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Sitten- und Werteverfall
artikel [ Gesellschaft ]
Kolumne 4

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von [Delagiarmata ]

2004-01-15  |     | 



Die Nachtschicht hat sich schon damit rumgeschlagen. Ein technisches Problem verursacht an einer Maschine fehlerhaftes Bearbeiten von Werkstücken. Die Ausschusszahl bleibt konstant hoch. Schlosser, Elektriker und Führungspersonal stehen ratlos um die Maschine. Die Köpfe rauchen, zumindest zum Schein. Irgendwann löst sich die Gruppe auf. Die Produktion läuft vorerst mal so weiter.

An dem Fertigungssegment, zu dem die betroffene Maschine gehört, arbeiten zwei Kollegen. Der ältere hat gut 30 Arbeitsjahre auf dem Buckel, der jüngere ist erst seit etwa drei Jahren in der Firma. Nachdem auch der letzte Instandhalter den Tatort verlassen hat, stoppt der ältere Maschinenbediener die Maschine, öffnet die Schutztür und schaut sich in aller Ruhe das Innere der Anlage an.

Er sieht bald, was bei einer Umbaumaßnahme vor etwa zwei Tagen (ein Sonntagseinsatz) an einer Führungsleiste (neben anderen Eingriffen) verändert wurde. Das könnte es sein. Die Leiste ist zu starr, sie muss leicht beweglich bleiben, um dem Index die Zentriermöglichkeit zu lassen. Vier gelöste Schrauben, vier entfernte Distanzklötze, und die Maschine läuft einwandfrei, mit einer Ausschussrate gleich Null. Die Routine hat es der Theorie wieder mal gezeigt. Wirklicher Arbeitsalltag spielt sich immer noch in der Praxis ab.

Der jüngere Kollege schlich die ganze Zeit mit angespannten Sinnen um die Maschine. Er sah alles, hörte alles, sagte nichts. Dann nahm er sich einen VV-Bogen (Verbesserungsvorschlagsformular), füllte ihn aus und reichte ihn bei seinem FGL (Fertigungsgruppenleiter) ein. Er schlug zum Lösen des Ausschussproblems genau das vor, was sein älterer Kollege eben an der Maschine gemacht hat.

Unabhängig von der Bewertung dieses VVs (selbst für eine Ablehnung gibt es noch Euros) bleibt die Frage nach der moralischen oder besser gesagt amoralischen Antriebsfeder dieses Verhaltens spannend? Woher kommt diese fast kriminelle Neigung zur Aneignung (Diebstahl) fremden Ideenguts, woher diese Nonchalance zum offenen, geradezu verächtlichen Handeln vor den Augen des konsternierten Kollegen, woher die ungezügelte Geltungssucht, woher die Respektlosigkeit vor der Leistung eines Arbeitskollegen u.s.w.?

Die Ursachen eines solchen Verhaltens sind wohl nie voll und ganz ergründbar. Sie werden in den Biografien der Protagonisten ebenso zu finden sein wie in den gesellschaftlichen Grundwerten und in so manchen Betriebsphilosophien von Unternehmen, die sich mehr und mehr in wahre Zahlenräusche versteigen.

Eine dieser der Öffentlichkeit gerne präsentierten Zahlen bezieht sich auch auf die Inovationskraft und –bereitschaft der eigenen Mitarbeiter. Dafür eingeführte Prämiensysteme führen nicht nur zu positiven Produktionseffekten, sondern eben auch zu miesen Ellenbogenmentalitäten.

Der Luxemburger Ökonom Guy Kirsch (65) schreibt in einem Essay über „Die müßige Geschäftigkeit“ unter anderem: „In dem Maße, wie auch nichtquantifizierbare Tatbestände von Belang sind, führt der Zahlenfetischismus dazu, dass die Situationsanalysen und damit auch die Entscheidungen wichtige Aspekte vernachlässigen.“ Ein vernachlässigter Aspekt wäre im Falle der gnadenlosen Jagd nach „quantifizierbaren“ Verbesserungsideen das davon beeinflusste „nichtquantifizierbare“ Arbeitsplatzklima.

Dem älteren Mitarbeiter wurde der Sitten- und Werteverfall einer Gesellschaft, die den Wert einer Tätigkeit an den daraus resultierenden Aufstiegschancen misst, mit erbarmungsloser Offenheit vorgeführt. Sein jüngerer Arbeitskollege konnte, auf sein Verhalten angesprochen, darin überhaupt keine (zumindest moralische) Unrechtmäßigkeit erkennen. Im Gegenteil: er beklagte sich, dass man heutzutage alles geheim halten müsse, um dem Kollegenneid zu entgehen.

Ingolstadt, Dezember 2003

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