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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2005-07-27 | |
Herr Goé...
von Ion Luca Caragiale ins Deutsche übersetzt von Erich Maiterth Damit er nicht auch dieses Schuljahr sitzen bleibt, versprachen Großmutter, Muttchen und Tante Mitzi dem jungen Goé, mit ihm am 10. Mai (früherer Nationalfeiertag) nach Bukarest zu fahren. Es geht uns nichts an, dass diese drei Damen, nur wegen einer Laune ihres Sohnes und Enkels, ihren Ort verlassen, um in die Hauptstadt zu kommen. Genug nun, früh Morgens, schön gekleidet, gemeinsam mit dem jungen Goé, erwarten die Herrschaften mit großer Ungeduld auf dem Bahnsteig der Stadt X den Eilzug, der sie nach Bukarest bringen soll. Ist es nicht so, dass wenn jemand beschließt an einer so wichtigen nationalen Feier teilzunehmen, er es bereits Morgens tun muss. Den Zug, den sie besteigen, wird den Nordbahnhof um zehn vor acht erreichen. Herr Goé ist sehr ungeduldig und im Kommandoton sagt er grimmig: „Großmutter! Warum kommt er nicht?!... Ich will, dass er kommt!“ „Er kommt, er kommt gleich mein Liebling!“ - Antwortet die Dame. Dann küsst sie ihr Enkelchen und richtet seinen Hut. Der junge Goé trägt einen schönen Matrosenanzug, einen Strohhut mit der Aufschrift Le Formidable auf dem Hutband und unter dem Band die Fahrkarte, eingesteckt von Tante Mitzi, denn „so tragen Männer ihr Billet“. „Siehste, wie gut's ihm steht“ - sagt Großmutter - „der Marinelanzug?“ „Muttchen, sagte ich dir nicht, man sagt nicht Marinel?“ „Ja, wie denn?“ „Marinal!“ „Nun! Sagt ihr, wie ihr's wisst; ich rede, wie ich rede. So nannte man es zu meiner Zeit, als diese Mode für Kinder erstmalig herauskam: Marinel!“ „Seht ihr nicht, dass ihr beide dumm seid?“ - unterbricht der junge Goé. - „Man sagt weder Marinel noch Marinal.“ „Ja, wie denn, du Siebengescheiter?“ - fragt Tante Mitzi mit einem sympatischen Lächeln. „Mariner...“ „Ja nun! Nicht alle sind so belesen wie Sie!“ - sagt Großmutter, küsst wieder ihr Enkelchen und rückt wieder den Mariner-Hut zurecht. Aber es ist keine Zeit für philosophische Diskussionen: der Zug fährt ein – und er hält nur kurz! Der Zug ist voll... Jedoch, dank dem guten Willen einiger höflicher Jugendlicher, die nur einige Stationen weiterfahren, finden sich auch Plätze für die Damen. Der Zug fährt ab... Großmutter schlägt ein Kreuz, dann zündet sie sich ein Zigarillo an... Goé möchte nicht in das Abteil, er will lieber im Gang bei den Männern sitzen. „Nein!... man darf den Kopf nicht aus dem Fenster strecken, Kleiner!“ - sagt einer der Jugendlichen zu Herrn Goé und zieht ihn etwas zurück. „Was geht's dich an, Häßlicher?“ - sagt der Kleine, sich dabei entreissend. Und nachdem er sich zum Häßlichen hin gekrümmt hat, hängt er sich wieder mit beiden Händen an den Messinggriff und streckt wieder den Kopf hinaus. Der Häßliche kann noch nicht antworten, da zieht der Kleine erschrocken seinen leeren Kopf zurück und beginnt zu brüllen: „Mam-maa! O-maa! Tan-tee!“ „Was ist? Was ist?“ - springen die Damen. „Halten soll er!“ - brüllt noch lauter Goé, mit den Füßen stampfend. - „Der Hut ist weggeflogen! Er soll steehnbleibeen!“ Nach einer Weile, siehe, da kommt der Schaffner um zu sehen, wer in der letzten Station eingestiegen ist. „Die Fahrkarten, Herrschaften!“ Die Damen zeigen ihre Karten, dem Schaffner erklärend, warum Goé das nicht auch tun kann: Weil das Billet im Hutband steckte und da der Hut weggeflogen ist, ist selbstverständlich auch das Hutband mit dem Billet davon. Aber er hatte eine Fahrkarte... „Ehrenwort! Ich selber habe sie gekauft!“ - sagt Tante Mitzi. Der Schaffner allerdings versteht nichts, er will die Fahrkarte sehen; falls nicht, muss er bei der nächsten Haltestelle Herrn Goé hinauswerfen. Denn so steht's in den Vorschriften: Wenn ein Fahrgast keine Fahrkarte hat und nicht erklärt, dass er keine Fahrkarte hat, ist eine Strafe von 7 Lei [lé-i] und 50 Bani [baň] fällig und er muss den Zug beim nächsten Halt verlassen. „Aber haben wir nicht erkläretet!“ - schreit Muttchen. - „Welche Schuld trifft den Jungen, dass ihm der Hut wegflog?“ - sagt die Großmutter. „Weshalb streckte er auch den Kopf zum Fenster hinaus? Ich sagte ihm doch, er solle den Kopf nicht zum Fenster hinausstrecken!“ - sagte grollend der Häßliche. „Das ist nicht Ihre Sache! Was mischen Sie sich überhaupt ein?“ - sagt Tante Mitzi dem Häßlichen. „Sehen Sie, gnä' Frau“ - sagt der Schaffner - „Sie müssen eine Fahrkarte kaufen!“ „Wir sollen nochmal bezahlen? Zahlteten wir nicht bereits?“ „Und obendrauf noch 1 Leu [lé-u] und 50 Bani.“ „Und obendrauf?...“ „Siehste, wenn du nicht brav bist?“ - sagt Muttchen und schüttelt Goé ein bißchen an der Hand. „Was tust du, Schwester? Bist du verrückt? Weißt du denn nicht, wie empfindsam er ist?“ - ruft Großmutter. Und ihn an der anderen Hand packend, entreißt sie ihn seinem Muttchen, genau in dem Moment als der Zug, mit den Rädern klappernd, eine Weiche durchfuhr. Durch das Ziehen der Großmutter in eine Richtung, kombiniert mit dem Schütteln des Zugs in die andere Richtung bedingt, verliert Goé für einen Moment das Gleichgewicht und schlägt mit der Nase auf die Abteiltür. Goé beginnt zu brüllen... Am Ende, was sollen sie tun?! Sie müssen sich entschließen die Fahrkarte zu bezahlen, die der Schaffner aus seinem Block reisst. Schade nur um den Hut!... Was wird jedoch Herr Goé in Bukarest mit bloßem Kopf tun? Und alle Geschäfte sind geschlossen!...würde sich jedermann fragen, der die Vorsorge und Vorausschau einer Goßmutter nicht kennt! Unmöglich, dass der Junge nur mit einem Strohhut verreist! Es könnte doch regnen, oder gar kalt werden? Und Groß-mütterchen zieht aus ihrem Handtäschchen das passende Barett, ebenfalls aus der Uniform der Le Formidable Kanoniere! „Schmerzt die Nase noch, mein Küken?“ - fragt Großmutter. „Nein...“ - antwortet Goé. „Soll Großmutter sterben?“ „Sie soll sterben!“ „Küßchen von Großmutter, dann tut's nicht mehr weh!“ Sie küsst ihn auf die Nasenspitze; dann richtet sie ihm das Barett: „Als ob ihm das Barett besser stünde...“ - sagt Großmütterchen, bespuckt ihn gegen den bösen Blick und dann gibt sie ihm einen süßen Kuss. „Was steht ihm denn nicht gut?“ - fügt Tante Mitzi hinzu, bespuckt ihn auch und küsst ihn. „Lasst das! Er ist sowieso, ich weiß nicht wie!... Hört nur! Neuer Hut und die Fahrkarte!“ - sagt Mütterchen, sich beleidigt stellend. „Gesund soll er nur sein, dann trägt es sich besser!“ - sagt Großmütterchen. „Und das Muttchen bekommt kein Bussi?“ „Dich will ich nicht!“ - sagt Goé lächelnd. „So, so?“ - meint Muttchen, „lass nur!“, bedeckt sich die Augen und tut als ob sie weint. „Als ob ich nicht wüßte, dass du dich verstellst!“ - sagt Goé. „So ein Schlaumeier!“ - kommentiert Großmütterchen. Muttchen beginnt zu lachen; holt aus ihrem Handtäschchen etwas hervor und sagt: „Wer mich küsst?... Sie da!... Schukalade!“ Muttchen küsst Goé; Goé Muttchen und den Riegel Schukalade nehmend, geht er wieder auf den Gang. „Küken, streck aber den Kopf nicht wieder zum Fenster hinaus!... Es ist doch keine grosse Sache; sieh mal, wie klug er ist!“ - sagt noch Großmutter. „Es ist wirklich zum Fürchten, Ehrenwort!“ - fügt Tante Mitzi hinzu. Während Goé draussen seine Schukalade ißt, ergehen sich die Damen über dies und jenes... Der Zug eilt gerade zwischen Crivina gen Perisch. „Sieh mal nach, was der Junge draussen so tut, Muttchen!“ - sagt Muttchen zur Großmutter. Großmutter erhebt sich ächzend und geht auf den Korridor: „Goé! Mein Küken! Goé! Goé!“ Kein Goé. „Wehe mir!“ - schreit die Dame, - „Kein Junge! Wo ist der Junge! ... Er hat sich aufgelöst, der Junge!“ Und alle Damen springen auf... „Er ist aus dem Zug gefallen, der Junge! Schwester, ich sterbe!“ Jedoch plötzlich, trotz des Zuglärms, hört man Schläge von der Tür des Abteil, in das normalerweise nur eine Person Platz findet. „Goé! Mutter! Da bist du?“ „Ja!“ „Los!“ - sagt Großmutter, - „komm heraus! Du hast uns vielleicht erschreckt!“ „Ich kann nicht!“ - brüllt Goé von drinnen. „Warum? ... Hast du Herzschmerzen?“ „Nein! Ich kann nicht...“ „Es ist abgeschlossen!“ - sagt Großmutter, als sie versucht von aussen zu öffnen. „Ich kann nicht aufmachen!“ - brüllt Goé verzweifelt. „Wehe, wehe! Dem Jungen wird da drinnen noch schlecht!“ Am Ende erscheint doch noch der Schaffner: er bekommt ein Trinkgeld und befreit den Häftling, den alle drei Damen abküssen, als ob sie ihn nach einer längeren Abwesenheit wiedersehen würden. Und Großmutter beschließt im Gang zu bleiben, auf einem fremden Koffer sitzend, um Goé zu behüten, damit ihrem Küken nicht noch etwas passieren sollte. Das Küken sieht in einer Ecke des Ganges eine Metallstange, die zu einem Maschinengriff führt. Er steigt auf den Koffer, packt den Griff und beginnt zu ziehen. „Setz dich brav hin, mein Küken! Nicht, dass du am Ende etwas kaputt machst!“ - sagt Großmutter. Der Zug folgt seinem Weg von Perisch nach Buftea mit hoher Geschwindigkeit. Ungefähr bei Kilometer 24, hört man jedoch ein Zischen, dann das Alarmsignal, drei kurze Pfiffe und der Zug bleibt auf der Stelle stehen, eine starke Erschütterung produzierend. „Was ist los? Was ist los?...“ Alle Passagiere springen entsetzt zu den Fenstern, den Türen, den Treppen... „Goé! Mein Küken! Goé!“ - schreit Tante Mitzi und stürzt auf den Gang. Goé ist auf dem Gang... Warum hält der Zug? Jemand, man weiß nicht aus welchem Wagen, hat die Notbremse gezogen. Aus welchem Wagen?... Dies ist leicht feststellbar; die Notbremse kann man nur ziehen, wenn der verplombte Draht gerissen ist. Das Zugpersonal arbeitet draussen, die Räder kontrollierend, die so hart abgebremst wurden, dass der Mechaniker gut zehn Minuten brauchen wird, um den Luftdruck wieder aufzubauen, damit der Zug weiterfahren kann. In der gleichen Zeit eilen der Schaffner und der Zugführer von Wagen zu Wagen und überprüfen die Notbremsen. Wer errät in welchem Wagen der verplombte Draht gerissen und der Griff gezogen war? Eigenartig! Ausgerechnet der Wagen aus dem vor kurzem der Strohhut eines Mariners wegflog! Wer? Wer hat den Griff gezogen? Großmutter schläft in einer Ecke ihres Abteils mit dem Küken im Arm. Niemand weiß, wer den Griff gezogen hat. Der Zug fährt wieder an und erreicht Bukarest mit einer Verspätung von einigen Minuten. Alle Leute steigen aus. Großmutter richtet das Barett von Goé schön aus, bespuckt ihn wegen dem bösen Blick, fragt ob seine Nase noch schmerzt und küsst ihn innig. Dann besteigen die Damen eine Droschke und los geht's in die Stadtmitte: „Zum Bulevar, Kutscher, zum Bulevar!..." |
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