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Die Sehnsucht nach der Lüge
artikel [ Gesellschaft ]
Kolumne 5

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von [Delagiarmata ]

2004-02-25  |     | 



„Sehr gut erinnere ich mich an die Beerdigung von King George V. Wir Schüler standen geschlossen auf der Straße Spalier, es regnete, und wir mussten so traurig wie möglich aussehen. Einer der Schulmeister kontrollierte, ob wir wirklich traurig genug waren. Aber das war völlig unmöglich! Zumal ich beobachten konnte, wie König Carol von Rumänien in seinem Operettenanzug mit Federn völlig besoffen war und kaum noch gehen konnte. Die ganze Zeit musste ihn jemand immer wieder in die Mitte zurückschieben.“ Diese Geschichte hat Sir Peter Alexander Ustinov einer Zeitschrift erzählt.

Wir erinnern uns doch noch an die Jahre, als Kühe von einer LPG in die andere gekarrt wurden, damit der geliebteste Sohn des Volkes sie mehrmals am Tag als jeweils andere viehische Prachtexemplare bewundern konnte. Auch von an Bäumen aufgehängten Kunststoff- oder grün angemalten Papierblättern konnte man gelegentlich hinter vorgehaltener Hand hören. Die sollten dem gleichen Herrn und seiner Kamarilla eine intakte Umwelt suggerieren.

Wer diese Zeiten damals verdammte, als unfassbar empfunden oder auch nur belustigt zur Kenntnis genommen hat, wird auch noch wissen, dass wir diese zur Schau getragenen Lügen der Ruchlosigkeit des Systems zuschrieben. Sir Peter Ustinov sollte aber schon viel früher Dinge sehen und darüber traurig sein, die ihm eher eine intuitive Lustbarkeit bescherten. Es liegt nicht am Gesellschaftssystem: Die Sehnsucht nach der Lüge ist den Menschen immanent.

In einer großen, weltberühmten und weltweit agierenden Firma im Herzen Bayerns versammeln sich monatlich am letzten Freitag Gruppen von Angestellten und beginnen nach einer festgeschriebenen Vorgehensweise Produktionsbereiche zu inspizieren. Im Vorfeld dieser „angekündigten“ Aktionen werden die Arbeiter der betroffenen Bereiche fitt gemacht für die wichtige Begehung. Fit machen heißt vor allem putzen, putzen, putzen. Eine Grauguss verarbeitende Produktionsabteilung muss apothekenrein sein; am Tag der Auditierung (versteht sich), wie diese Kontrollgänge hochwissenschaftlich heißen.

Obwohl alle beteiligten Auditoren – ihre Zahl darf schon mal die 20 erreichen – wissen, dass es in dieser Abteilung so rein, wie sie es an diesem Tag erleben, gar nicht sein kann, sind sie mit der vorgefundenen Situation hochzufrieden und auditieren die Situation positiv als Dauerzustand. Alle belügen sich in einem wahren Glücksrausch und machen ihre Zeichen auf Bewertungsformulare.

Man kann durchaus auch schon mal beobachten, wie ganze Pulks von gut gekleideten Herren mit vor lauter Vornehmheit roboterhaft anmutenden Schritten durch die Halle gehen, um sich von einem vor Aufregung an allen Gliedern schlotterndem Meister die neueste sensationelle technische Errungenschaft der Abteilung präsentieren zu lassen. Ein Schutzblech wurde montiert, damit aus einer Maschine keine oder zumindest weniger Späne auf den Fußboden fallen.

Die Herren sind begeistert von dem auf wirklich gediegene Bildung und selbstverständlich auch höchst professionelle Ausbildung hindeutenden Vortrag des Meisters in dem frisch gewaschenen und gebügelten Arbeitskittel. Alle sind glücklich berührt ob der Genialität ihrer Mitarbeiter in der Produktion.

So haben sich auch an diesem Freitagmorgen alle wieder erfolgreich belogen – es ist auch für einen Außenstehenden eine Kleinigkeit, zu erkennen, dass das arme Blech überhaupt keine Auswirkung auf das Produktionsergebnis hat, weder quantitativ noch qualitativ – und starten zufrieden und von der eigenen Unverzichtbarkeit überzeugt ins Wochenende. Ihre Sehnsucht nach der Lüge wurde auch diesmal, wie so oft in ihrem schrecklich stressigen Arbeitsleben, voll befriedigt.

Um ihrer Daseinsberechtigung Willen sind diese Menschen sich nicht zu schade, die banalsten Dinge als kostensparende, qualitätssichernde und quantitätssteigernde Maßnahmen zu akzeptieren und zu belobigen oder auch immer wieder in hausgemachten Problemchen zu dramatisieren.

Diese unbändige Lust auf die Lüge ist natürlich problemlos auf alle Gesellschaftszweige Deutschlands übertragbar. Die Lüge selbst kommt dadurch zu höchstem Ansehen und wird längst als unumgängliches Übelchen, als Kavaliersdelikt (das wohlklingendste aller Verharmlosungsidiome) in allen Sparten des öffentlichen Lebens gehandelt.

Die zur Zeit erfolgreichste Mezzosopranistin der Welt, Cecilia Bartoli, gab kürzlich auf eine Journalistenfrage nach gemeinsamen Auftritten mit Popstars folgende Auskunft zum Besten: „Ja, es war bei der Bambi-Preisverleihung 2002. ... Ich sah Nena und Anastacia, Michael Jackson, Rod Stewart – all diese großen Pop-Superstars. ... An jenem Nachmittag, nach den Proben mit dem Orchester, ging ich zurück ins Hotel, um mich und meine Stimme ein bisschen aufzuwärmen. Es war etwa 18 Uhr, und es war alles so ruhig. Beeindruckt dachte ich: Wow, sind die professionell, die müssen sich noch nicht mal einsingen! Erst langsam begriff ich, dass ich wohl die Einzige sein würde, die an dem Abend live singen sollte!“ Das Publikum wird das wenig gestört haben. Es war glücklich, seine Stars zu sehen.

Dass selbst der Bundestag sich in einem „Lügenausschuss“ mit der Wahllüge beschäftigt, unterstreicht deren Hoffähigkeit. Was beim rasanten Gesellschaftsaufstieg der Lüge auf der Strecke bleibt, ist die Moral.



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