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Leser: 1978 .



Ich heiße Michel Larivière
persönlich [ Gedanken ]

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von [Myriel ]

2009-01-21  |     | 



Kapitel 3 - Ich heiße Michel Larivière


„Il faut aimer la vie même dans les moments les plus difficiles. Aimer la vie, c’est aimer Dieu, car la vie c’est Dieu. »
Léon Tolstoi « Guerre et paix »


In seinem Buch « Tagebuch der Freude » spricht Nicolae Steinhardt von der « heiligen Lüge ». Jeder anständige Mensch würde sich die Frage stellen: „Gibt es überhaupt so etwas?“ oder „Kann man sich Christ nennen und gleichzeitig die Geschichte der heiligen Lüge akzeptieren?“. Als Nicolae Steinhardt von der politischen Miliz der kommunistischen Partei verhaftet und gefragt wurde, wer noch an der antikommunistischen Aktivitäten beteiligt war, verriet er niemanden. Alle Namen der kommunistischen Gegner waren ihm gut bekannt, aber er belog die Miliz. Wenn er ihre Namen preisgegeben hätte, wären viele im Gefängnis gelandet. Aus diesem guten Grund nennt er diese Lüge „die heilige Lüge“. Man lügt jemanden an, damit man andere Menschen retten oder beschützen kann.
Während meines illegalen Aufenthalts auf deutschem Boden passierte mir eine ähnliche Geschichte. Traurigerweise wurde ich auch „gezwungen“ zu lügen, so dass anderen Leuten nichts widerfährt. Nach meiner Rückreise von Spanien, Ende November 1999, blieb ich heimlich bei meiner Schwester wohnen. Ich hatte nicht mehr so viel Geld übrig, aber ich lebte mit der Hoffnung, dass ich in den darauffolgenden Wochen eine „Stelle“ finden könnte. Diese Aufgabe erwies sich als sehr schwer, weil meine Deutschkenntnisse schlecht waren. Darüber hinaus, hatte ich weder eine Aufenthaltserlaubnis noch eine Arbeitserlaubnis für Deutschaland. Meine Schwester kündigte überall bei ihren Freunden an, dass ich hier in Deutschland arbeiten möchte und dass sie uns benachrichtigen sollen, falls sie etwas davon hören.
Meine erste nicht angemeldete Stelle in Deutschland fand ich über einen Freund von mir. Er brachte mich in eine kleine Werkstatt, wo man Etuis für Kontaktlinsen zusammenbaute. Der Arbeitgeber benötigte nur eine Person für diese Tätigkeit und da mein Freund nicht weiter machen konnte, suchte er einen Ersatzmitarbeiter für seinen Abgang. Ich bekam für jedes zusammengebaute Etui 10 Pfennig. Jedes Etui bestand aus vier Teilen: Ablage, Deckel, Beschlag und Ringe. Für die Fertigstellung eines Etuis brauchte ich etwa 5 Minuten. Manchmal ein wenig länger, weil es Probleme mit dem Beschlag oder mit den Ringen gab. In dem kurzen Zeitraum, in dem ich dort arbeitete, konnte ich ungefähr 100 Etuis pro Tag anfertigen. Dafür musste ich ca. 7 Stunden täglich in dieser Werkstatt verbringen. Natürlich wurde ich von meinem damaligen Chef und seiner Sekretärin sehr gut behandelt. Sie boten mir jeden Tag verschiedene Sorten von Saft an. Aber lassen Sie uns zusammenrechnen, was ich damals so pro Tag verdiente. 100 Stück in acht Stunden mal 10 Pfennig pro fertige Etui ergibt einen Tagelohn von genau 10 DM. Jetzt im Nachhinein, nenne ich diese Arbeit „moderne Sklaverei“. Mal 30 Tage im Monat ergeben einen monatlichen Lohn von 300 DM.
Mein damaliger Chef, Herr Müller (Name geändert), besuchte mich fast jeden Tag bei der Arbeit und unterhielt sich mit mir. Ich glaube, dass meine Arbeitsbegeisterung von damals, ihm ein wenig Angst einjagte. Mehr als zehn Stunden konnte ich nicht arbeiten, weil diese anscheinend leichte Arbeit viel Konzentration forderte. Nach acht Stunden war ich völlig erschöpft, wie eine Blume, die lange Zeit ohne Wasser in der Sonne stand. Obwohl ich bei Herrn Müller sehr wenig verdiente, gab es einen sehr großen Vorteil. Er sprach mit mir stundenlang nur Deutsch. So passte ich mich an die mir völlig unbekannte und schwere deutsche Sprache an. Herr Müller studierte Wirtschafswissenschaften in Stuttgart und war in der Lage sehr interessante Geschichten zu erzählen. Ich erfuhr vieles über die deutsche Wirtschaft, über die deutsche Gesellschaft und über das Leben in Deutschland. Wenn ich Herrn Müller nicht getroffen hätte, wäre ich nicht imstande gewesen, ein Gefallen an der deutschen Sprache zu entwickeln. Ich glaube es hatte ihm auch Spaß gemacht, mich dort in seiner Werkstatt zu haben, weil ich stets ein offenes Ohr zeigte.
Die Monate Dezember und Januar 1999/ 2000 verbrachte ich bei Herrn Müller, aber ich stellte die Suche nach einem besser bezahlten Job noch nicht ein. Es war mir bewusst, dass so lange ich wenig Geld verdiente, wäre ich nie in der Lage sein, irgendwann mit etwas Anderem anzufangen. Ich stellte etwas Wichtiges fest. Diese Schwarzarbeit entfesselte in mir einen Riesenmut. Die Angst, die ich am Anfang hatte, verschwand und ich verwandelte mich, in kürzester Zeit, in einen Möglichkeitsdenker. Ich sah, dass ich sogar hier in Deutschland, ohne Deutschkenntnisse und ohne Arbeitserlaubnis, eine Stelle finden kann. Das Leben hat so viele gute Überraschungen für uns. Mit dieser Gelegenheit rechnete ich nicht einmal in meinen schönsten Träumen. Die kleinen Errungenschaften ebnen den Weg für größere Errungenschaften.
An einem Sonntag, im Januar 2000, ging ich in die Luther Kirche aus Karlsruhe. Wir, Orthodoxen, haben keine eigene Kirche in Karlsruhe, deswegen halten wir den Gottesdienst in rumänischer Sprache in der Luther Kirche ab. Ein paar Freunde von mir waren schon informiert, dass ich einen neuen und besser vergüteten Job suchte. An diesem Tag, lernte ich über einen Freund von mir, Marcel (Name geändert), eine Frau namens Erika (Name geändert) kennen. Sie ist eine in Rumänien geborene Schwäbin und besitzt einen Stand mit Obst und Gemüse. Damals brauchte Sie dringend Mitarbeiter. Mein Freund stellte mich ihr vor. Nach einem kurzen Vorstellungsgespräch in der orthodoxen Kirche, entschied Sie sich, mich einzustellen. Sie wollte auch, dass ich sogar am nächsten Tag beginne. Sie erklärte mir auch, was ich zu tun hatte: den LKW ab- und später aufladen, beim Aufbau des Standes helfen und die Kisten mit Obst und Gemüse zur Schau stellen. Zum Schluss gab Sie mir die Adresse des Wochenmarktes und bestellte mich am nächsten Tag um 5 Uhr. Ab diesem Tag begann für mich der erste Teil durch das Tal der Tränen. Ich habe nie in meinem Leben so schwer gearbeitet und ich glaube ich werde es nie wieder tun. In dem Zeitraum, in dem ich dort arbeitete, Anfang 2000 bis Frühling 2003, lernte ich eine Menge über das Leben. Ich lernte das Leben über alles zu lieben und es zu respektieren. Ich lernte Leute zu respektieren, denen das Wort „Respekt“ sehr unbekannt war, ich lernte zu hoffen, da wo es wirklich keine Hoffnung war, ich lernte zu siegen, da wo es keinen Sieg in Sicht war, ich lernte zu wachsen, da wo es keinen Platz fürs Wachsen gab. Der Weg durch das dunkle Tal brachte mir bei, das Leben lebenswert zu machen. Ich verstand, dass viele Leute ein unmögliches Benehmen im Umgang mit anderen haben. Sie tun ihr Bestes, um das Leben der anderen in eine Hölle zu verwandeln. Robert A. Schuller zitiert Mutter Teresa in seinem Buch „Getting through what you’re going through”: Do it anyway (sign in Mother Teresa’s office)

People are unreasonable, illogical, and self-centered,
Love them anyway

If you do good, people will accuse you of selfish, ulterior motives
Do good anyway

If you are successful, you win false friend and true enemies
Succeed anyway

The good you do will be forgotten tomorrow
Do good anyway

Honesty and frankness make you vulnerable
Be honest and frank anyway

What you spent years building may be destroyed overnight
Built anyway

People really need help but may attack you if you help them
Help people anyway

Give the world the best you have and you’ll get kicked in the teeth
Give the world the best you have anyway

Ich verstand auch, dass der Weg zum Erfolg in Deutschland durch das Beherrschen der deutschen Sprache und des weiter Studierens übergeht. Die schwere Arbeit härtete mich dermaßen ab, sodass ich ganz genau wusste, was ich machen wollte. Ich beabsichtigte, meine ganze Energie dafür einzusetzen, an mein Ziel zu kommen. Jedes Hindernis schien mir überwindbar zu sein. Der Weg durch das dunkle Tal lehrt uns immer etwas.
Glücklicherweise wohnten meine neuen Arbeitgeber, Erika und Paul (Name geändert), auch in Durlach. Ausgerechnet am ersten Tag, nachdem Paul erfuhr, dass ich nicht weit entfernt von ihnen wohnte, fragte er mich, ob ich morgens mit ihm auf den Karlsruher Großmarkt fahren möchte und könnte. Ich akzeptierte sofort, ohne hin und wieder. Natürlich wurde ich besser bezahlt, aber der Nachteil daran war, dass ich ab dem jenen Tag um 3 Uhr morgens aufstehen musste. Ich lief zu Fuß bis in die Nähe eines Ladens namens „Spar“, bis zu unserem vereinbarten Treffpunkt, und dort wartete ich geduldig auf Paul. Ich war immer pünktlich, kurz vor vier kam ich am Treffpunkt an. Paul dagegen verspätete sich immer. Was ist mit der deutschen Pünktlichkeit passiert? Gibt es überhaupt noch so etwas?
Dem Spar gegenüber befinden sich Häuser. An einem Fenster sah ich jeden Morgen um die frühe Uhrzeit ein Licht. Aus einem guten Grund schaltete jemand dieses Licht an. Das Fenster war manchmal auf. Aber ich merkte keine Bewegung im Haus und hörte keine Stimmen. Es war tot still. Dieses Licht am Fenster stellte für mich ein wichtiges Zeichen dar. Mitten in meinem schwierigen und absurden Versuch, illegal und unter harten Bedingungen zu arbeiten, gab es ein Licht. Das Licht als Symbol für Hoffnung auf Rettung aus einer absurden Lage. Ich schaute mir jeden Morgen das Licht an und dachte weiter an meinen Erfolg. Ich schmiedete Pläne. Wenn ich dieses Licht nicht gesehen hätte, so hätte ich jeden Morgen keinen neuen Mut gefasst.
An einem Morgen wartete ich, wie immer, am vereinbarten Treffpunkt auf Paul. Ich schaute auf die Armbanduhr und merkte, dass Paul sich wieder verspätete. Ein vorbeifahrender Polizeiwagen näherte sich mir zu und hielt nur ein paar Meter von mir. Wegen des Spar Ladens und eines potenziellen Ladeneinbruchs kontrollierte die Polizei die Gegend und befragte die verdächtig herumstehenden Personen. Unglücklicherweise waren meine Deutschkenntnisse nicht so gut. Anders gesagt: ich traute mich nicht lange Deutsch zu sprechen, aus Angst ich könnte Fehler machen oder stottern. Die zwei Polizisten, die im Auto saßen, ließen die Scheibe runter und fragten mich:
- Guten Morgen! Was machen Sie hier?
- Ich warte auf einen Freund, erwiderte ich.
Im gleichen Moment tauchte Paul mit seinem Bus auf und bremste vor mir. Unglaublich, aber wahr. Es war ein Wunder. Anschließend fragten mich die Polizisten:
- Ah, Sie gehen arbeiten?
- Ja, erwiderte ich wieder beängstigt und stieg in den Bus ein.
Ich stand kurz vorm Ohnmachtfallen. Mein ganzer Körper zitterte. Wenn sich Paul noch ein paar Minuten verspätet hätte, so hätten mich die Polizisten nach meinem Ausweis oder Pass gefragt. Und sie hätten herausgefunden, dass ich nicht da sein sollte. „Wo ist Gott?“ fragen viele. Laut Robert H. Schuller ist Er Mitten in solchen traurigen und absurden Ereignissen, Er bereitet einen Regenbogen für uns vor, einen Ausweg.
Diesmal sagte ich die Wahrheit. Ich musste nicht lügen. Aber ein andermal sah ich mich gezwungen, die Wahrheit zu entstellen. Ich befreundete mich mit einem Mann aus dem Elsass, der Michel Larivière (Name geändert) hieß. Ich lernte ihn über meine Schwester kennen. Ein ziemlich netter Kerl, aber nicht so ambitioniert. Aus Mangel an Ambitionen gelang es ihm nicht große Geschäfte zu machen, obwohl er ein guter Handwerker war. Er hatte riesige Schulden bei der Bank und seine zukünftigen Pläne waren sehr verschwommen. Er verwaltete seine Geldeinnahmen sehr schlecht und geriet oft in Geldnot. Da ich aus Mangel an gültigem Visum eine neue Identität brauchte, schlug ich ihm vor, mir seinen französischen Pass zu verkaufen. Ich bot ihm 250 DM an. Nach gründlichem Überlegen akzeptierte er es. Danach stellte ich damit etwas an, was ich lange Zeit bereute. Ich versuchte den französischen Pass von Michel zu verfälschen. Das Foto von Michel habe ich abgenommen und durch mein Foto ersetzt. Ich erkannte den Ernst der Sache nicht. Ich war überglücklich, dass ich eine gültige Identität hatte.
An einem schönen Morgen ging ich zur Straßenbahnhaltestelle. Von dort aus fuhr ich jeden Morgen mit der Bahn auf den Markt. Als ich das Haus verließ, sah ich auf der anderen Straßenseite einen Polizeiwagen. Ein paar Tage zuvor verschwanden Sachen aus dem Keller des Hochhauses, wo ich und meine Schwester wohnten. Die betroffenen Anwohner benachrichtigten die Polizei, dass es im Hause Diebe gäbe. Jetzt bewachte die Polizei das Gebäude. Ich überquerte die Straße und näherte mich mit langsamen Schritten der Straßenbahnhaltestelle. Plötzlich hörte ich aus dem Dunkel eine Stimme, die mir sagte:
- Halt! Kommen Sie bitte zu mir!“
Ich konnte den Polizisten zwar nicht sehen, aber ich identifizierte die Richtung, von woher die Aufforderung kam. Innerhalb von Sekunden begann ich zu zittern, wie das Blatt eines Baumes im Wind. Ich ging auf ihn zu.
- Wie heißen Sie? fragte er mich.
- Michel Larivière
- Ah, Sie sind Franzose. Oui?
- Oui, ja
- Sie können jetzt zur Haltestelle gehen. Danke schön. Tschüß
- Tschüß.
Das ist die Geschichte der heiligen Lüge. Nicolae Steinhardt log die Kommunisten an, um seinen Freunden keine Schwierigkeiten zu bereiten. Ich war gezwungen zu lügen, um meine Schwester vor Gefahren zu beschützen, um vorankommen zu können. Die Lüge an sich war absurd und ich bereue sie. Ich will nicht, dass mich jemand für so ein Benehmen lobt. Das ist nicht meine Absicht. Ich will nur zeigen, was passieren kann, wenn Menschen rechtlich begrenzt werden, wenn das Milieu, wo wir wohnen, uns zu einer solchen Tat quasi zwingt.
„Ich habe einen Traum“. (Titel eines Artikels der deutschen Zeitung „Die Zeit“) In meinem Traum sehe ich einen großen Kontinent namens Europa. Auf diesem Kontinent gibt es keine Grenzen mehr. Die Bürger können sich frei bewegen, vom Norden nach Süden und vom Westen nach Osten. Alle haben die gleichen Rechte, egal wo sie hingehen. In meinem Traum brauch niemand falsche Geschichten oder falsche Identitäten, damit er oder sie etwas im Leben leisten kann. Man ist überall willkommen. Die Vereinigten Staaten von Europa werden allmählich Realität. Das ist der Kontinent, wo ich leben will.


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