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Tötet Schmetterlinge
prosa [ ]
Tagpfauenauge

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von [franziskus ]

2004-07-01  |     | 



Es tötet Schmetterlinge

Mehr als fünfhundert Schüler und Eltern drängten sich im Schulhof.
"Sprrrechprrrobe", hallte es von den dicken Mauern wider. Der Schulwart sprang vom Podest, nickte stolz und zeigte dem Direktor den Erfolgsdaumen.

Die ausgezeichneten Schüler hörten ihre Namen aus dem Lautsprecher und erhielten die Zeugnisse vom Direktor persönlich, aus seiner Hand mit den langen blassen Fingern.
Und ein paar anerkennende Worte aus seinem Mund mit den langen Zähnen. Sie nannten ihn heimlich Dracula.

"Die ausgezeichneten Schüler der Klasse 1a", näselte er mit seinem Wiener Altakademiker-Akzent in das Mikrofon, "Klassenvorstand Professor Schlichtinger, die Namen der Schüler mit ausgezeichnetem Erfolg, bitte."
Sportlich wie immer, auch am letzten Tag vor seiner Pensionierung, sprang der alte Schlichtinger auf das Podest. Er näherte sich dem schwankenden Mikrofon fast bis auf Kussnähe.
Die weißen Blusen seiner Schülerinnen blendeten ihn, mit zusammengekniffenen Augen sprach er laut: "Auferbauer Georg"
Und der Direktor lobte: "Gut gemacht, Auferbauer!"
"Lauter Sehr gut, der junge Mann!" ergänzte Schlichtinger. Ergänzungen waren gar nicht üblich. Der Sommerwind spielte mit seinen Haarfedern wie mit einer zerzausten Vogelschwinge. "Da wächst noch was heran, Herr Direktor, liebe Eltern..."
"Fassen sich kürzer, Herr Kollege", zischte der Direktor in Schlichtingers Ohr. Das konnte er, weil er so lang war, tun, ohne auf das Podest zu steigen. Etwas kitzelte ihn. Und er schüttelte heftig den Kopf. Der Schmetterling auf seinem Ohr blieb trotzdem sitzen. Als die Erstklassler schon nur mehr zu Boden sahen, die Lippen zusammenpressten und die Hände über den Mund legten, wischte er ihn mit dem Handrücken weg.
Der Professor: "Doleschal Brigitte". - Der Direktor: "Glückwunsch. Alles Gute weiterhin."
Der Professor: "Gollner ... ". Aber statt auf den Schüler starrte Schlichtinger in die Luft.
"... Manfred", ergänzte daher der Direktor, "Gratulation, Gollner. - Herr Kollege, konzentrieren sich endlich! Peinlich, nicht also."
Schlichtinger trat einen Schritt vom Mikrofon zurück, breitete die Arme aus und strahlte wie ein Erleuchteter.
Der Direktor: "Nächster Name, Herr Kollege!"
"Inachis io ...", hauchte Schlichtinger.
Der Direktor blickte ratlos in die Zeugnismappe. "Hab ich nicht."
Schlichtinger: "Kinder, schaut her! Inachis io! Das Tagpfauenauge."
Seine Stimme vibrierte. Die Kleinen nickten gelehrt, die Größeren schmunzelten wissend. Der Schmetterling blieb auf dem Mikrofon sitzen und bewegte seine Flügel, als wollte er den Schülern applaudieren.
Der Direktor überließ Schlichtinger seinen Träumen. Ohne Mikrofon fuhr er alleine fort: Name - Lob. Name - Lob. Name - Lob... Fertig mit Schlichtingers Klasse. Als der Applaus für die Schüler verebbt war, erhob sich auch der Schmetterling und ließ sich vom Sommerwind schaukeln und forttragen, wie ein trockenes Blatt.
"Schaut, er verabschiedet sich", sagte Schlichtinger, "so wie ich. Das ist eine nette Symbolik, wirklich. Liebe Schüler und Eltern! Ich verabschiede mich aus der Schule. Für immer. Ab morgen bin ich Rentner." Ein hundertfaches "Oh" war zu hören. "Jetzt wird sich mein Leben ändern. Frei wie der Schmetterling werde ich sein, und ..."
"Sind's endlich fertig, Kollege Schlichtinger?"
"... und: ach ja, alles Gute euch allen!Lebt wohl."
"Klasse 1b, Kollege Professor Sohmann, bitte Ihre Liste!" Der Direktor sagte das wie ein Dankgebet nach der Errettung aus dem Feuer.

Dieser Sohmann, der geübteste, aber auch der ungeduldigste aller Biertrinker, hatte nach der Abschlussfeier im Schulhof bereits im Gasthof "Rosengarten" das Fass Bier angeschlagen, das Schlichtinger zu seinem Abschied spendierte. Die anderen Lehrer stießen sich schon die Bierkrüge in den Rücken, beim Anstellen vor dem Zapfhahn.
Schlichtinger hatte im Schulhof noch viele Hände zu schütteln gehabt. Und viele Geschenke bekommen.
"Ein dreifach Hoch dem Schlichti", rief Sohmann in die Runde, als der frische Rentner endlich eintraf.
Der Direktor reihte sich hinter Schlichtinger am Buffet ein.
"Na, Kollege, alle Geschenke in Sicherheit gebracht?"
"Ja, im Auto", antwortete Schlichtinger über die Schulter.
"Eigentlich erlaube ich immer nur ein Geschenk pro Lehrer, nicht also ..." Der Direktor rollte ein Blättchen Schinken zusammen, stopfte es sich in den Mund und fuhr kauend fort: "Was werden Sie jetzt treiben, Kollege? Schmetterlinge fangen, vermutlich?"
"Warum nicht, Herr Direktor? Nein: hinaus in die Natur. Wandern, Bergsteigen. Achten auf das Kleine, das Stille, die Wunder der Schöpfung."
"Hätten eigentlich Philosoph werden sollen, Kollege ..."

Als der Direktor nach seiner dritten Fassung vom Buffet endlich das Besteck zur Seite legte, bestellte Schlichtinger - nach seinem dritten Bier - noch zwei Achtel Muskateller.
"Wohl bekomm'sss, Direktor! Und vielen Dank für die gute Zusammenarbeit, die gute Zusammen... ja, und deine ... Ihre gute Führung ... die immer ..."
Eine Kollegin flüsterte: "Uh, der Schlichti is' heut' schon beschwipst. Jetzt wird er dem Direktor bald das Du-Wort anbieten."
"Und glaubst, dass er ihm einen Kuss auch gibt?" lachte Sohmann.
Der Direktor wollte nicht verstehen und sagte bloß: "Alles Gute, Herr Kollege! Für den neuen Lebensabschnitt gewissermaßen. Nicht also ... Zum Wohl!"
Der Direktor leerte das Glas in einem Zug und erhob sich.
"Bevor Sie von dannen gehen, Direktor, nochh wasss", stieß Schlichtinger hervor. "Setzen! Ich meine, setzen sich, Direktor!" Die Lehrer kicherten und blickten gebannt auf die beiden.
"Das Ding, ich meine, Herr Direktor, Sie sagten ... naja, das Ding mit den vielen Geschenken heute; da machen sich mal bloß nicht ..., ich meine, da machen sich bloß nicht große Sorgen. Sind ja jetzt nicht mehr verantwortlich für den bestechenden ... äh, bestechlichen alten Schlichtinger, nicht also".
"Kollege! Haben das wieder in die falsche Kehle bekommen. Ich habe nur die Pflicht, gewissermaßen ..."
"Ach, du meine Güte, Direktor! Wissen Sie, was Pflicht ist? Ehrlich. Pflicht ist die Krücke der Unfreien".
"Hätten wirklich Philosoph werden sollen, Kollege, nicht also."
"Ich bin frei, Direktor, frei wie inachis io; Tagpfauenauge, Direktor. Und Sie, gehen Sie nun hin in Frieden und bleiben der Unbestechliche."
"Amen!" rief Sohmann und lachte als erster. Der Direktor lächelte beim Weggehen über die Schulter zurück wie ein Sieger. Er glaubte, das Gelächter gelte Schlichtinger.

"Schlichti, großartig warst", sagte eine Kollegin. Alle klopften auf die Tische.
"Danke, danke, danke! Ich mussss jetzt... gehen... probieren. Seid nicht böss! Rentner haben eine Menge zu tun. Einen Schwipsss aussschlafen, zum Beisspiel. Macht'sss gut." Er hob die Arme und schüttelte sich selbst die Hände. "Sitz... Sitzen bleiben! Ich erspare euch Handi geben. Applaus genügt mir."

Schlichtinger konnte gerade noch zurückspringen, aber Bier und Wein kamen ihm beinahe hoch. Ein Autofahrer war bei Rot über die Kreuzung gerast. Im Sog des Autos segelte etwas zu Boden, wirbelte an der Bordsteinkante entlang und blieb am Rinnstein liegen. Tot. Inachis io - tot.
Schlichtinger hob ihn sanft auf seine linke Handfläche und deckte sie mit der rechten zu. So trug er ihn mit sich. Er wankte ein bisschen mehr, weil er sich so auf den Schmetterling konzentrierte.
In seinem Garten warf er seine Hände nach oben und auseinander. Noch einmal schaukelte Inachis io im Wind. Und landete schließlich im Rosenstrauch.

Schlichtinger träumte: Ein Schmetterling saß auf seiner Hand. Die Punkte auf den Flügeln wurden größer, öffneten und schlossen sich wie Augen. Sie schimmerten feucht. Tränen fielen auf seine Hand. Seine Hand war feucht, als er in der Nacht erwachte.
Frühmorgens packte er seinen Rucksack, blieb eine Zeitlang vor dem Rosenstrauch stehen, nickte und marschierte zum Gasthof um sein Auto.

Langsam fuhr er auf der Landstraße, andere Autofahrer hupten und tippten sich an die Stirn, während sie Schlichtinger überholten. Statt in den Forstweg einzubiegen, der zu seiner Almhütte führte, hielt er am Straßenrand. "Ich kann's nicht mehr", flüsterte er, wendete auf Straßenbreite, fuhr nach Hause zurück und räumte das Auto aus.
"Es tut mir ja leid um dich", sagte er zum Auto, als er in den Hof des Autohändlers einfuhr, "aber wir müssen uns trennen".
"Sind Sie nicht mehr zufrieden damit?" wunderte sich der Autohändler, "ist ja noch gar nicht so alt, Ihr Schlitten!"
"Das nicht, aber... Naja, Sie sollen es als erster wissen: Ich ändere mein Leben."
Der Händler kratzte sich im Nacken. Argumente, in denen nicht Baujahr, Kilometerstand und Höchstgeschwindigkeit vorkamen, quälten ihn unsäglich.
Erst als Schlichtinger lächelte, fand auch er seinen Humor wieder.
"Aha! Verstehe!" Er hieb dem Professor auf die Schulter. "Jetzt in der Rente, da brauchen wir ja kein Vorbild mehr sein; für die Grünschnäbel, was? Ein schnelleres Auto muss her, nicht? Ein bissl sportlich, ein bissl die Sau rauslassen, nicht? Haha!"
Schlichtinger wandte sich ab. Der Händler senkte den Blick und scharrte im Kies.
"Ist mir rausgerutscht, Herr Professor. Nix für ungut, bitte. Hhm.
Etwas ganz Anderes: Ich gebe Ihnen siebenhundertfuffzig mehr für's alte, wenn Sie das neue Auto gleich kaufen."
"Ich kaufe kein neues Auto, guter Mann! Wie gesagt: Ich ändere mein Leben. Ich werde mehr auf die Natur achten."
Sätze, in denen Natur vorkam, quälten den Autohändler unsäglich.
"Herr Professor! Ihr Auto liebt doch die Natur! Gewissermaßen... Bringt Sie hinaus, in die Berge. - Nein, ohne Spaß: die Autos sind heute schon sehr umweltfreundlich. Bruder Baum muss wirklich nicht meckern."
"Sie verstehen mich nicht", sagte Schlichtinger, "ich werde ohne Auto leben. Einfach so: ohne Auto! Vielleicht tut es ja dem Bruder Baum nichts, aber ..."
"Aber?"
"... aber es tötet... Schmetterlinge!"

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