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Tod des Sokrates
prosa [ ]

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von [Friedrich_Dürrenmatt ]

2004-02-23  |     |  Veröffentlicht von Nume



Platon, ein introvertierter Intellektueller, beschloss, eine Welt zu verändern, die er verachtete. Aber er wusste nicht wie. Er war unpopulär, politisch chancenlos, verwandt mit den spartafreundlichen Diktatoren Kritias und Charmides, die bei der demokratischen Gegenrevolution ums Leben gekommen waren. Er war ein Aristokrat, eminent kurzsichtig, hochtrabend und steif. Er hasste die Athener mit ihrer Demokratie, und besonders hasste er Sokrates. Aus Eifersucht. Dieser war dick und hässlich, aber populär und ein stadtbekanntes Original. Die Bildhauerei hatte er aufgegeben. Er lebte von seiner Frau Xanthippe, die ein Antiquariat unterhielt, wie sie hartnäckig ihr Antiquitätengeschäft nannte. Sie war eine grosse stattliche Frau mit einer einst blonden Mähne, der sie ihren Namen verdankte: blondes Pferd. Sie war praktisch und grosszügig. Sie lebte in der Küche hinter ihrem Antiquariat, die sie offenbar nur verliess, wenn ein Kunde kam oder wenn sie neue Ware ausstellte. Sokrates trieb sich tagsüber in der Stadt herum, verwickelte jedermann in aberwitzige und manchmal höchst unsinnige Gespräche. Er kam bei den aristokratischen schwulen Bengeln in Mode, die durch Athen flanierten und sich über die Demokratie lustig machten. Sokrates kümmerte sich nicht um Politik. Er behauptete, er wisse nichts, und wies jedem nach, dass dieser auch nichts wisse. Es gehörte zum guten Ton, ihn einzuladen. Er verkehrte in den besten Familien. Er fehlte bei keinem Gelage. Er war ungeheuer trinkfest. Wenn alle betrunken herumlagen, wanderte er durch die Räume und nahm eine Vase oder eine kleine Statue an sich. Xanthippe verkaufte sie im Antiquariat. Es wurde berühmt für seltene Stücke. Die Bestohlenen schwiegen. Sokrates war Sokrates. Man lud ihn immer wieder ein und wurde immer wieder bestohlen. Nur als die berühmte Hetäre Diotima einmal lachend erzählte, sie habe in Xanthippes Antiquariat einen kleinen Phidias doppelt so teuer wieder erstanden, als sie ihn seinerzeit von Phidias gekauft habe, wobei sie der Meinung gewesen sei, der Phidias, ein Herakles, stehe immer noch bei ihr, dachte Platon daran, die Polizei zu bitten, Xanthippes Antiquariat zu besichtigen, aber dann überlegte er sich, was klüger sei, die Popularität des Sokrates auszunützen oder zu zerstören. Er suchte Sokrates auf. Ob er seine Tragödien gesehen habe, fragte er ihn. Er habe mitgepfiffen, antwortete Sokrates. Es seien eben mehr Lesestücke, meinte Platon, aber sicher kenne Sokrates seine Gedichte. Die fadesten Verse, die je über Knaben geschrieben worden seien, brummte Sokrates. Na ja, gab Platon zu, Lyrik sei nicht seine Stärke. Aber seine Dialoge! Der Philosoph Protagoras habe sich sehr lobend über sie geäussert. Seine Dialoge mit der aristokratischen Haute volee interessierten niemand, sagte Sokrates. Eben, gab Platon zu, populär müsste man sein. Sokrates sei populär. Aber er vergeude seine Gespräche. Dazu seien sie da, lachte Sokrates. Niemand schreibe sie auf. Würden sie aufgeschrieben, würde Sokrates weltberühmt, gab Platon zu bedenken. Er wolle sie aufschreiben. Sokrates betrachtete Platon misstrauisch. Was hatte der hochmütige und etwas linkische Aristokrat vor? Als Honorar biete er hundert Drachmen im Monat, fügte Platon bei. Der Vorschlag sei ihm zu undurchsichtig, meinte Sokrates und wollte sich schon abwenden. So sei Sokrates nicht mehr von Xanthippe abhängig und von einem Antiquariat, das die Polizei vielleicht einmal näher untersuchen könnte, bemerkte Platon noch wie beiläufig. Eine Drohung? fragte Sokrates. Eine Warnung, antwortete Platon. Sokrates zuckte die Achseln. Keiner beklage sich, wenn er etwas mitgehen lasse, das sei sein Honorar, er unterhalte die Gastgeber schliesslich. Aber dann überlegte er. Schön, sagte er. Hundert Drachmen für Xanthippe. Aber mitgehen lasse er weiterhin etwas. Platon machte sich an die Arbeit, ersetzte in seinen Dialogen Platon durch Sokrates und gab "Protagoras, Ion, Laches, Lysis, Charmides, Gorgias, Symposion usw." heraus. Riesenerfolge. Besonders das "Symposion" wurde ein Bestseller. Die Athener waren begeistert. Sie hielten sie für wirkliche Dialoge des Sokrates. Dieser las nicht, was Platon schrieb. Es war ihm gleichgültig. Er redete, das genügte, warum noch lesen, was er geredet haben sollte? Aber Xanthippe blieb misstrauisch. Die Dialoge seien lebendig, aber viel zu edel, sagte sie zum Komödiendichter Aristophanes, und was er da von Diotima erzähle, sei ganz unglaubhaft. Sie kenne Diotima, sie sei eine dumme Gans. Aristophanes antwortete nicht, schlürfte seine Suppe aus. Seine Komödie "Die Wolken", worin er Sokrates verspottete, hatte diesem gefallen, und sie waren Freunde geworden. Nun war er alt und hatte aufgehört, Komödien zu schreiben. Ob es wahr sei, dass Sokrates ihn am Schluss des "Symposions" unter den Tisch getrunken habe, fragte Xanthippe. Sokrates trinke jeden unter den Tisch, antwortete Aristophanes ausweichend. Er wollte ihr nicht sagen, dass Platon das "Symposion" erfunden hatte. Wenn sie nur die Absicht Platons wüsste, die er mit seiner Schriftstellerei verfolge, sagte Xanthippe und schöpfte Aristophanes Suppe nach. Sie traue Platon nicht. Er gebe sich als Sokrates. Wozu? Was führe er im Schilde? Er sei ein Weltverbesserer, und Weltverbesserer seien gefährlich. Xanthippe hatte recht. Frauen haben immer recht. Platon fühlte sich als Sokrates in Sicherheit. Er konnte es wagen. Die Welt musste verändert werden. Er musste einen Staat gründen, der jeder Veränderung trotzte. Die Veränderung war das Schlimmste, jede Veränderung entfernte sich von der Idee. Die Idee allein war unveränderlich. Der Staat musste die Idee der Gerechtigkeit verwirklichen, um unveränderlich zu sein. Der Staat ist aus Menschen zusammengesetzt. Das Unveränderliche am Menschen ist die Seele. Der Staat muss der gerechten Seele entsprechen. Die Seele ist gerecht, wenn die Vernunft den Mut aufbringt, den Trieb zu beherrschen. Auf den Staat übertragen: Die Philosophen als die Vernünftigen müssen herrschen, und das Volk als das Triebhafte hat zu gehorchen. Aber zwischen den Herrschenden und den Beherrschten muss es noch die Muthaften geben, die Wächter, die dafür sorgen, dass die Beherrschten gehorchen. Wenn ein Staat so funktioniert, entspricht er der Idee der Gerechtigkeit und ist unveränderbar. Der Staat ist nicht für den Einzelnen da, sondern der Einzelne für den Staat. Privateigentum ist untersagt, Frauen und Kinder sind unter Freunden gemeinsam. Die wichtigste Aufgabe des Staates ist die gymnastische und musische Erziehung der Wächter. Homer und die Tragiker sind verboten, Militärmusik erlaubt. Nach einer Schilderung der Erziehung der Philosophen und nach einem erneuten Angriff auf die Dichtkunst schloss Platon seine zehn Bücher der "Politeia" mit der Schilderung des Lebens nach dem Tode im Jenseits, wo jeder seine Belohnung oder Strafe empfängt, um dann für seine Seele ein neues Leben zu wählen. Das alles stellte er als die Lehre des Sokrates dar. Er war überzeugt, die Athener damit überreden zu können, ihre Verfassung zu ändern und seine Staatsform zu akzeptieren. Aber die "Politeia" wurde ein Misserfolg. Zu kompliziert und zu schwerfällig. Zu reaktionär. Sparta war ein liberales Staatsgebilde dagegen. Die Kritik war verheerend. Platon sah sich als Politiker vorerst gescheitert. Aber er gab nicht auf. Er begann sich für seine Idee einzusetzen. Er mietete das Theater des Dionysos. Doch statt der erwarteten fünfzehntausend kam nur Aristophanes. Er sass in der obersten Reihe und schlief ein. Trotz seines Schnarchens redete Platon vier Stunden lang. Beim zweiten Vortrag kamen drei. Der Philosoph Meletos, der Politiker Anytos und der Literaturkritiker Lykos. Sie unterbrachen den Vortrag Platons schon nach einer Viertelstunde. Es sei nicht anzuhören, was er da vorbringe. Die Ideen seien nichts Seiendes, sondern nur Gedachtes, sagte der Philosoph Meletos. Er identifiziere sich auf eine Weise mit dem Dialog des Sokrates, dass man annehmen müsse, die "Politeia" sei nicht von Sokrates, sondern von Platon, mutmasste der Literaturkritiker Lykos. Die politischen Ideen, die in der "Politeia" vorgetragen würden, seien antidemokratisch. Die Gerechtigkeit bestehe in der Gleichheit aller vor dem Gesetz, stellte der Politiker Anytos fest. Platon widersprach. Er wollte seine Fiktion retten, Sokrates sei der Verfasser. So würden sie Sokrates anklagen, durch seine gefährlichen Lehren die Jugend zu verführen, kündigte der Philosoph Meletos an. Wie schon Kritias und Alkibiades verführt worden seien, ergänzte der Politiker Anytos. Dann würden sie sehen, ob Sokrates dabei bleibe, die "Politeia" vorgetragen zu haben, höhnte der Literaturkritiker Lykos. Es kam zum Prozess. Sokrates musste die Verteidigungsrede auswendig lernen und dazu noch vier verschiedene Reden, eine für den Freispruch, eine für den Strafantrag, eine nach der Verbannung und eine nach dem Todesurteil. Er lernte mühsam. Aristophanes hörte ihn ab. Sokrates brachte immer wieder die Reden durcheinander. Xanthippe befürchtete das Schlimmste. Sie hatte wieder Recht. Sokrates verlor im Areopag den Prozess. Platon brachte ihr persönlich die Nachricht ins Antiquariat, wo sie eben einen kleinen Apoll von Praxiteles abstaubte. Xanthippe hörte ruhig zu, was Platon berichtete. Kein Wunder bei dieser Verteidigungsrede, warf ihm Xanthippe vor. Sie habe sie oft genug anhören müssen. Sokrates habe den Text verwechselt, antwortete Platon kühl, den Vorschlag auf eine ehrenvolle öffentliche Speisung im Prytaneion hätte er nach dem Freispruch, nicht nach dem Schuldspruch machen sollen, das Gericht sei sich verhöhnt vorgekommen, es hätte darauf nur das Todesurteil fällen können, um seine Würde zu bewahren. Überhaupt habe sich Sokrates nicht an den Text gehalten. Statt den Athenern die "Politeia" zu erklären, habe er sich nicht entblödet, dem Gericht aufzutischen, er sei vom Orakel in Delphi als der Weiseste der Menschen bezeichnet worden. Dabei wisse jeder, dass die Pythia seine Tante sei, Sokrates habe sich das Todesurteil selber zuzuschreiben. Er, Platon, hoffe nur, dass Sokrates seinen nächsten Text besser lerne. Zeit sei genug vorhanden. Das Festschiff nach Delos sei eben ausgelaufen, und erst wenn er zurückkehre, müsse Sokrates den Schierlingsbecher trinken. Aber als dieser im Gefängnis von Platon den Text bekam, den er vor seinem Tode sprechen sollte, weigerte er sich. Wenn er schon sterben müsse, wolle er nicht noch Text lernen. Was heisse sterben, rief Platon aus, wenn Sokrates unsterblich werde! Er brauche nur den dafür bestimmten Text auswendig zu lernen. Der gehe in die Weltliteratur ein, eine einmalige Chance. Sokrates blieb störrisch. Er pfeife beim Sterben auf Literatur. Da mischte sich Aristophanes ein. Er habe Platons Text gelesen. Sokrates sage darin vieles, was einen nachdenklich mache, besonders was er vom Leben nach dem Tode erzähle. Alles Quatsch, sagte Sokrates, tot sei tot. Wahrscheinlich, fuhr Aristophanes fort, auch die drei unterirdischen Flüsse Acheron, Periphlegeton und Kokytos seien geographisch anzuzweifeln, aber im grossen und ganzen sei es ein Text, den man Sokrates, bevor er den Schierlingsbecher trinke, zutraue. Aber eben, Aristophanes runzelte die Stirn, erstens, nur wenn Sokrates nachher auch wirklich sterbe, und das sei schade, und zweitens, nur wenn Sokrates fähig sei, den Text auswendig zu lernen, und das halte er für ausgeschlossen. Beim Zeus, klagte Platon, jetzt habe er den "Phaidon" umsonst geschrieben. Dabei habe er an keinem Dialog so gefeilt. Es gebe einen Ausweg, sagte Aristophanes, er werde den Text lernen und den Sokrates spielen. Die beiden andern waren verblüfft. Dann müsste Aristophanes ja auch den Schierlingsbecher trinken, gab Sokrates zu bedenken. Warum nicht? erklärte Aristophanes trocken. Der Vorschlag sei von Platon gekommen. Dionys, der Tyrann von Syrakus, sei von der "Politeia" begeistert und habe Sokrates eingeladen, bei ihm nach seinen Ideen den Staat einzurichten. Platon habe ihn, Aristophanes, schon gefragt, ob er nicht anstelle des Sokrates den Text lerne und sterbe, der "Phaidon", wie der Dialog heisse, mache einerseits Sokrates unsterblich, wenn dieser sterbe, andererseits sei das Angebot des Dionys eine Chance, die Idee der "Politeia" zu verwirklichen, aber nur wenn Sokrates nach Syrakus flüchte. Er, Aristophanes, habe geantwortet, er wolle sich das mit dem Sterben überlegen, und nun habe er es sich überlegt. Er sei aus der Mode gekommen. Athen sei eine Provinzstadt geworden und seine Politik provinziell. Ungeeignet für Welttheater. Nur noch private Konflikte kämen an. Eheprobleme. Weltschmerz. Nostalgie. Er sei zum Gespött der Kritiker geworden, seine Komödien würden als Klamauk abgetan. Er sei nur noch ein Objekt für die Literaturgeschichte. Es sei höchste Zeit, dass er etwas Nützliches tue. Er werde die Regie des "Phaidon" selber übernehmen, die Hauptrolle in der Maske des Sokrates spielen und den Schierlingsbecher trinken. Sokrates protestierte. Es sei an ihm zu sterben. Aber nicht mit diesem Text, widersprach Aristophanes. In ihm rede ein Sokrates, der von Platon erfunden worden sei, er rede so wie er im "Symposion" und in der "Politeia" rede. Es seien höchst artifizielle Gespräche, schwierig, all die Unsterblichkeitsbeweise der Seele und erst die seitenlange Beschreibung der Erde, der Unterwelt und des Lebens nach dem Tode! Und das alles wolle Sokrates auswendig lernen ? Dabei habe er sich schon durch seine Textunsicherheit ein Todesurteil eingehandelt. Das wäre ganz in Ordnung, wenn Sokrates ein Schauspieler wäre, dann hätte er den Tod verdient. Aber er, Aristophanes, wisse, was ein Schauspieler zu können habe, und es sei für ihn als Komödienschreiber kein würdigerer Tod denkbar, als in der Maske des Sokrates zu sterben. Es sei höchste Zeit, dass der Sokrates Platons sterbe und der Sokrates des Sokrates weiterlebe. Er wünsche ihm in Syrakus alles Gute. Aristophanes schwieg. Sokrates fügte sich in sein Schicksal. Aristophanes liess aus Theben die Schauspieler Kebes und Simmias kommen und probte mit ihnen den Dialog. Seine Regie nannte er poetischen Realismus. In der Zelle war es ziemlich dunkel. Er hatte Maske gemacht, so dass ihn die eingeladenen Athener für Sokrates hielten. Sie folgten atemlos dem Gespräch des Simmias und des Kebes mit dem zum Tode Bereiten. Aristophanes spielte grandios. Als der Mann mit dem Schierlingsbecher eintrat, weinten alle, dann trank Aristophanes, ging hin und her, und als seine Beine schwer wurden, legte er sich hin, und als sein Unterleib erkaltet war, deckte er sich noch einmal auf und sagte zum alten Kriton, der ihn noch immer für Sokrates hielt, er schulde dem Asklepios einen Hahn, machte noch eine Bewegung und verschied. Aristophanes wurde als Sokrates verbrannt, ganz Athen sah zu, wie sich die Rauchwolke im Blau des Himmels auflöste, während Sokrates mit Xanthippe und Platon auf einem korinthischen Frachtschiff nach Syrakus unterwegs war. Xanthippe führte die besten Stücke ihres Antiquariats mit, Phidiasse, Praxitelesse, Gemälde von Eupompos und Thimantes, mykenische Vasen und Mischkrüge, Klassikerausgaben, korinthische und persische Textilien. Doch Platon hatte sich verrechnet. Zwar hielt auch Dionys dessen Ideen für jene des Sokrates, aber auf seine Art. Dionys hatte sich eine Söldnerarmee aus ganz Italien zusammengekauft. Er herrschte mit Schlauheit, hetzte die Bürger aufeinander und verschanzte sich in der Burg Euryalos. Er brauchte Sokrates propagandistisch. Ein Herrscher imponiere, der mit einem Philosophen verkehre. Aber Platon wollte Dionys zu einem Philosophen machen, um seine Staatsidee zu realisieren. Er fragte ihn, wie es um seine mathematischen Kenntnisse stehe, und dieser antwortete verwundert, zum Rechnen sei sein Sekretär Damokles da, und als Platon von ihm Tugendhaftigkeit verlangte, liess er ihn als Geisel festnehmen, von einem aristokratischen Geizkragen war ein saftiges Lösegeld zu erpressen. Tugendhaft hatten die Beherrschten zu sein, nicht die Herrscher. An Sokrates dagegen fand Dionys Gefallen. Sie pokulierten zusammen nächtelang in der Festung Euryalos. Ob denn Dionys wisse, was herrschen sei, wollte etwa Sokrates wissen. Herrschen sei Menschenkenntnis, war die Antwort. Was dann aber Menschenkenntnis sei, war die Gegenfrage. Menschenkenntnis sei eben Menschenkenntnis, antwortete Dionys, das könne einer nicht lernen, das könne einer, oder einer könne es nicht. Was einer nicht sagen könne, was er könne, wisse nicht, was er könne, folgerte Sokrates. Er wisse nicht, was herrschen heisse und herrsche, lachte Dionys, und alle lachten, weil es unhöflich war, nicht zu lachen, wenn Dionys lachte. Dann hörte er plötzlich auf zu lachen, schaute finster. Alle erschraken und lachten nicht mehr. Da musste Dionys wieder über ihre Furcht lachen, und alle lachten aus Höflichkeit wieder. Nur Sokrates tafelte ruhig weiter. Leider hatte Dionys einen Schwur getan, jeder müsse sterben, der ihn unter den Tisch trinke. Sokrates trank Dionys unter den Tisch. Sokrates musste nun doch den Schierlingsbecher trinken, Dionys erwartete einen grossen Spektakel und mietete zum Tode des Sokrates das Amphitheater von Syrakus. Alle Syrakuser erschienen, die Aristokraten, die Offiziere, die Bürger, ja sogar den Weibern wurde erlaubt zu kommen. Aber Sokrates trank den Schierlingsbecher schweigend. Dafür sprach Xanthippe. "Syrakuser! Ihr habt einen Mann sterben sehen, von dem ihr dabei grosse und tiefe Worte erwartet habt, eine Rede über den Sinn des Todes und womöglich eine Aufklärung darüber, was uns, die wir alle einmal sterben, nach dem Tode erwartet. Ihr wurdet enttäuscht. Sokrates hat geschwiegen. Statt seiner rede ich, Xanthippe, nun zu euch. Sokrates war mein Mann, und sein Schweigen gibt mir das Recht, in einer Welt, in der sonst die Weiber schweigen, zu reden, um so mehr, als ich zu Wesen rede, die alle von Weibern geboren sind, das einzig sichere, denn wer seine Mutter war, weiss jeder, und sei sie eine Hure gewesen. Aber seinen Vater? Er ist bei vielen von euch ungewiss, leben wir doch, ist es Frieden, in einer Welt des Ehebruchs, so dass von vielen unter euch nur eure Mutter euren Vater kennt, und, ist es Krieg, in einer Welt der Vergewaltigung, in der nicht einmal eure Mutter euren Vater kennt, und es ist meistens Krieg. So dass ich nicht weiss, ob ich zu Syrakusern, Karthagern oder Oskern rede, es gibt eben Fragen, die sich nicht beantworten lassen. Das wusste auch Sokrates. Nicht dass es Fragen gegeben hätte, auf die er keine Antwort gewusst hätte, etwa auf die Frage, ob er ein guter Bildhauer sei oder ein schlechter: Er liess das Bildhauern sein, und viele hätten es auch gelassen, hätten sie sich diese Frage je gestellt. Auch auf die Frage, welcher Wein der beste und wie er zu mischen sei, wusste er zu antworten, aber vor allem verstand Sokrates, sich selber zu sein. Sokrates blieb Sokrates, eine Fähigkeit, welche die wenigsten Männer besitzen, zuerst sind sie Kinder, dann werden sie Männer, und wenn sie Männer geworden sind, werden sie Politiker, Feldherren, Dichter, Helden oder sonst etwas, nur nicht sich selber. Sie sind keine Männer mehr, sie spielen Männer, während wir Frauen Weiber bleiben, wenn wir Mütter, Hetären oder Huren werden. Sokrates dagegen spielte nicht Sokrates, er blieb das, was er seit Anbeginn war, Sokrates. Er wusste, dass er nichts wusste, und darum fragte er einen jeden, was er wisse. Er fragte Handwerker, Philosophen, Astronomen, Politiker, er fragte und fragte, bis niemand mehr eine Antwort wusste, niemand von den Handwerkern, Philosophen, Astronomen und Politikern, die er fragte, so dass er immer wieder vor dem ungeheuren Meer des Nichtwissens stand, worin alle Fragen münden und wo es unsinnig ist, weiter zu fragen, denn je mehr man zu wissen glaubt, desto unermesslicher wird dieses Meer. Er war überzeugt, Unrecht zu erleiden sei besser, als Unrecht zu tun. Darum tat er nichts. Er war von einer göttlichen Faulheit. Er hielt sich aus und liess sich aushalten. Sein war ihm alles, Wissen nichts. Er schaute jeder Hetäre und jedem hübschen Knaben nach. Er liebte gutes Essen und trank gern. Und nun hat er euren Tyrannen unter den Tisch getrunken. Dafür musste er sterben. Er nahm sein Todesurteil gelassen hin. Es sei in Ordnung. Es sei die natürliche Folge seiner Trinkfestigkeit. Jeder andere, der ebensoviel getrunken hätte wie er, wäre schon längst an der Leber gestorben. Er trinke den Schierlingsbecher getrost. Er habe ihn verdient. Sokrates starb als Sokrates. Ich bin stolz, seine Frau gewesen zu sein. Syrakuser, ich scheide nun von euch. Ich nehme Platon mit mir. Ich habe ihn vom Erlös freigekauft, den ich vom Antiquariat erzielte, das zu errichten mir Sokrates ermöglichte. Auch durch seine Trinkfestigkeit. Platon ist das erste Stück meines neuen Antiquariats. Ich werde ihn doppelt so teuer verkaufen, als ich hier für ihn gezahlt habe. Er ist ein Original. Er glaubt, dass er weiss. Er hat Sokrates nach seinem Bilde beschrieben: Einen Sokrates, der nicht wusste, dass er nichts wusste. Lebt wohl."

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