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■ Umgeben von Schweigen
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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2020-04-03 | |
99 Kolumnen habe ich hier auf dieser Internetplattform seit dem 18. November 2003 veröffentlicht. Das hier ist die hundertste. Darüber bin ich alt geworden, ein Risikogruppenmitglied, könnte man in Pandemiezeiten wie der jetzigen sagen. Mein Enkel und meine Enkelinnen (bei mir heißt das: „mein Junge und meine Mädchen“) sollen nicht zu mir kommen. Aus dem Sollen ist längst ein Dürfen geworden. Natürlich habe ich dafür volles Verständnis. Welcher Elternteil sorgt sich nicht um das Wohlergehen seiner Sprösslinge? Dabei müsste ich dieses Verständnis gar nicht aufbringen, denn die Infektionsgefahr verläuft doch, nach dem Wissensstand der Virologen, eher in entgegengesetzter Richtung: von den Enkeln zu den Großeltern. Also muss ich geschützt werden. Dazu bedarf es meinerseits aber wieder eines Verständnisses. Nur halt eines anderen. Es ist die Sorge um meine Gesundheit, die meine EnkelInnen von mir fernhält.
So weit, so gut. Wir sind alle in Quarantäne: meine Kleinen und ich. Unterschiedlich ist wahrscheinlich nur die Sehnsucht. Graduell natürlich und entgegengesetzt, wohl indirekt proportional: Während ihre mit der Zeit sinkt, steigt meine in ähnlich hohem Maße. Also, was macht Opa in solchen Fällen: Er erinnert sich an das alte Akkordeon im Keller. Ein Weltmeister, dessen Herstellerfirma es schon lange nicht mehr gibt. Erst mal entstauben, dann dem pessimistischen Blick der Oma widerstehen – sie behauptet nämlich, das Instrument würde „muffig riechen“ - und probieren. Off, steife Finger. Aber gleich Aufgeben war eigentlich noch nie Opas Sache. Doch was spielen? Es sind 50 Jahre ins Land gegangen. Aber da war doch diese Polka im klassischen 2/4-Takt: f' Achtel punktiert - c' Sechzehntel - f' Achtel – a' Achtel / a'&c" Halbe / usw. Ja, doch, es geht, langsam, aber Takt für Takt besser. Es formt sich eine Melodie. Und mit ihr kommt die Erinnerung: Banat, Kulturheime, Kirchweihfeste, Mädchen. Wie hieß sie nur, diese Polka, die eigentlich in keinem Notenheft stand und trotzdem immer wieder gespielt wurde, oft nach Mitternacht. Ich versuche und versuche. Oma hat sich ein Stockwerk höher in Sicherheit gebracht. Natürlich hat sie etwas versäumt: meine Verwandlung zurück zum Jugendlichen und die Atmosphäre auf den Bühnen der Banater Dörfer und Städte: Wiseschdia, Gottlob, Jahrmarkt, Reschitza, Temeswar u.a. Von Heimat verbliebene Nostalgie – natürlich verklärt. Wichtig ist, die Fingermotorik entspannt sich dabei. Sie wird nie wie früher, aber sie funktioniert und mit ihr entsteht die Melodie, Takt für Takt. Ich habe schon das Trio geschafft – nach einem Dur-Wechsel – und bin glücklich. Ein glücklicher Opa. Und mit dem letzten Teil des Stückes steht auch plötzlich der Name da: „30 Tage Kasernarrest“. Grammatikalisch falsch, aber so und nicht anders im Hirn eingemeißelt. Und so soll es auch bleiben. Schließlich ist sie, diese Polka, die von irgendwo ins Dorf kam, ohne Komponist und ohne Noten, Volksmusik in Reinkultur. Und somit Heimat von anno dazumal. Und so spielte ich weiter und weiter und immer wieder da capo. Bis Oma sich runter traute. Sie muss wohl einen melodischen Zusammenhang erkannt haben. Und wer weiß, vielleicht rührte sich auch in ihrem Herzen etwas. Sie griff zum Smartphone und drückte auf den Aufnahmeknopf. Dann flog die Polka schneller als der böhmische Wind ins staatlich verordnete „Kasernarrest“ von Vincent, Leonie und Hannah. Es ist das Coronavirus SARS-CoV-2, das uns zu etwas merkwürdigen, ja sonderbaren Verhaltensweisen treibt. Es nimmt uns, Omas & Opas, die Enkel weg und beschert uns komische Verhaltensweisen tagsüber, aber auch in der Nacht. Das letzte Morgengrauen war schon spürbar, als ich noch immer einer Symphonie auf BR KLASSIK mit halbem Ohr lauschte. Da war ein unergründbares Schweben in meinem Kopf. Ich spürte eine in mir aufsteigende Angst. Man soll sich anderweitig beschäftigen, wenn man nicht schlafen kann, habe ich in einer APOTHEKENRUNDSCHAU gelesen. Ich griff nach dem Buch auf dem Nachtkästchen und las: "Noch eine Viertelstunde / bis zum Läuten, / genau eine Viertelstunde, / dann geht ein Gebimmel los, / von dem wir verdammt nichts wissen, / denn wir sind keine Schulkinder mehr / sondern auf dem offenen Meer, / das heißt mitten im Ozean, / und da muß doch etwas / eigens für uns läuten." [Marin Sorescu / Ü: Oskar Pastior]. Ich habe den Papst gesehen und seinen virusbedingten Segen „Urbi et Orbi“ vernommen. Der Platz vor dem Petersdom war leer, nicht nur menschenleer, auch sinnentleert. Von wo soll da die Hilfe kommen? Danach habe ich mir die Pandemie-Fallzahlen des Robert Koch-Instituts für den gleichen Tag angeschaut. Das Institut stellt, wie andere auch, Statistiken auf. Es ist genauso hilflos wie der Papst. Was bleibt, sind wir, Omas & Opas ohne Enkel, Menschen ohne Arbeit, ohne Kunst, ohne Sport, ohne Literatur - mit immer kürzeren Kolumnen, von denen jede die letzte sein kann. Und die Hoffnung? Sie stirbt auch in Pandemiezeiten zuletzt und liegt in Vincents Antwort auf dem Smartphone: „Super! Opa Musik spuit.“ [Ingolstadt, 2020] Anton Potche Video zu diesem Text auf YouTube: Anton Potche - 30 Tage Kasernarrest - 13.04.2020 |
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