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Am Coventry Canal - I
prosa [ ]
- über Liebe und Tod auf der Insel der Einsamen -

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von [Almalo ]

2007-01-17  |     | 



1



”Eines Tages passiert Es”, hatte ich‚ ‚unseren Vater‘, wie Mutter ihn aus vererbter Pflicht nannte, sagen gehört. Wer glaubt jedoch seinem Vater? Und was meinte er mit ”ES”? Ihn persönlich zu fragen, hatte mir der entsprechende Mut gefehlt und als wir ihn zu Grabe trugen, ‚unseren Vater‘, konnte er nicht mehr antworten. ES war passiert. ES hatte ihn getroffen und er verließ seine Ewigkeit. Er versank in die Erde unbedeutend, wie eine Kirsche in roter Konfituere versinkt. Sie ist da und doch nicht. Da fand ich erst den Mut und erzählte ihm, dass ES mir auch passiert ist. Er, 'unser Vater', konnte sich nicht einmal dagengen wehren und ist seitdem der ausdauerndste Zuhörer meiner ungewöhnlichen Geschichten.





So hatte ich mir eine Tote im Wasser nicht vorgestellt. Das Gesicht der Frau ist weisser als weiss. ”Weisser” kann sprachlich nicht gebraucht werden, heißt es. Für so ein ”absurd dekliniertes Eigenschaftswort” hatte ich in der Vierten eine Vier bekommen. Und trotzdem ist die Tote weisser als alle Frauen, die ich je gesehen oder mit denen ich je geschlafen habe; ein geprüfter Steinmetzblick würde es „Carrara-weiss“ nennen und das mit Recht.

Ich, Bruce McGown, bin der einzige, der sie in der Coventry Kanalgegend gekannt hat, denk ich mir. Obwohl, wenn man die Polizisten beobachtet, wie sie an ihrem müden, schweren Körper zerren, könnte einer schon glauben, dass die sie auch gut kannten.

Diese Frau, mit dem lieblichen Blick zum Himmel, nur Körper ohne Hände, da sie geschwollen, tief unterm Wasser baumeln, und furchterregend roten Lippen, kenne ich am besten von 6 Milliarden Menschen. Vor ein paar Tagen habe ich es erfahren, dass der 6-milliardste Mensch geboren wurde. Über diesen Menschen habe ich mich mit ihr am Abend des 10. August unterhalten. Ihre immerroten Lippen öffneten sich ohne Mühe, sie hielten inne, tiefe Freude ließ sie noch größer scheinen und unermüdlich über Träume sprechen. Sie hatte oft von Babys geträumt.

Der Morgen des 14. August schlägt mir ins Gesicht. Es kommt unerwartet auf mich zu. Die Polizei hat mich im Büro angerufen. Heißer Kaffee ist auf meinen rechten Daumen geschwappt, als ich den Schreck unterdrücken musste. Die Brandblase juckt. Jetzt tut die ganze Hand weh, jedoch vom unaufhörlichen Schütteln der anderen. Zu viele haben sich auf meine Hand gestürzt, als sie den Polizisten sagen hörten, ich hätte sie, ”die weibliche Leiche”, gekannt.

Keiner sagt etwas. Selbst wenn, kann ich nichts hören. Sie schütteln meine Hand um die Wette, wie auf unsichtbare Befehle, eine treibende Energie sucht an diesem Morgen den Fluss heim. Zum erstenmal dass ich innerhalb von ein paar Minuten so viele Hände berührt habe. Trauer kann ich aus ihren Gesichtsmuskeln nicht erfahren. Meine Gedanken brennen, alles dreht sich um den geschwollenen Daumen, den ich ins kühle Wasser des Kanals legen würde. Mir fehlt der Mut, es zu tun. Da liegt eine Frau, „das vollkommene Gehäuse einer Liebe“, laut einer ihrer Scherze.

Der Daumen schmerzt nun auch mit mir, er tut weher als der Anblick der Frau. Davon hatte mir Vater erzählt, es gäbe eine seltene Art von verkehrtem Schmerz. Im Krieg, er meinte direkt, mittendrin, passieren höllische Grausamkeiten, Bluten und rohes, sterbendes Fleisch gehören zum Soldatenalltag. Trotzdem lachen sie abends, die Soldaten, denken an Liebe und trinken Schnaps. Viel später, in seltenen Fällen erst nach Jahren, wenn kein Schrei mehr zu hören ist, kein Blut mehr zu riechen, tut es weh, jedem einzelnen und nach Anbruch der Nacht weinen sie, denken an Tod und schlagen ihre Lieben.

Das war eine Begriffsbeschreibung meine Vaterss vom verkehrten Schmerz. Seine Worte fielen wie Vieles, das von meinem Vater kam, von oben, von ganz oben herab und erst wenn meine Wunden groß waren, lachte er aus voller Brust, lehnte sich dabei kräftig wie nach getaner Arbeit endlich stolz zurück. Der Daumen, vermute ich, ist ein Teil meines Vater, nur so könnte der starke Schmerz in verschobener Zeit und Raum erklärt werden. Er müsste ins Wasser, der Daumen….
Gott, wie würden sich alle den Abend im Pub mit Geschwätz füllen!

Sie würden endlich aus dem Garten der überallherrschenden Langweile entkommen. Lorraine hätte es ohne zu zögern getan, die Hand schnell ins Wasser gelegt, so dass der schwimmende Körper nichts mitbekommt und ihr wäre nie einer nachtragend gewesen. Die Art wie Traditionen untergehen, kam mir in den Sinn, Gewohnheiten gebrochen werden und sehr wichtig, WER den aller ersten Hieb einer traditionsverankerten Idee verpasst, das ist wichtiger. Solche Dinge gingen mir durch den Kopf, Worte, Begriffsbeschreibungen, alte Düfte‚‘das alles sei wichtiger‘, pochte es in meinen Ohren. Wichtiger manchmal als die Tradition selbst, denk ich mir und vergess den brennenden Daumen. Ihre Augen scheinen in unserem letzten Gespräch verankert geblieben zu sein, deutlich heller als sonst, lieb.

Die Tote, L-o-r-r-a-i-n-e, wie sie mir scheinbar flüchtig ihren Namen damals buchstabierte, sieht mich unaufhörlich an mit ihren wunderschönen jedoch leblosen Augen. Mut vergeht somit nicht mit dem Tod. Das ist gut zu wissen.

„Irgendwie muss etwas von mir bleiben, jetzt, hier, von dir auch, Bruce, wenn es auch nur ein Stein ist, oder ein Schatten im Blick eines anderen, spielt keine Rolle, im Blick eines Menschen, eines Vogels oder einer Schnecke. Bruce, ich meine, so etwas wie eine Art Erinnerungs-DNS. Die meisten kriegen Kinder, das ist für sie Einfach“. Ihr „muss“ klang von Tag zu Tag herausfordernder, wie ein Teil eines Plans für die Bewältigung der Zukunft. Ihre, meine, und letzten Endes die der Menschheit.

An den ersten Tag mit ihr erinnere ich mich wie folgt: Buchstabiert hatte sie und gelacht, in einem Café in Paris, ihr Wesen hatte mir zugewunken und mich aus der mir bekannten Zeitrechnung für Augenblicke ausgeschaltet, ich konnte nicht wie gewohnt weitergehen. Etwas Kräftiges befahl mir dieser Frau zuzuhören, wie sie die Welt in das Wort und das Wort in die Welt spielend umdrehte, so wie andere ihre Hemden.

Ich, Bruce McGown, wollte die für mich noch unbekannte Lorraine C. kennenlernen.

‚L-O-R-R-A-I-N-E‘, zischte sie jeden Buchstaben auslutschend und der Kellner warf mir mitleidige Blicke zu. Seitdem buchstabiere ich, verdrehe meine Mundwinkel dabei und schere mich einen Dreck um einen Kellnerblick. Mein Leben bekam durch sie zum ersten Mal den gewissen Rahmen, einen in dem ich mich ausbreiten konnte, ohne auf irgendetwas achten zu müssen, „nur das Gefühl, Bruce, spielt eine Rolle, und nur das wahre Gefühl, das die Nacht gebärt“, erklärte sie geduldig. „Wie die Maler im 16. Jahrhundert sich auf riesigen Bildern nach Belieben ausbreiteten, das Thema war wichtig, sie wurden somit nach der Auswirkung des Bildes auf das Gefühl des Betrachters bezahlt.“
Der erste und einzige Ort, an dem die Worte meines Vaters ‚eines Tages passiert es‘ ihre erschreckende manchmal surrealistische Bedeutung für immer verlieren sollten.

Paris hatte mich dieses eine Mal verschlungen, obwohl ich mich mit Stapeln von dringenden Akten erfolgreich dagegen gewehrt hatte. Bis Lorraine mein Leben durchwanderte. Kollegen fragten manchmal: ”Hi, Mr. McGowen have you seen Saint Denis?” oder ”Hold your eyes open on Place Pigall, ha, ha, ha”. Auch Lachen kann weh tun. Ich nickte verneinend und deutete auf den Aktenstapel. Termine retten vor Verführungen.

Ein Buchhalterleben ist und sollte ein Buchhalterleben bleiben. ES gehört sich so und ich wollte ES auch nicht anders , mein Leben. Wie gut es tut zu zaehlen, egal was, kann nur ein Einsamer fühlen, Zählen und Sortieren kann auch schmecken oder gut riechen. Die Kosten musste ich am Ende zum Abzeichnen geben. Paris war eine Pflicht. Die Straßen und Kuppeln begleiteten mich, dahinter eine Welt, die der anderen, ihre Schulter von mir abgewandt.

Nur dieses eine Mal überschritt mein Wesen die unsichtbare Grenze, die Mauer, die sich in meinem Hals verknotet hatte, „obwohl korrekter Kindheitsführung“, wie meinen Eltern zu ihrer Beruhigung von Pädagogen bestätigt wurde und ich es noch oft von Mutter, die meinen Kopf seit Jahren nicht verlassen hat, hören sollte. Nur dieses eine Mal und endlich passierte Es. Kostenlos wurde ich hinüber gelassen und aufgenommen, wie einer von ihnen, Künstler, Denker, Theoretiker. Eröffnung am Centre Pompidou, im Herzen der Stadt, des neuen Hauses von einem mir damals unbekannten Bildhauer: Constantin Brancusi. Und Lorraine hatte mir diesen Namen unzählige Male buchstabiert und die großen Steine gezeigt, die als ewige Säulen oder Vögel schon längst weltberühmt waren.

Ah, Bruce, ES ist kein Zufall ,dass du damals in Paris am Museum entlang gehen musstest....hatte Lorraine mir noch vor ihrem Verschwinden erzählt. ES ist nicht zufällig und wir reihen uns hintereinander auf seit Millionen von Jahren, Mensch wie Tier. Mein Güte dachte ich mir , als sie diese Theorie mir versuchte zu erklären, oh Gott, dann hat ja Mutter unrecht Mein gutes Benehmen, mein Schweigen nach ihrem Tod, die Zurückhaltung im Heim, das kühle Grüßen jeden Morgen nach links und rechts im Dorf, obwohl ich ganz genau weiss, das Frau Johansen kein gutes Haar an mir lassen würde....Oh Gott, dann war das alles Einbildung und ich hatte mich einem menschlichen Befehl unterordnent. Und nun ist nichts zufällig und ich höre wieder zu und dann kann ich wieder nichst ändern. Also haben damals in meiner Kindheit meine Eltern mir die Unwahrheit gesagt...Unglaublich...Vielleicht ist das der Grund ,dass ich Zahlen liebe, ich kann sie drehen wie ich will, sie sind immer gleich und sie werden sich für niemanden ändern. Zahlen haben etwas Vertrauenswürdiges und ich merkte sie mir und seit ich Lorraine traf, waren sie ein Teil der Gefühle geworden, die mich erwärmten, manchmal zerrissen, sie hielten mich fest und ich sie.

Für einen wie mich waren bis an jenem Tag Symbole und Steine nur da, irgendwo hatten sie zu existieren, wie es auch einen Freitag den 13 gibt, für mich aber unwirksam, fremd. Viel traute ich ihnen nicht zu, wichtig waren sie für Dämme am Kanal, beim Bunkerbauen und am Friedhof. Steine sind unten, zu kalt, um erwünscht zu werden.

Die Kunst ist wie eine Tür, wenn sie einen hinein lässt, kriegt alles von einem Augenblick auf den anderen eine eigenartige andere Dimension. Der Alltag hebt ab, die Zeit legt sich anders um das Leben. Das Gewöhnliche gebärt Konturen und später, manchmal, einen eigenen Geschmack. Das waren meine Gedanken, als die Polizei mich am Ufer des Kanals nach Lorraine befragte. Die Polizei wollte jedoch nichts davon wissen.

”Ja”, antworte ich knapp, ”sie wohnt, Entschuldigung, `wohnte` bei mir seit vier Wochen”. Komisch, wenn du nicht tot bist, abgeholt wirst im Gedränge von lauten Sirenen, tun die meisten so, als gäbe es dich nicht. Darüber hatte ich mich mit Lorraine in den vier Wochen auch unterhalten. Sie sprach nur am Abend gerne. Spät, am Rand der Dämmerung. Die ersten Gespräche handelten von unvollendeten Erfahrungen, von seltenen Berufungen und Schreiben, irgendwelchen Steinen und die Namen von Künstlern hämmerten noch lange durch meinen Kopf.

Zuhören, richtig zuhören konnte ich ihr nicht. Die neue Art zu reden, die Wörter, die ich durch sie zu hören und zu verstehen lernte, klangen bedrohlich. Wozu braucht man diese fremdartigen Wörter, fast eine tridimensionale Sprache, um in ein Labyrinth hineingelassen zu werden, wo selten einer das Glück verspürt, sich selber zu überholen? Ruhe ohne Gedankenschwermut hält warm, dachte ich, und wollte Lorraine anfangs nur ansehen, mit dem Blick erreichen. Meine Augen brauchten diesen leichten aber entschiedenen Gang, eine innere Kreuzung schien, sich im neuen Lebensraum zu erheben. Ihre Erscheinung wurde zum Ereignis und ließ mich vom ersten Tag nicht mehr los.

Seitdem habe ich keine kalten Füße mehr und der Dorfarzt kann es sich nicht erklären. Es ist in mehreren Gebieten der Erde allgemein wärmer. Vielleicht hängt alles zusammen, meinte Mr. Max, unser Hausarzt, die Begegnung mit Lorraine, die Klimaveränderungen, die Überschwemmungen am Kanal und die verspäteten Pläne des Rathauses die Kriegsreste, die Bunker in der Coventrygegend endlich abzubauen. Und die Sonnenfinsternis. Mein Hausarzt weiß mehr über das Dorf, über meine Familie und über mich, als ich mir vorstellen kann oder will. „Er hatte dagestanden“, hatte Mutter vor langer Zeit erzählt, als ich zur Welt gekommen war, und er hatte bei mehr als der Hälfte des Dorfes dagestanden. Sie meinte, er wäre aufrecht und aufrichtig zugleich zu seinen Patienten immer gewesen. Er konnte nichts anderes, hätte auch nicht anders gekonnt, hatte eine Nachbarin jedesmal hinzugefügt, wenn Mr. Max irgendwie ins Gespräch kam oder er nur vom Weiten gesichtet wurde. Mr. Max war groß und wichtig und klein und unscheinbar zugleich, er gehörte sozusagen zur Dorfausstattung. Wenn er nicht mehr sein wird, wird sich im Dorf kein neuer Arzt niederlassen, glaubten viele zu wissen.

Er hatte die einzige Bibliothek im ganzen Dorf, für alles eine Meinung und schien die wichtigsten Tagesnews wie kein anderer zu kenne. Er war auch der erste, von dem ich hörte, dass dieser Sommer wichtig sein würde. Die Sonnenfinsternis, meinte Mr. Max, könnte uns jene Zeitspalte anbieten, die die Menschheit nutzen sollte. An so einem Tag der himmlischen Kräfte wird es leichter sein aus sich selbst auszusteigen. Viel später sollte ich diesen Ausdruck inhaltlich verstehen, wie vieles zu spät.

Lorraine kam vorbei, überraschend, mit einer Reisetasche an einem regnerischen Juliabend des Jahres 1999. Erwartet hatte ich sie nach einem Anruf nicht. Später brachte der alte Postbote noch ein paar Kartons vorbei. Er fluchte. Das schwerste, was er in diesem Dorf je geliefert hatte, murmelte er. Ein Grund seine Lederhandschuhe mal zu benutzen. Bevor er ging, gab ich ihm ein Pfund. Die kalte Münze verschwand schnell hinter seinem Handrücken. Ich glaube, er hätte es gern gehabt, wenn die unbekannte Lady mehr Bücher erhalten hätte. Denn als Bücher hatte sie die Lieferung an mich abgeschickt.

”Diese Bücher habe ich behalten”, gab sie kurz zu. ”Die anderen legte ich in der Nacht meiner Abreise einem Verleger vor die Tür”, lachte wütend auf und fügte hinzu, ”dem meine Schultern besser gefielen als meine Geschichten, und diese Väterlichkeit, die brachte mich zum Kotzen. Ja, ich kann kotzen, wenn man zu gut zu mir ist. Deswegen sammele ich Steine und keine Freunde. Der Stein bleibt immer gleich, glatt und kalt”.

Die Kartons hatte keiner geöffnet. Die Zeit vernetzte uns schnell, wir sprangen über die Hürden der Worte, die wir gelernt nur nie benutzt hatten, weil wir es einfach nicht konnten. Ihr Lachen schaufelte langsam aber sicher meine Vergangenheit weg. Sie war da und blieb. Gefragt hatte ich Lorraine nie etwas. Antworten machen mir Angst. Wozu möchten die anderen etwas von einem wissen? Und wenn man es ihnen erzählt, was dann?

„Lorraine blieb im Dorf, kochte Kaffee, wanderte tagsüber durch den Wald und machte sich Notizen. Mit Bleistift. Weiß nicht worüber. Weiß nicht wo sie geblieben sind.“ Und im Kopf setzte ein rettender Nebel ein, so dass ich nicht weiter reden konnte. Die Sprache zog sich zurück und ruhte sich aus. Wenn man etwas, auch das einfachste Ereignis, niemandem, aber auch niemandem auf der Welt erzählt, kann genau diese einfache, unausgesprochene Geschichte einen eines Tages retten, an solchen Tagen, an denen man einsam ist, wo alle alles über einen zu wissen scheinen.

Nach der letzten wundervollen Nacht, nach der halbdunklen Stille und den Spaziergängen am Coventry Kanal dachte ich und war überzeugt, sie beruhigt zu haben, was die „großen Pläne der Menschheit“ anbelangt. Denn die machten ihr Sorgen, und in ihren Versuchen die Menschheit von sich selber zu befreien, hielt sie Ausschau nach Verbündeten.

„Ja, wir hatten eine engere Beziehung“, antwortete ich. “Aber ich war nicht in ihr Leben, sie war in meines eingetreten, eingedrungen, weiß nicht mehr genau....“ wandte sich meine Stimme noch schwach dem Beamten zu.

”Wie bitte?”, räusperte er zurück. ”Wie meinen Sie das, 'Sie waren nicht in Lorraines C. Leben'? Wir benötigen die Personalien, Ihre und die der Toten. Für die Akte. Tut mir Leid“, räumte der Polizist sachlich ein.

”Das Dorf hat mein Seelenbluten nicht gestoppt, nur verlangsamt. Hörst du wie es tropft, Bruce?”, erzählte sie noch lächelnd am Abend so gegen 23.00 Uhr und streckte die Hand in den Kanal, mir einen Tropfen ins Gesicht spritzend. Es war der 10 August. “Vor drei Tagen also”, schnippte mir die Uniform entgegen. Plötzlich wusste ich nicht mehr, wie lang sie weg gewesen war.

Wir gingen am Abend durch die feuchtkalten Gräser den Kanal entlang. Sie hatte diese Spaziergänge eingeführt. So, erzählte sie, hätte sie ihre Kindheit verbracht, irgendwo im Spaziergang wäre sie ganz einfach eines Tages groß geworden. Ihre Tante hatte es ihr beigebracht. Sie nannte es ‚die Zeit begehen‘, zwischen Dämmerung und Himmel dabei sein. Da kommt es auf einen zu und die Grenzen fallen.

Lorraine hatte die Welt verpacken wollen, erzählte sie. Die Begriffe der anderen umgedreht. Es gelang ihr nicht immer aufrecht zu bleiben. Und sie erklärte mich kurz nach ihrem Erscheinen im Dorf zu ihrem Begleiter, der der die Ruhe einmeißelt, zwischen ihr und der Welt.

Den Körper haben sie langsam ans Ufer gezogen, wo er nun zugedeckt wurde. Die paar Übriggebliebenen flüsterten der Polizei, was sie gesehen hatten. Sie sprachen schnell, begierig viel zu sagen, vor meinem Blick schienen sie sich zu fürchten.

„Sie können gehen.“ Der Daumen fühlt sich dick an. Muss zurück in die Stadt, in die Apotheke. Da lächelt man mir zu. Morgen bestimmt auch hier nicht mehr.

Am Abend setzte ich mich vor den Kamin und erschrak, als ich meine Aktenregale erblickte. Sie schienen mir auf ewig oder auch länger nachzulauern. Lorraine war weg. Wie der Polizist es objektiv auszudrücken versuchte: „für immer“. Eine kranke Stille zog leise wieder ein, und nichts hielt sie auf.

”Schreib dir in der Nacht sofort auf, was du träumst“, hatte sie versucht, mir vor den Alpträumen zu helfen. „Fang sie ein die Ungehäuer der Nacht. Geh, geh spazieren. Die Nacht ist nicht da um zu schlafen, sondern um zu träumen, so wie der Tag, um zu arbeiten”.

Das konnte ich der Polizei auch nicht erzählen.


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