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Vom „Talk“ zum „talke“
artikel [ Bücher ]
Salman Rushdie: Mitternachtskinder – Roman

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von [Delagiarmata ]

2006-04-15  |     | 



„Talk“ bedeutet laut einem Englisch-Deutsch-Wörterbuch Gespräch, Unterhaltung. Aus einer banatschwäbischen Dorfmundart kennt man das Verb „talke“. Wenn einer in einem Gespräch, in einer Unterhaltung ziemlich viel unnötiges Zeug redet, dann „talkt“ er. Stellenweise ist der „Talk“, den Salman Rushdie mit dem Leser führt, ein wahrlich unterhaltsames Gespräch, aber leider sind andererseits die Seiten, auf denen in diesem Wälzer nur „getalkt“ wird, viel zu zahlreich.

„Ich wurde am 15. August 1947 in Dr. Narlikars privatem Entbindungsheim geboren.“ So stellt der Ich-Erzähler Saleem Sinai sich vor. Was folgt ist eine quälende Lebensgeschichte eines 31 Jahre alten Mannes im Völkermeer Indiens.

Erst muss die Geschichte des Großvaters Aadam Aziz, ein Arzt mit absolviertem Studium in Heidelberg, für einen biographischen Unterbau herhalten. Er heiratete die Grundbesitzerstochter Naseem Ghani, die im Verlauf der Geschichte nur als Ehrwürdige Mutter agieren wird. Die Familie lebte in Agra und hatte drei Töchter, Alia, Mumtaz und Emerald, sowie die Söhne Hanif und Mustapha.

Mittendrin erfahren wir dann, um was es sich hier eigentlich handelt. „Und meine Chutneys und Kasaundis stehen schließlich in einem Zusammenhang mit meinem nächtlichen Geschreibsel – tags inmitten der Pickleskessel, nachts inmitten dieser Bogen, verbringe ich meine Zeit mit dem großen Werk des Konservierens. Erinnerung wird genau wie Obst vor der Verderbnis der Uhren gerettet.“

Und so geht es mit dem wahrhaftigen „Geschreibsel“ weiter: Hochzeit Mumtaz’ mit Nadir Khan und zum zweiten mal mit dem Kunstlederhändler Ahmed Sinai. Das Paar zog nach Delhi. Hier wurde der Held des Romans aber noch nicht geboren. Das geschieht dann in Bambay, um Mitternacht, am Tag der Unabhängigkeit Indiens.

Was folgt, ist ein schier nie enden wollender Versuch des Ich-Erzählers, sich im Zusammenhang mit großen geschichtlichen Ereignissen in schicksalhafte Gestalter- oder mindestens Beeinflussungsposition zu bringen. Das ist stellenweise ganz drollig, verhallt aber durch das ewige Vor und Zurück im Handlungsaufbau meist resonanzlos.

Dabei ist ein Spannungsansatz durchaus feststellbar. In jener Nacht des 15. August 1947 werden zwei Babys im Entbindungsheim vertauscht. Also ist der Ich-Erzähler gar nicht der Sprössling der Familie, deren Geschichte er letztendlich erzählt. Das ganze ist weniger kompliziert, als vielmehr ermüdend, und das liegt wiederum weniger am Handlungsaufbau, sondern vielmehr an der vertrackten Erzählweise aus der Sicht eines Kindes, das zwar immer irgend etwas mitbekommt, aber daraus keine klaren Schlüsse ziehen kann. Als hätte der Autor die Schwierigkeiten des Wachbleibens der Leser erahnt, führt er dauernd Kurzfassungen des bisher Geschehenen ein. Das erinnert stark an den Aufbau des Alten Testaments.

Ein Kapitel beginnt mit der Feststellung: „Realität ist eine Frage der Perspektive; je weiter man sich von der Vergangenheit entfernt, desto konkreter und plausibler erscheint sie – aber nähert man sich der Gegenwart, erscheint sie unvermeidlich immer unglaublicher.“ Ein klares Bekenntnis zum magischen Realismus scheint das zu sein. Alles was in diesem Roman geschieht, ist von Magie durchwoben. Es passieren viele verrückte Sachen, weil sie eben immer in der Fantasie eines Kindes umgedeutet werden. Für Erwachsene würden diese Vorfälle das Feld des Realen nie verlassen.

Nun scheint dieser Ich-Erzähler in seiner geistigen Entwicklung wahrlich keine besonderen Fortschritte zu machen, so dass diese vertrackte Interpretation der Welt bis zu seinem einunddreißigsten Lebensjahr immer neuen Nährboden findet. Die Familie zieht zwischendurch nach Pakistan, geht im pakistanisch-indischen Krieg zugrunde und unser Held kehrt als einziger Überlebender nach Indien zurück, was seiner Wahrnehmungsfähigkeit der Realität aber auch weiterhin nicht förderlich zu sein scheint.

Wer nun wirklich wissen will, was es noch an mit normalem Menschenverstand nicht erklärbaren Vorfällen gab – wie zum Beispiel die Militäreinsätze unseres Helden, seine Identitätsabrakadabras, Entmannung u.s.w. -, muss sich durch 736 Seiten arbeiten. Wenn er das geschafft hat, darf er stolz sein „ein Buch der Bücher, das indische Pendant zu Gabriel Garcia Márquez ‹Hundert Jahre Einsamkeit› und zur ‹Blechtrommel› von Günter Grass“ (FRANKFURTER RUNDSCHAU) gelesen zu haben. Trotz allem: Ein schlankerer Aufbau wäre diesen „Mitternachtskindern“ bestimmt sehr gut bekommen. Mehr fließender „Talk“ und weniger überflüssiges „talke“ hätte diesem Roman zum Spender wahren Lesevergnügens verhelfen können, denn wie gesagt, die Geschichte hat es in sich.

Salman Rushdie ist einer der großen Literaten der zeitgenössischen Weltliteratur. Er wurde am 19. Juni 1947 in Bombay geboren. In Cambridge studierte er Geschichte. Durch die 1988 über ihn verhängte Fatwa wurde er mit seinen „Satanischen Versen“ weltberühmt. Zwangsweise lebte er inkognito zehn Jahre in England, um sich dann in New York niederzulassen.

Weitere Bücher von Salman Rushdie in deutscher Übersetzung: Heimatländer der Phantasie - Essays und Kritiken (1992), Osten, Westen – Essays (1995), Der Boden unter ihren Füßen – Roman (2000), Grimus – Roman (2001), Wut – Roman (2002), Überschreiten Sie diese Grenze! – Schriften (2004), Harun und das Meer der Geschichten (2005), Des Mauren letzter Seufzer – Roman (2006), Shalimar der Narr – Roman (2006).


Salman Rushdie: Mitternachtskinder, Roman, Deutsch von Karin Graf; Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbeck bei Hamburg, 2005; ISBN 3-499-23832-2; € 9.90

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