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Eine Zeitschriftennummer für eine Schriftstellerin
artikel [ Bücher ]
TEXT + Kritik + Herta Müller

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von [Delagiarmata ]

2008-08-23  |     | 



TEXT + KRITIK ist eine Literaturzeitschrift, die viermal im Jahr in München erscheint. Bisher sind 177 Nummern und mehrere Sonderbände dieser Zeitschrift erschienen. Jede Ausgabe behandelt ein gewisses Thema. „Politische Lyrik“, „Konkrete Poesie“, „Über Literaturkritik“, „MachtApparat Literatur. Literatur und Stalinismus“, „Vom gegenwärtigen Zustand der deutschen Literatur“ und anderes mehr wurde in diesen Zeitschrift-Büchern schon veröffentlicht. Die meisten Ausgaben beinhalten aber literaturwissenschaftliche Studien zu den Werken einzelner Autoren/innen und Textbelege aus deren Werken. Die Galerie der so veröffentlichten Literaturgrößen ist beeindruckend: Heinrich Heine, Johann Peter Hebel, Erich Maria Remarque, Hermann Hesse, Ingeborg Bachmann, Günter Grass, u. v. a. Und weil zu jedem seriösen deutschen Literaturkanon mindestens ein südosteuropäischer Name gehört, finden wir in der TEXT + KRITIK-Reihe auch Paul Celan (Nr. 53/54) und George Tabori (Nr. 133).

„Was zwatt, dritt sich“, heißt es in banatschwäbischer Mundart und will besagen, dass auf ein „zweites Mal“ auch ein „drittes Mal“ folgt. Genau das ist im Juli 2002 auch in der TEXT + KRITIK-Serie eingetreten. Das dritte literarische Werk, dessen Existenz wir dem deutschen Geistesleben östlich von Graz verdanken, ist in der Nummer 155 besprochen worden. Wen wundert’s? Herta Müller!

Die aus Nitzkydorf stammende Schriftstellerin hat es ohne jegliche Abstriche verdient, in dieser von Literaturprominenz strotzenden und in Jahren gereiften Kompendiensammlung vertreten zu sein. Es ist besonders für uns, Herta Müllers Landsleute, sehr wichtig, so viel wie möglich auch in der mittlerweile sehr reichen Sekundärliteratur über ihre Erzählungen, Romane und Collagen zu lesen. Der Blick der binnendeutschen Literaturkritik ist eben unbefangen. Er lässt sich nicht von emotionalen Empfindungen irreleiten, sondern analysiert kühl und rational, was natürlich die jeweils eigene Betrachtungsperspektive der verschiedenen Rezensenten und Analysten nicht beeinträchtigt. Wer als interessierter Leser versucht, den einzelnen Erläuterungen der Autoren dieser TEXT + KRITIK-Ausgabe zu folgen, wird unschwer einige Vorurteilsschuppen fallen spüren und eine etwas andere Sicht auf das Müllersche Werk gewinnen. Das soll natürlich nicht als Aufmunterung zur Kritikentmutigung oder gar zur widerspruchslosen Übernahme der in diesen Texten geäußerten Meinungen verstanden sein. Nur, das so oft unter den Landsleuten – wie viele wohl werden ihre Texte überhaupt gelesen haben? – kolportierte Attribut der Nestbeschmutzerin kann getrost stark relativiert werden.

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Als Erster setzt sich in einem eher als Editorial verstandenen Text, aber doch ein Landsmann mit „Herta Müllers Selbstverständnis“ auseinander. Der Germanist und Politologe Ernest Wichner (geb. in Guttenbrunn/Banat) rechtfertigt Herta Müllers Festhalten am Thema der „sich auf die finale Katastrophe hin entwickelnden Diktatur“.

Der Wissenschaftliche Assistent am Germanistischen Institut der Universität Bochum, Ralph Köhnen, analysiert den autofiktionalen Impuls in frühen Texten Herta Müllers. Nun ist es wahrlich nicht vergnüglich in diesen Texten zu lesen. Was in Wirklichkeit geschehen ist, muss man sich als Leser wie beim Durchblättern eines Fotoalbums selbst zusammenreimen. „Sprachbilder sind insgesamt das Medium der Autofiktionalität, ein Bilderreichtum, der die Handlung meist suspendiert, wofür Herta Müller von Rezensenten oft gescholten wurde“, schreibt Köhnen.
„Deutsche Frösche – Zur ‚Diktatur des Dorfes’ bei Herta Müller“ titelt Josef Zierden, Studiendirektor an einem Gymnasium in der Eifel, und schon steht mein heißer Landsmannschaftsblick seinem unbeteiligten, coolen Betrachten gegenüber. Es war doch alles so schön, so rein, so anständig bei uns im Dorf. Aber nur über der Tabudecke. Was darunter war, interessierte die heranwachsende Generation – heute auch schon um die 50 – kaum. Und wenn mal eine/r drunter schaute und sich mit dem Gesehenen, Gehörten, Vermuteten, Zusammengereimten herumplagte, was konnte er da wohl sinnvolleres tun, als alles Reale und daraus kriechende Fiktionale zu Papier bringen. Sind wir doch endlich ehrlich zu uns selbst! Waren unsere Dörfer in ihrem Inneren wirklich so idyllisch, wie sie nach Außen wirkten? Josef Zierden bemerkt, dass Herta Müller „erst nach dem Wegzug aus dem banatschwäbischen Dorf auf kritische Distanz zum individuumfeindlichen Diktat des Normalen mit seiner bipolaren Scheidung in ‚normal’ und ‚nicht normal’, in ‚richtig’ und ‚falsch’, in ‚nützlich’ und ‚schädlich’ gehen konnte“.

Friedman Apel ist Professor für Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Er richtet sein Augenmerk auf „Wahrheit und Eigensinn – Herta Müllers Poetik der einen Welt“. Tja, wer hat recht, sie oder wir? Auf jeden Fall haben wir, die Landsleute, es ihr, der selbstdeklarierten Außenseiterin – sie wollte hier in Deutschland nicht einmal Aussiedlerin, sondern Immigrantin sein – nie leicht gemacht. Wenn ein Schriftsteller glaubhaft sein will, muss er auf jeden Fall seine Erkenntnis ehrlich und schonungslos für sich und den Leser mit dem ihm eigenen Stilmittel aufbereiten. „Für Herta Müller ist es eben nicht Sache des Schriftstellers, seine Hände in abstrakter Unschuld zu waschen“, schreibt Apel, „jede Stellungnahme birgt als Sprache das Risiko des Schuldigwerdens wie der widerständige Blick nicht durch sich selbst vor ungerechten oder falschen Schlüssen geschützt ist.“

Philipp Müller, 2002 war er Forschungsstudent am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, befasst sich in seinem Beitrag mit den „Fluchtlinien der erfundenen Wahrnehmung – Strategien der Überwachung und minoritäre Schreibformen in Herta Müllers Roman ‚Heute wär ich mir lieber nicht begegnet’“. In Bezug auf Herta Müllers Œvre ist die „erfundene Wahrnehmung“ längst zum geflügelten Wort geworden. Was wirklich damit gemeint ist, versucht der Autor dieser Studie zu erklären. Anhand vieler Beispiele demonstriert er, wie „der Blick sich in das Partikulare vertieft und die Grenzen der gewöhnlichen Sicht auf die Dinge überschreitet“.

Norbert Otto Eke ist ausgewiesener Herta-Müller-Kenner. Der Professor für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn ist auch der Herausgeber des bereits 1991 im Igel-Verlag erschienenen Buches „Die erfundene Wahrnehmung – Annäherung an Herta Müller“. Im hier besprochenen Sammelband nimmt er sich der „Schönheit der Verwund(er)ung – Herta Müllers Weg zum Gedicht“ an. Herta Müller beschreitet mit ihren Collage-Gedichten neue Wege und wir erfahren auf anschauliche Weise, wie es dazu kam und wie die Autorin jetzt bei ihren Textkompositionen verfährt.

In die gleiche Kerbe schlägt Jürgen Wertheimer, Professor für Germanistik und Komparatistik an der Universität Tübingen, mit seiner Analyse „Im Papierhaus wohnt die Stellungnahme – Zu Herta Müllers Bild-Text-Collagen“.

Neben der Erzählerin, Dichterin und Essayistin Herta Müller gibt es auch die „Reporterin Herta Müller“. Ihre Reportagen sind quer durch den deutschen Feuilletonwald anzutreffen. Die Literaturkritikerin, Reporterin und Essayistin Dr. phil. Angelika Overath hat sich mit dieser Seite Herta Müllers befasst.

Der Band enthält auch einige Collagen von Herta Müller und das Essay „Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm – wenn wir reden, werden wir lächerlich“. Also was bleibt übrig, um die eigene Haut zu sprengen? Das Schreiben. Aber, „kann Literatur Zeugnis ablegen?“, heißt es im Untertitel. Wer will das schon mit Endgültigkeit wissen? Dieses Essay tut es auf jeden Fall. Es legt Zeugnis vom Werden und Sein einer in der deutschen Sprache beheimateten und immer wieder zurückblickenden Schriftstellerin, die viel aus der anderen Sprache in ihr Schreiben einfließen ließ: „Es wurde immer öfter so, dass die rumänische Sprache die sinnlicheren, auf mein Empfinden besser passenden Worte hatte als meine Muttersprache. Ich habe in meinen Büchern noch keinen Satz auf Rumänisch geschrieben. Aber selbstverständlich schreibt das Rumänische immer mit, weil es mir in den Blick hineingewachsen ist.“

Man erfährt viel in diesem Essay über die Wortschöpfungen Herta Müllers. Schraubenzieheräste und Hirnhut bekommen umgehend Sinn und man hat plötzlich den Mut – als Landsmann – zu sagen: Es ist gut, dass Herta Müller nicht in der „Schule des Schweigens“, die da hieß „Schwerstarbeit wie Säcketragen, Umgraben, mit der Sense Mähen“, verharrte.


Heinz Ludwig Arnold (Hrg.): TEXT + KRITIK – Heft 155 – HERTA MÜLLER – Juli 2002; ISSN 0040-5329. ISBN 3-88377-716-1; Euro 14,-. Das Buch kann über den Buchhandel oder den Verlag bestellt werden: http://www.etk-muenchen.de/sixcms/detail.php?&id=5063&template=neu_werke_literatur

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