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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2008-04-27 | |
Als Wulf Kirsten 2005 den 13. Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung bekam, schrieb Jan Völker Röhnert im RHEINISCHEN MERKUR über den 1934 in Klipphausen geborenen Sachsen: „Trotz der zahlreichen Honneurs, die Autor und Werk in den letzten Jahren zuteil geworden sind, entging doch den meisten Kritikern die ungebrochene Dynamik der Kirstenschen Poesie. Bezog der Band Stimmenschotter (1993) bereits neue Gegenden – etwa Siebenbürgen und das Banat – in seinen Radius mit ein, der von der Signatur der politischen Wende ohnehin nur erweitert, nicht erschüttert werden konnte, so bündelte Wettersturz (1999) Erinnerung, Gegenwart und bewegte Landschaftsperspektive zu monolithischen Textblöcken, ...“
Ohne Wettersturz zu kennen, finde ich, dass „Erinnerung, Gegenwart und bewegte Landschaftsperspektive“ durchaus auch für Stimmenschotter zutreffend sind. Schotterhaufen lagen in den 1970er Jahren viele in den Straßen der Banater Dörfer. Sie dienten zum Betonmischen. Bauen - Neubauen oder Anbauen – war angesagt. Wie Schotter hat Wulf Kirsten Stimmen zusammengeschaufelt und zu Stimmenschotter-Haufen geformt: Gedichte 1987 – 1992. Sie sind wirklich bautauglich, die Stimmen einer Landschaft. Ihre Vielzahl und ihre Unterschiedlichkeit machen die Landschaft erst aus und poetisch eingefangen und geformt reifen sie zu dem, was man Mecklenburg, Banat, Siebenbürgen, Sachsen usw. nennt. Man stelle sich einen „tagträumer, der ganze Nachmittage lustvoll vertrödelt / und begeistert den wolkenbildern nachsah“, vor. Das ist er „selbst“, Wulf Kirsten. So (selbst)betrachtet, muss er ein friedlicher, sich in einer überschaubaren Welt wohlfühlender Zeitgenosse sein, dessen Mikrokosmos desto trotz von Lebendigkeit geprägt ist. Mehr Alltag als Weltgeschichte passt eben besser in eine kleine Welt. Der Grillenfänger, die Mutter im Gespräch mit Lorenz, auch die Gartenschnirkelschnecke, wie das (frühere) Landvolk auf dem herrschaftlichen Gespann und viele, viele ihresgleichen bilden in Kirstens Gedichten eine bezaubernde Welt, die der Essayist Röhnert „Heimat ohne Blut und Boden“ nennt. Beim Poeten mündet diese kleine Welt in „muttersprache“, aber auch in so manche aphoristische Wortspielerei inmitten nachdenklich stimmender Texte, die auch in einem Essayband stehen könnten. Wie etwa: „ ... was am morgen / noch glänzte, ist am abend verblichen, außen beglissen, / innen beschissen, / die schaumschläger führen den rührbesen / beflissen ... “ Und sein Blick zieht Kreise, konzentrisch um sich selbst. Seine Innenwelt mündet in die Umgebung hinter dem „grasverfilzten wiesenhang dorfaus“ (selbst): „die eisenbahnerstadt“, der „steinbruch“, „die landschaft mit schweifkuppeln“, „der bärenhügel“ ... und Luther. Kommt ein Tagträumer überhaupt ohne Geschichte(n) aus? Wohl kaum. „wo aber bleibt die reine poesie?“, sorgt sich Wulf Kirsten ob so viel Geschichte. Kein Grund zur Besorgnis. Sie ist doch hier, in seinem Stimmenschotter, zum Teil noch unberührt im Flussbett liegend, teils aber auch zu Schotterhaufen zusammengeschaufelt. Ohne etwas direkt zu benennen, deutet Wulf Kirsten die Folgen einer Gott sei’s Dank untergegangenen Staatsdoktrin an: „im handgepäck / die kleinen wortrechte, / ausgesiedelte lebensgeschichten, / gewissenhaft totgeschwiegen.“ Das sind aber auch Erfahrungen, mit denen man Gleichgeschädigten verständnisvoll begegnen kann: „geflügelte wollhauben abgeweht ins transilvanische weltall wie herrenlose / dankopfer vom altar des vaterlands, verloren an eine zukunft.“ Natürlich wissen auch gestrige Banater noch, wie es war, als „punkt zehn [als] die stadt jählings erblindete“; und auch das Klirren der Maisfelder, „als schlüge blech gegen blech“, bleibt ihnen auf Lebzeiten vertraut. Die Suche nach der reinen Poesie führt bei Wulf Kirsten über den Schotter der Vielstimmigkeit, die immer wieder in überraschende und melodische Wortkreationen fließt: „grüngefiedert“, „das flurengefühl versteppt“, „scheunengenister“ usw. Das sind Wortzeugnisse einer tiefen, ehrlichen Naturverbundenheit. Auch die Erinnerung bleibt ein vortrefflicher Poesiestoff. Wer heuer 74 Jahre alt wird, hat die schlimmste Zeit des verflossenen Jahrhunderts als Kind durchlebt. Traumatische Schäden sind bei Wulf Kirsten nicht zu diagnostizieren, aber seine Sensibilisierung für von Menschen Menschen zugefügtes Leid findet in seiner Dichtung ihren Niederschlag: „schlottermann ließ seine kranke frau / im straßengraben liegen , / damals, auf der flucht, / und konnte sich und seine kinder retten. [...] vor den Russen zog er / wie die andern alle. / angst und eile.“ Wulf Kirstens letzter Kreis, weit von sich „selbst“, aber im Geiste doch vereint, umschreibt die „poetologie“ anhand von Beispielen, schrecklichen, verdammniswerten Dichterschicksalen. Der Kreis umschließt die Erkenntnis, dass Poesie die Welt nicht verändern kann, von Machthabern aber immer wieder gerne instrumentalisiert wird und für den Dichter tödlich enden kann. Poetologie als Todesfazit. Schrecklich. Was Dichter nicht schaffen, können aber Märtyrer erreichen. Wulf Kirsten setzt seinen Zunftgenossen ein poetisches Denkmal in Stichworten und beendet damit seinen Gedichtband Stimmenschotter: Kljujew, Perez Dawidowitsch Markisch, Boris Kornilow, Zwetajewa, Mandelstam, Anna Andrejewna Achmatowa, FrantiÅ¡ek Halas, Konstantin Biebl, ZaviÅ¡ Kalandia, Jan Zahradniček. Als Wulf Kirsten meine einstige Heimat im „balkansommer“ 1987/1988 bereiste, waren die Schotterhaufen in den Banater Gassen verschwunden und das Land lag in einer tiefen Lethargie. Heute werden bestimmt wieder welche aufgetaucht sein; von Menschen aus fernen Flussbetten herangeschafft, Menschen, deren jetzt zweite Heimat vormals meine erste war. Sie feiern heute (27. April 2008) Ostern, orthodoxe Ostern, heuer lange nach meinen katholischen. Und ich denke an „die nackte erde draußen tief zerklüftet, / mit äxten gespellt.“ (balkansommer). Wulf Kirsten: Stimmenschotter, Gedichte 1987 – 1992; Amman Verlag & Co. Zürich, 1993, ISBN 3-250-10206-7; 103 Seiten, 16,90 Euro |
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