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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2008-06-25 | |
„Mit seinen mährischen Landsleuten aufgewachsen, ist er mit deren Wesen, Fühlen und Wollen derart verbunden, daß sie ihn bis zuletzt nicht loslassen. Ja die innere Verbundenheit wächst noch mit den Jahren, die er von diesem Land und seinen Leuten getrennt lebt.“ Das können wir nachlesen beim österreichischen Philosophen und Psychologen Roman Roček (*1935). Er spricht hier von einem der „am meisten vernachlässigten Autoren der österreichischen Literatur“: Jakob Julius David (1859 - 1906).
Diesbezüglich haben die Banater Schwaben es etwas leichter, sie sind mit ihren Landsleuten ausgewandert. Aber trotzdem scheint auch bei vielen von ihnen „die innere Verbundenheit“ mit Land und Leuten des Banats „noch mit den Jahren“ zu wachsen. Dabei entstehen oft interessante Anteilnahmen an Werdegängen von weltfremden Menschen, denn wie gesagt, die verlassenen Leute sind hier keine Landsleute, sondern Rumänen, zu denen man wenig oder gar keinen Kontakt hatte, ja man erfährt vielleicht von ihrer Existenz erst jetzt. Das Bindeglied zu diesen Leuten ist das Land, die Region, die Stadt, das Dorf. J. J. Davids literarische Figuren waren Handwerker und Landarbeiter, die in Wien um die 20. Jahrhundertwende „rasch verproletarisierten“ und unter dem völligen Verlust ihrer Identität und zwischenmenschlicher Kommunikation litten. Hundert Jahre später haben ausgesiedelte Banater Schwaben dichte Kommunikationsnetzwerke aufgebaut, die einem virtuellen Dorf ähneln. Das Telefon ist für viele – besonders für die ältere Generation - das wichtigste Kommunikationsinstrument. Es ersetzt die „Gassereih“, den Pendlerzug, den Kirchenvorplatz oder das Wirtshaus. Die Landsleute sind gemeinsam weggezogen, aber das Land ist geblieben. Und jene Menschen, denen man noch vor einigen Jahren mehr oder weniger zurückhaltend, hie und da auch arrogant, begegnete, sind jetzt die Landhalter. Sie füllen das aus mit Fleisch und Blut, Freud und Leid, Niederlagen und Erfolgen, was ausgesiedelte Banater Schwaben nicht missen können: das Land in den Köpfen. Was liegt da näher, als unbewusst nicht nur Beobachter, sondern plötzlich sogar geistiger Teilnehmer einer märchenhaft anmutenden Geschichte zu sein, die aus eben diesem Land, mehr noch, aus eben diesem immer noch als Heimat empfundenen Dorf kommt? Die Euro 2008 ist noch nicht vorbei und die Rumänen sind ausgeschieden. Dabei hätten sie so viel erreichen können. Davon ist auch meine Schwiegermutter überzeugt und sie hatte wahrlich mehr Grund als ich, mitzufiebern. Ihr Bekannten- und Verwandtennetzwerk hat auch diesmal hervorragend funktioniert. Aus Rastatt hat sie die Mitteilung bekommen, dass diese Nummer 8 bei den Rumänen ein Jahrmarkter, heute muss man wohl sagen, ein Giarmataer sei. Die Art, wie sie das sagte, verstrahlte einen Hauch von Empathie im Zimmer. Das war keine falsche Gefühlsduselei, sondern ein einfacher, naiver Geistessprung zurück in das Dorf unserer Herkunft. Jahrmarkt/Giarmata. Die Großeltern des rumänischen Nationalspielers Paul Codrea wohnen noch immer in der Johannigasse. Johannigässler haben die Nachricht in Rastatt am Rhein verbreitet und es bedurfte nur Minuten, bis sie auch in Ingolstadt an der Donau ihre Wirkung nicht verfehlte. Auch bei mir nicht, das gebe ich gerne zu, obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht weiß, um wen es sich konkret handelt. Das war mir auf echt bayrisch auch Wurscht. Irgendwie verspürte ich plötzlich eine undefinierbare Anteilnahme an der Fußballkarriere dieses jungen Mannes, der da kurz vor der Pause des Länderspiels Holland – Rumänien den Ball übers gegnerische Tor jagte. Er hätte mit einem erfolgreichen Abschluss sowohl Italiener wie Franzosen nach Hause schicken können. Und er kommt aus Jahrmarkt wie meine Schwiegermutter und ihr weit verzweigtes Kommunikationsnetz, wie ich selber. Ich schneide mir ohne jedwedes Schamgefühl ein Stück aus der einem Missgeschick geschuldeten Berühmtheit dieses „Tricolors“, wie die Rumänen ihre Nationalspieler nennen, ab, auch wenn er gar kein hundertprozentiger Jahrmarkter ist. Geboren wurde Paul Codrea am 4. April 1981 in Temeswar/Timişoara. Sein Vater spielte zu der Zeit Fußball in Jahrmarkt. Leider ist er frühzeitig verstorben, als Paul erst acht Jahre alt war. Eine Frau und zwei Halbwaisen blieben zurück, ein Junge und ein Mädchen. Der kleine Paul wollte das werden, was sein Vater war: Fußballer. Maria Codrea erkannte und respektierte die tiefe Sehnsucht ihres Buben. Sie brachte ihn nach Jahrmarkt zu den Großeltern und zur Fußballmannschaft des Dorfes. Wer das Dorf kennt, weiß, dass von der Johannigasse zum Fußballplatz am Strand nur ein Katzensprung ist. Große Karrieren verlaufen selten geradlinig. Für den fußballverliebten Jungen fing diese schon steinig an. Der damalige Jahrmarkter Trainer Dobîndă – bekannte rumänische Fußballnamen der 1960er und 70er Jahre sollten den Aufstieg des Jungen mit Jahrmarkter Wurzeln begleiten oder durchkreuzen - musste von Frau Codrea auf das Talent ihres Buben aufmerksam gemacht werden. Sie schrieb den 10-Jährigen dann auch ins Temeswarer Sportlyzeum Banatul ein. Dort kam er unter die Fittiche der bekannten Poligröße Vasile Gaboraş. Ein Glücksfall, erinnert sich Codrea heute. Sein erster Posten in der Kindermannschaft war der des Libero, dann rückte er vor ins defensive Mittelfeld. Als 13-Jähriger spielte er bei den 16 Jahre alten Junioren. Dabei ist Paul Codrea heute noch ein Leichtgewicht mit seinen 69 kg bei einer Größe von nur 174 cm. Das sagt einiges über seinen Ehrgeiz als Jugendspieler, wo die Physis noch eine größere Rolle spielt als bei den Senioren, aus. Hier sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Paul Codrea bei aller Liebe zum Fußball die Schule nicht links liegen lies und die Sporthochschule in Temeswar absolviert hat. Wie brutal und gewinngesteuert das Profifußballgeschäft ist, sollte der Jungfußballer schon mit 15 Jahren zumindest erahnen, wenn er die Hintergründe auch noch nicht durchschauen konnte. Von 1991 bis 1996 kickte Paul beim unterklassigen Verein LPS Banatul Timişoara. Von hier kaufte Dinamo ihn mit 6.000 Dollar. Der Vertrag enthielt eine Klausel, die dem Temeswarer Verein einen fünfzehnprozentigen (15%)Verkaufsanteil im Falle eines Weiterverkaufs ins Ausland zugestand. Zwei Jahre lang ließen die Sportsfreunde von Dinamo den Jungen auf der Reservebank schmoren und wollten ihn dann Poli Temeswar für 50.000 Dollar verkaufen. Die wollten das heimische Gewächs aber nicht. Die richtige Nase hatte dann der Spielerimpresario Ion Becali. Der verlieh den kaum den Kinderschuhen entwachsenen Paul Codrea dann für eine Saison doch an Poli – wahrscheinlich kam er so billiger – und dann für anderthalb Jahre an FC Argeş. Bei Dinamo debütierte Paul Codrea in der A-Liga, der ersten rumänischen Liga. Cornel Ţălnar gab ihm im Spiel gegen Ceahlăul Piatra NeamÈ› eine Chance. Das Spiel wurde von den Bukarestern 4:1 gewonnen und der in der 80. Minute eingewechselte 16-Jährige schoss ein „türkisches Tor“, also er traf lediglich das Außennetz. Trotzdem war diese Zeit für den Jungen aus dem Banat – „Ihr wisst doch wie wir Banater sind, etwas ruhiger.“ – alles andere als fördernd. Mit 200 Euro/Monat haben die Herren vom Ştefan-cel-Mare-Sportkomplex ihn abgespeist. Cosmin Contra, heute auch Nationalspieler, hat ihm damals öfter aus der finanziellen Not geholfen. Zu Poli gekommen, hat dann Iosif Rotariu sich um den „puştan“ (Spitzbuben) gekümmert. Paul Codrea spielte in der zweiten Liga durch. In Piteşti hatte er dann in der Spielzeit 1999 /2000 seine beste rumänische Zeit, obwohl er es gleich mit drei Trainern zu tun hatte: Mihai Zamfir, Florin Halagian und Marian Bondrea. Die Jahrtausendwende brachte für den 19 Jahre alten Mittelfeldspieler die erste Einberufung in die Nationalmannschaft. Ladislau Bölöni war der Verursacher. Natürlich gingen diesem Debüt viele Einsätze in der Junioren- und der Jugendnationalmannschaft voraus. Mit den drei EM-Spielen bringt Codrea es auf 35 Länderspiele. Paul Codrea, „centrocampist “ des AC Siena Im gleichen Jahr 2000 zahlte FC Genoa 2,75 Millionen Dollar für Paul Codrea. Somit kennen wir auch das teuerste Menschenkind mit Jahrmarkter Wurzeln. Von den 15% für LPS Banatul ist kein müder Cent geflossen. Um diesen acht Jahre zurückliegenden Transfer in die italienische Serie B kümmert sich heute noch die rumänische Antikorruptionsbehörde. Codreas Fußballkarriere führte weiter durch die Vereine US Palermo, AC Perugia, AC Torino und seit 2006 AC Siena. Jetzt war Paul Codrea da, auf dem Bildschirm. Und er hat mehr bewirkt, als er sich wahrscheinlich je vorstellen könnte. Menschen in verschiedenen Altersstufen haben es ihm zu verdanken, dass sie einmal mehr die Johannigasse, den Strand und den Fußballplatz und wer weiß was nicht noch alles vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen lassen konnten. An anderer Stelle schreibt Roman Roček: „Irgend etwas von den alten Ordnungen ist noch nicht völlig abgelebt. Es schlüpft in Gebärden und Gesten und nimmt im Café Platz. Irgendein alter Trompetenton hat sich im Ohr verfangen und reißt nachts aus dem Schlaf. Irgendwer geht um. Und man weiß: es ist die Vergangenheit.“ |
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