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Es war einmal im Zug
prosa [ ]
Über die Liebe zu Bahnhöfen im Leben der Nelly Mann - (zweiter Teil)

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von [Almalo ]

2004-09-13  |     | 



II

Jeder kann Zug fahren, wenn er 'groß genug' ist, Nelly, erklärte Mutter. Vater hatte auf diese Frage mit seinem abwesenden Lächeln geantwortet und geflüstert:"Du, Nelly, mach dir keine Sorgen, wirst es nie, da du dich an allem und jedem zu stark festhältst, du bleibst manchmal genau wie Harz kleben,ha,ha,ha...".

Was heißt 'groß genug', fragte ich in der Schule, irgendwann vielleicht zwischen den Jahren wenn andere schon ihren ersten Freund verlassen und das Taschengeld nicht mehr zählen sondern ausgeben. Die Antwort war ein blechernes Lachen wie das Bellen des erzürnten Nachbarshundes am Rande der Großstadt, wo wir noch mit Vater wohnten. Dann verstummte ich auch, stellte meine Fragen keinem mehr und wartete, dass das Leben zurück antwortet.

"Das Leben hat eine Lösung für alles", war Mutters knappe Antwort, die sie von ihrer Mutter geerbt haben muss. Das sagte sie in den wichtigen Augenblicken zu mir, trocken, um mir auch etwas mitzugeben. Doch dieses Leben, das eine Lösung für alles haben mag, ist bei mir erfolgreich gestolpert.

Für Dunkelheit hat das Leben keine Lösung, hört ich oft den Schularzt Mutter widersprechen.
"Nein, Nelly, nein, er hat nicht Recht. Wir warten bis du 'groß genug' bist und dann wirst du sehen...". Was sie wohl meinte, wusste sie selber nicht so genau. Ihr Atem zitterte, sie kam mir nicht zu nah und ihr Duft verlor sich im Raum. Sie war eine kleine, stille Frau, die nur einen Gott kannte: ihren abwesenden Mann, auf den sie verstummt wartete. Vielleicht ihre einzige Lösung, das ihr das oft gelobte Leben übrig ließ.

Mutter traute ich mich nie zu fragen. Ich wartete geduldig bis zur nächsten Erklärung. So wie sie mir alles genau erklärte, mit lauem Atem und "für dich Nelly nochmals klar und deutlich, im Schneckentempo...".
"Du-bist-nicht-jeder, du kannst nicht wie ein Waisenkind Zug fahren, nur arme Kinder fahren alleine", versuchte sie mich oft abzulenken. Ich war nicht taub, dachte ich, ich war blind. Das Wort 'blind' jedoch hat Mutter nicht über die Lippen bringen können, nie. Sie lenkte ab. Sie streichelte vor dem Schlafengehen meine Stirn, zog die sehr weiche bis schlaffe, vermutlich dunkelrote Steppdecke des alten Ehebettes aus riesigen Holzbalken mit nervöser Hand immer bis unters Kinn, so dass es nicht selten wehtat. Antworten, die möge ich doch meinem Leben abverlangen. Und mein Leben war nun mal blind.
"Nelly, ich weiß nicht was du meinst", sagte sie mit tiefer Stimme, "mit: ich muss dir antworten, warum?".

Als sie es sagte, stopfte sie mir gerade die Decke zum wiederholten Mal über die kleinen Schultern, zitterte, streichelte, versuchte abzulenken.
"Dein Vater, ja, wenn er kommt, frage ihn, wie du fahren kannst, wie du alleine leben kannst und wie es um Liebe, Leid, Einsamkeit und den ganzen Kram steht...Ja, frag deinen Vater, er reist doch so viel und hat viele Wörterbücher und Reisekarten, der muss es wissen".

Nein, es ist nicht so einfach Zug zu fahren.

Mutter verstummte eines Tages völlig, ohne dass sie die Lösung für ihr Leben erfahren hatte oder Zeit zum Widersprechen gehabt hätte. Vater blieb seitdem für immer weg.

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