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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2020-09-25
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Ãœber Reis, Brombeeren und Opferkuchen
Ein Reiskorn ist vom Teller der betagten Tante Paula heruntergefallen. Diese Tante war auch deportiert und hat sogar die ganzen 15 Jahre in Sibirien verbracht, in der Mine, von wo sie bleich zurückkam, ohne Haare und ohne Stimme, mit wenig Luft im Brustkorb, gerade mal so viel, um zu atmen, morgens, mittags und abends. Bevor man sie krankenpensioniert hat, musste sie noch genau dort arbeiten, wo sie nicht sollte: in einer Teppichweberei, so dass sie noch ein paar Flaumfedern auf ihre Lunge legten, und sie ein Leben lang bei jedem zweiten Schritt schnaufte wie ein Fisch, der sich im Wasser nicht besonders wohl fühlt. Um in Würde leben zu können, also um jemand zu haben, der ihr Brot bringt, sie anzieht und ihr das Licht in der Minikammer anzündet, in der sie wie ein Sperling jahrzehntelang saß, heiratete sie so glatzköpfig und mit einer Stimme wie eine abgenutzte Säge Ionel den Friseur, ein Rumäne, noch weißer, ein Albino mit großer Brille, und der nur so viel sagen konnte: „Ein Haarschnitt, 3 Lei … eine Rasur, 3 Lei …“ Er sagte drei Lei, aber die Leute gaben ihm mit ausnehmender Geste fünf. Nur die sehr Alten oder die Witwen gaben das Gerade, beschämt mit zu Boden gesenktem Blick. Das Geld war aus beschmutztem Papier, man konnte nur selten etwas drauf lesen. Bei drei waren es Moneten, die sachte in den gelblichen, mit Haaren aller Längen bedeckten Kittel fielen. Ionel der Friseur hatte eine große Kundschaft, denn er ließ sie in Ruhe, unterbrach sie nicht beim Reden, schickte sie nicht nach Hause, wenn sie besoffen waren, und akzeptierte sie auch in unsauberem Zustand. Ich hätte einigen von ihnen die Haare nicht geschnitten … Manchmal saß ich auf dem Stühlchen aus Holz, auf das manche Kunden ihre müden Füße zum Ausruhen legten, und verfolgte mit offenem Mund, wie diese Schere aus Eisen in das Haar eines Bürgers fuhr, der nicht nur ungewaschen daher kam, sondern der sicher nicht wusste, was ein Spiegel ist. Sein Blick war so groß, leer und abgestumpft, man könnte ihn sogar verblödet nennen. Der Mensch war sehr erschreckt von dem, was er vor sich im Spiegel sah, und brachte keine Silbe hervor, nicht einmal als die graue Schere die Kurve nicht richtig hinbekam, ihn am Ohrläppchen pikste, und ihm langsam Blut über Schulter und Arm rann. Dann nahm Ionel der Friseur ruhig, mit den Bewegungen eines GOSTAT*-Kükens, das die Gartengrenze glücklich überschritten hatte, aus der Schublade, die anscheinend schon viele Bombenangriffe überlebt hat, einen grauen Stein, rieb ihn an der Schürze – ich muss erwähnen, dass einige Friseure Kittel trugen und andere Schürzen -, prüfte unter der Brille hindurch, ob es der Stein oder die Puderdose war, spuckte sparsam drauf und fuhr damit über die Wunde. Die Verletzten saßen bewegungslos da, als ob sie selber schuld wären, dass die Schere oder der Friseur die Kurve unter der Nase, an der Gurgel und hinter den Ohren nicht bekam. Ja, ich war mir sicher, wenn ich groß bin, werde ich mir auch einen sehr großen Alaunstein kaufen, um ihn mir aufs Herz zu legen, und der Mutters und dem Hündchen und Mihăiță, damit wir immer zusammenbleiben. Ich weiß nicht, wie oft ich mir vorstellte, dass ich groß sein und eine Maschine zum Haarschneiden haben werde, so eine wie die Ionels, ohne Strom, mit perfekten Zähnen; ich würde sie mit Spiritus desinfizieren und allen die Haare schneiden, die mir über den Weg laufen, aber in keinem Fall diesen wie aus vergessenem Unterholz aufgetauchten Männern, den aus der Ärmlichkeit der Marktbuden gekommenen Frauen, und um nichts in der Welt den Kindern, die den lieben langen Tag lang schrien: „Muuuter!“ Ah, auch über den Fußball sprach Ionel der Friseur, ja, über den Fußball sprach er auch noch mit Vater in kurzen Sätzen. Ich glaube, ihn außerordentlich sympathisiert zu haben, aber am besten gefiel er mir, wenn er mir Bücher schenkte, die er im Friseurladen bekam, und das mit einer Geste eines großen Lesers tat. Er schenkte sie mir und fragte nie, ob ich sie überhaupt gelesen habe. Ich denke, Ihr erinnert euch, hier, im Friseurladen des weißen Ionel, habe ich zum ersten Mal, Nil Holgersson gesehen, diesen Stein von einem Buch, das mir mit der Gans Aka genug Probleme beschert hat, denn der Fluchtwunsch aus einer Welt, führt nicht unbedingt in eine bessere Welt. Aber in jener Zeit waren alle von irgendetwas infiziert: einige von Hoffnungen, andere von Milchschorf, andere vom Weggehen mit oder ohne Dossier, vom Flüchten zu Fuß, übers Wasser, versteckt in Fernlastern, vom Glück bei Frauen und Geld, und andere von Läusen … Mutter war eine tapfere Frau, aber wenn sie hörte, dass jemand Läuse hatte oder dass irgendwo desinfektiert wird, zeichnete sich eine Angst in ihrem Blick ab und sie sagte mir, dass diese kleinen Insekten schlimmer sind als ein Autounfall. Wir hatten keine, aber ihre Angst musste von irgendwo herrühren. Ich vermute, dass diese Läuse und Wanzen sie genug während der Kriegszeit geplagt hatten. Der Krieg ging vorbei, aber die Angst blieb, vor den Läusen, vor der Polizei, die dich nachts aus den Federn holt, und vor dem Hunger … Das Reiskörnchen fiel in gefühltem Zeitlupentempo. Es war eines von vielen aneinander klebenden Körnchen, die Tante Paule aus dem asthmatischen Mundwinkel glitten und von ihrer mit durchsichtiger Haut bedeckten und zwischen den Muttermalen aufgeblähten Hand nicht mehr zurückgeschoben werden konnten. Ebenso langsam streckte sich auch die Hand, so alt sie auch war, in die Reisbrühe, die bei ihrer Zubereitung eigentlich ein Reisbrei werden sollte. Eigentlich ist das Körnchen nicht in einen Teller gefallen, sondern in eine halbrunde Schale mit vielen Einlageverzierungen, traurige Elefanten und Lotusblumen, die dazu beitrugen, dass es sich auch weit entfernt von seiner Heimatplantage geborgen fühlte. Die Schale hatte schon ein paar Jahre auf dem Buckel. Mehrmals zusammengeklebt, verkratzt, hie und da mit Elefanten ohne vergoldete Rüssel. Das Porzellan war ungeschickt mit einem Abwaschdraht gereinigt worden. Solche Schalen sah ich bei allen Sachsen in Bukarest. Sie rühmten sich mit Einzelstücken ihres Tafelgeschirrs, Stück für Stück aus der weiten Welt zusammengetragen Sie, die Sachsen, waren in den letzten hundert Jahren viel gereist. Zumindest meiner Urgroßmutter war es gelungen, einige Rosenthal-Service mitzubringen, feines Kaffee- und Teegeschirr aus Boston, wo Urgroßvater ein Leben lang gearbeitet hat. Und jetzt, wenn ich im Flughafen müde Männer sehe, verankert mit vollen Koffern, die wie Bäuche von in ein Kleefeld geratenen Kühen zu platzen drohten, Koffer, die ihre ganze Arbeit beinhalteten, die gesamte Sehnsucht nach den Kindern und der Frau und sogar die Sehnsucht nach dem Schnaps in der elterlichen Bauernhausveranda – dann gehen meine Gedanken zu meinem Urgroßvater, der vor mehr als hundert Jahren auch so weggegangen und so wiedergekommen war, und der sich auch so geplagt hatte für seine Familie aus Siebenbürgen. Ja, mehr noch, er begann an verschiedenen Gebrechen zu leiden, wie die jetzige Generation auch, Nachsinnen und Unentschlossenheiten. Immer wenn er nach etlichen Jahren wieder mal nach Siebenbürgen zurückkam, (ich verstand das so, dass man in der damaligen Zeit nach Amerika zum Arbeiten fuhr, wie jetzt nach Italien oder Spanien) zeugte er noch ein neues Kind und baute ein neues Haus für die Kinder, die schon bei Verwandten zerstreut waren. Kinder zeugen, war damals ein natürlicher Vorgang, bei dem niemand in mathematischen Begriffen dachte. Sie, die Kinder, kamen zur Welt, um da zu sein, wenn die Eltern ihre Schritte verringern müssen, ihnen das Haus zu groß wird und sie Platz machen, damit das Haus den Kindern und Enkeln bleibt, jemand die Kühe auf die Weiden der siebenbürgischen Täler treibt, die Weingärten rechtzeitig geschnitten werden und der Wein in Fässern in den Kellern gelagert wird. Heute stehen viele Anwesen stumm und verschlafen da. Urgroßmutter gebar auch ca. 12 und Großmutter 9 Kinder … Jetzt einige Jahrzehnten nach Krieg, Hungersnot und Deportationen sind die Menschen glücklich und stolz, wenn sie noch eins, höchstens zwei Kinder haben. Reis wurde in meiner Kindheit wenig gegessen. Nicht dass er teuer gewesen wäre, aber anscheinend hielten ihn einige für Opferkuchenreis. Man bereitete Reis mit Milch, Reis mit Zimt und Rosinen sowie Risotto zu. Anderen Reis kannte man nicht. Dass du vor einem Regal stehst und dich in Benennungen, Größen, Farben und besonders in fremden Sprachen verirrst, eh, so etwas gab es in jenem zurückliegenden Jahrhundert in Rahova nicht. Tante Ioana zum Beispiel kann allein fast nichts mehr im Kaufhaus einkaufen. Sie kann zwar ohne Brille am Fernseher lesen, aber die vielen Farben verwirren ihre 90 Jahre alten Augen, erzählt sie mir all das lachend mit einer Hand halb vor dem Mund. Reis kann sie nur noch gekocht essen, gekocht, bis er zu Brei wird. Fehlende Zähne sind auch ein großes Übel. Wenn du sie hast, zählst du sie nicht oder weißt nicht, welche Rolle jeder von ihnen spielt, aber wenn du nur noch zwei oder drei hast, bist du wie behindert, du verlierst dich mit der Zunge in der gesamten Mundhöhle, wie groß sie immer auch ist. So stelle ich mir vor, dass es zwischen den zwei wie in ein anderes Gesicht gefallenen Wangen abläuft. Für Tante Ioana bringe ich aus der Stadt immer Zimmet und Kaffee mit, ja, sie sagt mir, riechen könne sie noch. Sie bildet sich ein, Zähne zu haben, und dass damit alles in Ordnung sei, sie noch auf dem Stein vor dem Haus sitzen könne, bis die Ewigkeit die Straße bedeckt und die leeren Villen, Zeichen imaginären Wohlstands. Tante Paula ist in die Reiskörner gefallen, diese im Leben gehaltene Hand wie von einer Vielzahl von Muttermahlen und einigen Atmungsstößen, Asthma, Lungenflaumen, sibirische Einsamkeit. Was zählt das noch? Auch sie hat sich ausgestreckt, zur Ruhe entschlossen. „Mama, Mama, sie sagt noch was!“, rief das Kind, mit dem ich am Tisch saß. Aber Tante Paula wollte eigentlich nichts mehr sagen. Man vernahm ein leises Stöhnen und die Alte, die in ganz Europa zu Fuß unterwegs war zum Haus ihrer Träume mit Ionel dem Friseur, zu jenem Garten, der im Schatten der Wohnblocks von Rahova zu versinken schien, stammelte noch zwischen Wortflaumen und –schauern: „Feuer, Feuer …“, und die müden Augenlider senkten sich über die eingetrübten Augen. Bevor die Frau sich als Fackel wähnte, hat sie noch Beeren gesammelt, das Kind wollte von dem Käse kosten, den eine Bäuerin von einer einsamen Ziege aus einem Gehege brachte, die von Nachbarn, die auch überleben und ihre Miete zahlen wollten, gehalten wurde. Ionel hat noch schweigend einem Kunden für drei Lei die Haare geschnitten. Das Haar ward noch nicht vom Winde verweht, die Sonne hatte noch nicht den gesamten Weingarten von der Feuchtigkeit der Stadtmorgen getrocknet und der Sektorist hatte noch nicht ans Tor geklopft. Die Küche schien plötzlich nicht mehr so klein zu sein, als der Tumult um die zwischen den Reis und die Aluminiumlöffel – die aus Silber waren an sicherem Ort, zwischen Schubladen und neuen, „aus dem Paket“ stammenden und vor Motten geschützten Schärpen aufbewahrt - gefallene Frau einsetzte. Ich verließ die Küche. Der wilde Hund, allein zwischen diesen Menschen, bellte plötzlich nicht mehr. Er biss in alles, was er erwischen konnte, wahrscheinlich in der Hoffnung, das Leben zu erhaschen. Auch Tante Paula trug auf den Händen Spuren dieses alten Hundes, der nie frei war, denn siehe da, es kamen noch Kunden zum Haareschneiden in die Dărniciei-Straße*. Der Name der Straße, gab mir zu denken, aber wer hatte jetzt Zeit für so etwas. „Ionel, Ionel, deine Paula ist auf den Tisch gefallen“, schreit eine Nachbarin, die ohne ein besonderes Ziel in den Hof getreten war. „Mama, Mama, ich will einen Knopf.“ „Wie, einen Knopf? Aber was haben die Knöpfe mit Tante Paula zu tun?“ „Ich will eine Perle, ich will eine Perle“, murmelte das Mädchen, das mit den Kindern auf der Straße und zwischen den Reihen des ebenfalls perfekt geschnittenen Weingartens gespielt hatte, war es doch der Garten eines Friseurs, die Beerensträucher mit Johannisbeeren, aus denen Ionel und Paula einen Likör machten, mit dem sie ihre Klientel hochleben ließen, ein so lange gebrannter Likör, bis das Likörrosa das Weiß ihrer Hände erreicht hatte. „Wir können keinen Knopf von Tante Paula abreißen, sie gibt uns einen, wenn sie aufwacht“, beruhigte ich das Kind, das seine Aufmerksamkeit auf alles gerichtet hatte, was sich im Umkreis der Frau, die eine Sonntagsbluse trug, weil sie doch Gäste hatte, bewegte. Die Bluse, auch „aus dem Paket“, war aus Seide mit kleinen Perlmutterknöpfen. Mit dieser Bluse sollte Tante Paula mit dem Auto, das sich kaum einen Weg zwischen Bausteinen und Bauschutt, der als Beweis diente, dass irgendwo Abrissarbeiten stattfanden, einen Weg bahnen konnte, wegfahren; und hier gab es von Zeit zu Zeit so große Wasserlacken, dass du sie überspringen musstest. Irgendwann hat jemand den Rettungsdienst gerufen, der nach gefühlt einigen Stunden kam. Der Rettungswagen war aber schon voll mit anderen Patienten, die sich beeilten, die Welt voller Löcher, Hundegebell, imaginärer Bedachungen zu verlassen. Dann hat jemand vorgeschlagen, sie auf das Ruhelager zu betten, wo sie ihre letzten Jahrzehnte verbracht hat, und den Fernseher einzuschalten, um vielleicht durch so viel multicoloren Lärm ihr Zusichkommen zu bewirken. Jeder hatte eine Handreichung parat, nur das kleine Mädchen versuchte verzweifelt einen Perlmutterknopf, den es wegen seiner Kugelform für eine Perle hielt, zu erhaschen, eine echte Perle, die sich jetzt noch wegen des Schüttelfrostes, dem dieser geplagte Körper nichts mehr entgegenzusetzen hatte, bewegte. Der Atem Tante Paulas ging schließlich wieder normal: „Sie atmet, hat aber keinen Puls“, sagte der Arzt, erstaunt, diesem Wunder gerade hier am Rande von Bukarest, in einem von grellem Gebell, das sich dir durchs Hirn bohrte, markierten Hof, und vom Summen der Bienen, die mit den zahlreichen vielfarbigen Blumen arbeiteten, zu begegnen. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber es ist nicht gut“, sagte er noch mit den Augen auf die Küche gerichtet, der Doktor von dem alten und müden Sanitätswagen, der nicht mehr die Kraft besaß, von Angesicht zu Angesicht eine gute oder schlechte Diagnose zu verkünden, aber darauf wartend, dass er etwas bekommt, zuerst mal Wasser, Essen, eine Faust voll Geld, eine Flasche Likör, ein Korb mit Trauben und vielleicht sogar das Fernsehgerät, das allein flimmerte, in Farben, und das Tante Paula als Spende von einer Organisation deutscher, aus Sibirien zurückgekehrter Asthmatiker bekommen hatte. „Herr Ionel, schaut noch jemand in ihn? Komm, sei ehrlich, du hast doch den ganzen Tag mit dem Haareschneiden zu tun … komm, Herr, gib ihn mir, es wird ja wohl noch Deutschländer geben, die dir eine andere Kartonkiste schicken können.“ Ionel beeilte sich keineswegs bei den Rufen. Die Brombeeren mussten gepflückt werden, sie waren reif, und wenn er sich nicht sputete, kamen die Krähen und verschiedenen Vögel und pflückten sie zwischen Abend und Morgen, die Kerne vom benachbarten Kirschbaum auch noch in die perfekt gekehrte Allee fallen lassend. Das Kind blieb traurig, und fragte, wohin sie Tante Paula zusammen mit der Bluse bringen. „Nicht weit, sie kommt wieder“, erklärte ihr Oma, „komm, wir pflücken noch Brombeeren, Vetter Ionel.“ Ja, Ionel hat noch etwa zwei Tage lang Brombeeren gepflückt, bis man von der Notaufnahme angerufen hat. Paula war gestorben, und er solle mit Geld, Kleidern und einigen Schriftstücken vom Friedhof Bellu für die Deutschen vorbeikommen. Plötzlich war Ionel nicht mehr dieser gemütliche Sammler von Brombeeren, dieser sympathische und weiße Friseur. Wahrscheinlich hat die Sonne seiner weißen Haut zugesetzt, errötete er doch, als er hörte, dass er mit paar Tausend kommen soll und dass sie, Paula, die erste Klientin aus seinem Leben, nicht mehr war. Oma sagte mir, dass wir eine Almosensammlung in der Straße machen müssen, denn, oh weh!, Ionel hatte kein Geld. Die Nachbarn haben auf keinen Aufruft geantwortet. Sie warteten sicher, dass Ionel die siebenbürgischen Weichsellikör- und Palinkaflaschen* hervorholt und gleich am ersten Tag seine Trauer über die Zäune der Dărniciei-Straße schüttet. Ionel hat weiter Brombeeren und Trauben geerntet. Nicht eine einzige Reihe hat er für die Vögel gelassen. Es wäre schade, hatte er gesagt, bevor er sich auf den Weg zur Notaufnahme begab. „Komm Ionel, hast alles?“, fragten reinrassige Deutsche, die schon an den ersten Tagen aus dem Wilden Westen gekommen waren und jetzt im Morast bis an die Knöchel durch die Straßen stapften. Ionel hatte kein Krümel Deutsch gelernt. Wirklich … Mit wem sollte er konversieren? Wichtig war, er konnte drei Lei von dreckigen fünf Lei unterscheiden und sie je nach Fall trocknen oder glätten. Dem Hund war die Situation auch ziemlich unklar, und er wurde heiser von dem vielen Bellen, so dass seine Stimme keineswegs noch der eines wirklichen Hundes glich. Man sagt, dass die Herren und die Hunde sich ähneln. Bei Tante Paula und diesem grauen Vagabund bestand darüber kein Zweifel. Die Friedhofskapelle war von Sonnenlicht durchflutet. Zwischen den geöffneten Fenstern und Türen wurden die Fliegen vom Winde verweht. „Mama, Mama, sie lebt, ich will einen Knopf … oder sie schläft.“ Das Kind war mit den Augen noch immer auf der Frau, die zwischen Reis und Brombeeren endete, in ihrer Sonntagsbluse. Der Luftzug bewegte ihre Bluse, den Mücken gelang es nicht zu landen, und die Knöpfe funkelten einer wie der andere vor so viel Perlmutt. „Später, sei ruhig“, sagte ihr Oma, „ich gebe dir zu Hause welche, wir haben so viele Blusen aus den Paketen, dass wir sie gar nicht tragen können.“ So war es auch. Die Schränke ächzten von den standardisierten Blusen voller Knöpfe, kleinere oder größere. Am zweiten Tag sperrte das Kind sich ausgerüstet mit einer Schere in den Schrank ein und schnitt alle Knöpfe ab, in der Meinung, es wären echte, von einem Menschen auf dem Meeresboden gefundene Perlen. Mit fünf Jahren konntest du noch glauben, dass Ionel der Friseur irgendwann ein tapferer Taucher war und bis zu seiner Zeit als fleißiger Brombeerpflücker heldenhaft kämpfte, um den Schrank mit Perlen zu füllen. Als wir vom Begräbnis kamen, war der Farbfernseher nicht mehr eingeschaltet. Jemand hat in ausgeschaltet und gleich auch mitgenommen. Tante Paula war nicht mehr, also war niemand mehr da, um von ihm den Staub abzuwischen. [aus dem Rumänischen von Anton Potche] *Worterklärungen - GOSTAT (rum.: Gospodărie Agricolă de Stat) = Landwirtschaftliche Staatsfarm - Dărniciei-Straße = Straße der Freigebigkeit |
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