühlst Dich doch von Georgien gar nicht bedroht. In Wirklichkeit fühlt sich doch keiner von Euch wirklich bedroht. Das war doch Stimmungsmache. Die ganze Zeit. Und jetzt könnt ihr nicht mehr zurück, weil ihr sonst Euer Gesicht verliert. Nächstes Jahr sind Wahlen, so sieht’s doch aus.“ Bossmer hatte es ziemlich genau erwischt. Und Gregory spürte das. Irgendwie ist das ganze schon irrsinnig. Man macht das Volk wegen irgendwelcher Sachen so verrückt, dass man am Ende selber glaubt, man hasst die Georgier oder die Tschetschenen oder die Amerikaner. Doch persönlich sitzt man mit ihren höchsten Köpfen, den politischen Entscheidungsträgern zusammen und trinkt Bier. Und irgendwie fühlt es sich noch immer so an, wie damals als Student – der Tschetschenienkrieg war noch in vollem Gang - als man in einer Moskauer Kneipe einen Tschetschenen trifft und entdeckt, dass man im Grunde ein eineiiger Zwilling ist. Zwar nicht vollkommen gleich, aber doch so ähnlich, dass es einem im ersten Moment richtig schockiert. Als man zusammensitzt und sich wundert, wie man Feind sein kann, während man miteinander feiert. Wie man sich lieben kann, wenn man sich eigentlich hassen sollte. Damals hatte man es auf die persönliche Machtlosigkeit geschoben. So ist halt die Politik und wir sind nur Studenten. Und jetzt. Jetzt ist man an der Macht und ist trotzdem machtlos. Sitzt mit seinen Feinden zusammen und trinkt Bier. Genauso wie damals. Verrückt! Es war Gregory natürlich klar, dass sich eine solche Situation von persönlicher Feindschaft unterscheidet. Wen man nicht mag, den braucht man auch zwangsläufig nicht zu grüßen. Aber z. B. Shamir oder Bossmer nicht zu grüßen, ihnen nicht die Hände zu schütteln und zumindest irgendeine respektvolle Beziehung aufzubauen. Mann, das stünde am nächsten Tag in der Zeitung und Gregory hätte seinen Job schneller los, als ihm lieb wäre. Dabei hätte er sich doch nur konsequent verhalten. Von einem Soldaten wird ja auch erwartet, dass er sein Gegenüber erschießt. Wie gesagt, verrückt! Gregory fragte sich, was die Welt wohl machen würde, wüsste sie um diese Bar. Natürlich ist bekannt, dass es sie gibt. Aber ‚bekannt’ ist ja nicht gleichbedeutend mit ‚im öffentlichen Bewusstsein’. Wahrscheinlich würde sich dann auch nichts ändern. Gregory musste plötzlich schmunzeln. „Sid, ich würde einfach niemals zugeben, dass Du recht hast. Prost! Und…keep smiling, Baby!“ |
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