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■ Eine Krone von Veilchen
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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2024-09-21 | |
Noch vor einiger Zeit hätte er Lucian die pure Wahrheit gestanden: dass er es geschafft hatte eine Fassung eines Dramas mit der Überschrift „Medeea“ auszuleihen, das er liebend gerne, fern allen Tumultes in einer ruhigen Ecke nur für sich, schmökern wollte, und an dem er nachher seinen eigenen Schreibstil an einem Chor daraus, in der Handschrift Euripides versuchen mochte. Diesen, letzten Ehrgeiz zu verraten, konnte er sich nur gegenüber seines besten Freundes vorstellen. Aber jetzt, da er das Mistrauen in Lucians Augen entziffert hatte, wurde er zu stolz ihm diesen noch zu eröffnen.
„Kann ich nicht wenigstens eine einzige Stunde für mich selbst bekommen, ohne dir dafür Rechenschaft zu zollen?“ „Oh, so viele du wünscht! Ich sehe dich am betreffenden Tag wieder.“ Also hatten sich keine Übungsausritte mehr ergeben, obwohl sie sich wohl noch an den Nachmittagen bei den Spielen wieder über den Weg gelaufen waren, doch anlässlich derer Lucian es immer geschafft hatte, von einer Gruppe anderer Typen umgeben zu werden. Alexis konnte sich selbst also auffangen, an drei freien Abenden, an denen er jedoch nicht so viel Vergnügen fand, wie er es erhofft hatte. Er las „Medeea“ zwei Male und lernte die Passagen auswendig, die ihm am meisten zusagten. Alsdann begann er selbst eine Tragödie über Patroklus und Achilles aufzusetzen, in welcher er seine eigenen angestauten Gefühle einfließen ließ, wodurch er in einer Weise Freiheit empfinden konnte, nicht zu sehr allerdings. Danach stand das Rennen vor der Tür. Die Form der Rennbahnen zeichnete gewissermaßen einen Diamant nach. Es begann vor einem kleinen Schrein, der Posseidon geweiht war, in der Nähe der Phalerum Bucht, verlief schier gänzlich in Richtung Norden bis zu den Langen Mauern, welche die Stadt mit der Hafenstadt verbanden, und zweigte sodann in westlicher Richtung ab gegen das Itonianische Tor, den Wendepunkt des Rennens. Hier sollte Alexis, der die Nummer Fünf zu reiten bereit war, seinen Fackelstumpf über- und entland der Phalerum Strasse abwärtstrabbend mitnehmen. Nach etwa fünf Achtelmeilen würde seine Fackel an Lucian zu übergeben sein, und weiter war sie zwei anderen, älteren Junggesellen bestimmt, die den letzten Abschnitt bis zu dem Schrein des Seegottes zurücklegen wollten. Das Rennen war dicht nach Sonnenuntergang angesetzt worden, wenn die Fakeln gut sichtbar wurden, allerdings würde es noch nicht sehr dunkel und somit gefährlich zum Anreiten sein. Manche der eisern und sehr mutwillig daherkommenden Zuschauer – die Pferdefreunde, Eltern und nächsten Freunde der verschiedenen Renner und Reiter – gingen schon aus hin zu der Reitbahn oder zum Start, beziehungsweise dem Ziel entgegen. Die meisten Meschen, nichtsdestoweniger, begnügten sich damit das Rennen nur am Wechselpunkt vom nächstmöglichen Aussichtspunkt zu beobachten, und die beiweitem größte Anhäufung einer Zuschauertraube begann sich, westwärts, um das Itonianische Tor zu bilden. Sie lehnten an die Ramparte, spähten auf die Markierungen im Feld hinaus - dahin, woher die Dächer des Schreines unter den Zypressen herabschauten – oder sie kamen bis heran, an den Rennbahnrand, um eine nähere Begutachtung der Pferde vorzunehmen. Alexis stand somit an Star´s Kopf, um den lichten Fleck an ihrer kastanienbraunen Nase zu streichen, und wünschte sich nichts anderes dabei, als einen anderen Rennbahnabschnitt zugeordnet bekommen zu haben denn denjenigen, wo er die Fackel – so wie es aussah – unter den kritischen Blicken der ganzen versammelten Stadt zu übernehmen hatte. Zumindest war sein Vater nicht dabei – jedoch war es aus irgendeinem Grund für ihn genauso schwierig. Er und Theo, der Lucian beim Reiten ebenfalls zuschauen wollte, hatten sich zum nächsten Wechselpunkt wendend die Beine austreten wollen. Fast jeder andere, den er kannte, bis hin zu den vom Sehen Bekannten, schien sich am Itonianischen Tor wie ein Bienenschwarm herum zu trollen. Hippias war anwesend. Das war keine Überraschung. Jede Art von Reitbeschäftigung, geschweige denn ein Rennen, zog seine Faszination an. Er streunte in der Gegend zwischen den Protagonisten des Wettkampfes auf und ab wie ein Schneekönig, hob hie ein Hufen als ob es zu inspizieren, ab, warf da irgendeine eine Frage über das Pedigree ein. Alexis wurde zur Salzsäure als er sich näherte. Hippias, der an diesem Abend in voller Mannesgröße, in einem silbergrauen Mantel und mit strahlend rot-schimmernden Stiefeln ein Staunen hervorrief, kam an die Stute von der anderen Seite herangeschritten, seine weiße, glatte Hand wie zur Begrüßung über ihre Flanken führend, als wäre sie sein Eigentum. Konnten es die Pferde denn immer wissen? Lucian gefiehl es zu behaupten, dass sie es taten. Dann hätte Star ihre Ohren zurücklegen sollen und ihre vorderen Zähne zeigen! Doch sie tat es nicht. Sie mochte die striegelnde Bewegung dem Anschein nach und schwang ihren ganzen Kopf nach unten um den Mann zu beschnuppern, der sie ihr gab. So weit also, beobachtete Alexis ganz nur für sich selbst, ist es daher mit der Unterscheidung von einem menschlichen Charakter im Pferdesinn. „Keine schlechte, kleine Stute,“ begann Hippias in einem bestimmenden Ton. Er stockte, als er sah dass er den junge Mann erkannte, der ihr Halfter festhielt. Alexis gab ihm ein unentwegtes Anstarren. „Ziemlich erstaunlich – die Sorte von Personen, die heute so Divisionen zureiten,“ murmelte Hippias derb und stapfte weiter. Alexis kannte die Bedeutung dieser Bemerkung: Bürger aus der höheren Bevölkerungschicht hatten Zugang zu einem Militärdienst in der Kavalerie, denn sie konnten ihre eigenen Tragetiere selbst versorgen. Ihnen waren die ehrenvollen Plätze in öffentlichen Prozessionen bereitet, so dass sie sich als eine aparte Klasse dünkten. Wenn Hippias das Sagen haben sollte, würden nur die Söhne von solchen Männern aus dieser Oberschicht zunächst für einen Fackelausritt herausgesucht werden. Die Sonne war hinter den letzten, schmalen Horizonlinien des Aegaleus untergegangen. Das Ziegelrot und gelbe Schwaden von warmem Sonnenlicht, das noch aufleuchten konnte, floss vom Abendhimmel. Ein schwaches Grün, aufgepießt von einem einzigen silbernen Stern, kam auch schon langsam, um den Platz im vorbeigleitenden Licht einzunehmen. Bald würde die Trompete vom Ausreitpunkt, dem Start des Rennen, ertönen. Er musste sich wieder von seinen Gedanken befreien, um Hippias und sein Grinsen zu vergessen. Er musste um so besser reiten, um Hippias zu zeigen, das lediglich eine hohe Geburt und Reichtum nicht immer den besten Pferdemann ergaben. „Komm schon, Mädel, stetig, Mädel,“ raunte er seiner Stute beruhigend zu. Jemand hielt ihm eine Steigehand, und er sattelte auf einer quadratische Decke, stuppste Star leicht mit seinen Ferse an, um sie heraus aus dem Zwinger an die Reitbahnen zu bewegen. „Bleibt da stehen,“ erbaten sich die Rufe der Reittrainer, doch vorläufig schien niemand ihre Meldungen zu vernehmen. Sobald die ertönende Trompete aus der Entfernung den Beginn des Rennens ankündigte, und die Fackellichter im Dunkelwerden sich in Auf- und Abwärtsbewegungen befindend gesehen zu werden anfingen, da würde es an der Zeit sein, die Bahnen für die Pferde zu räumen. Zehn aufgeregte Jungen saßen in ihren Stellen oben auf den Pferderücken mitten unter einer größer werdenden, umher streunenden, schwatzenden Menge. Plötzlich wurde Alexis Hippias gewahr, der jetzt keine fünf Armeslängen entfernt, mit dem Rücken zu ihm, angestellt war. Seine affektierte Fistelstimme war zu einem kaum hörbaren, vertraulichen Murmeln herabgesunken. Normalerweise sprach er als ob er sich nicht kümmerte, wenn ihn die ganze Welt vernahm, ja so als ob, er ziemlich erpicht darauf war, ihr die Wohltat zu gönnen, seine Meinung zu hören. Nun, allerdings, sprach er so leise, dass Alexis nur die sonderbare Aussage zu Ohren kamen: „ – unheimlich gefährlich!“ Für einen Augenblick dachte Alexis, dass er nur das Rennen meinen könnte. Manche der Eltern hatten sich gewundert, ob es eine gute Idee sei, dass unerfahrene Jungen im finster-Werden über die Landschaft ausreiten und gar gallopieren sollten. Dennoch war Hippias kein Elternteil. Vielleicht meinte er damit ein besonders wertvolles Pferd, das er vermietet hatte und von dem er wünschte, er habe es nicht getan? Die Antwort seines Gegebübers jedoch ließ ihn diese Vermutung fallen lassen. „Es war das Risiko nicht wert. Ohnehin, ist in dieser geschwundenen Helligkeit nicht viel zu verfehlen – es wird unwiderruflich dunkler.“ So –so, umso dunkler, desto sicherer, wie? Alexis hatte etwas aufgeschnappt, nichtsdestoweniger war das alles, was zu aufzupicken war. Es war eine denkwürdige, beifäallige Bemerkung – und da blieb auch noch eine andere Unklarheit. Der Mann mit welchem Hippias die Worte gewechselt hatte, trug den breitkrempigen Hut eines Bauern, als Merkmal tief in sein Gesicht gezogen. Was für ein Bürger würde schon einen solhen Hut wie den – welcher Städter würde überhaupt einen Hut, außer in dem schlechtest möglichen Wetter oder auf einer langen Reise tragen? Trotzdem war die Stimme des Mannes, so fern Alexis sie richtig vernehmen konnte, eine fein-gepflegte und von Hippias mehr respektierte, als der Letztere einen Bauern behandelt hätte. Brachten sie ein unnützes Werk in die Gänge, das die Rennen betraf? Es schien eine einleuchtende Idee. Hippias könnte den Charakter treffend bezeichnen, der bei Wettspielen täuschte und er schien auch sehr willensstark dahinte zu stehen, dass sein eigenes Paar das Rennen gewänne, wenn schon es wirklich ein ziemliches Gerangel sein musste, bei so anerkannten Jahreswettläufen unter allen bekannten Sportereignissen. Und daher, bei zehn Mannschaften, die antraten, auf achtzig galoppierenden Pferden insgesamt, welche Möglichkeiten einen Trick anzuwenden, um einen Sieg seines eigenen Teams einzuheimsen, hatte man schon? Wie immer war Alexis entschlossen, seine Augen dafür offen zu halten, wie Hippias uns sein Kompangnon einen geeigneten Augenblick dafür hätten finden können. Kaum hatte die Trompete angeschlagen, sofern man ihren Ton über die Ländereien im Zwielicht noch schwach hören konnte, als auch schon ein Murmeln durch die Menschenmassen erklang. „Räumt die Bahnen!, “ riefen die Stewards, während sie die Reitgerten herumwirbelten. „Da geht es lang!“, schrieen die Leute in den Schanzen an den Bahnen. „Seht die Fackellichter!“ Bald schon konnten sogar diejenigen, welche an den Wegrändern standen, die aufblinkenden Flammstreifen und –Punkte, welche wie Lichterketten durch die dunkler-werdenden Landstreifen huschten, rechts und links ausmachen. Bald sollte immer je einer für en paar Augenblicke hinter einer Baumgruppe verschwinden oder unter einem Abhang versinken – bald sollten zwei oder drei wie ein lohender Komet zusammengleißen, dann wieder auseindander driften, sobald die einzelnen Reiter nach vornpreschten oder auch mal zurückblieben – so dass die Beobachter und Zuschauer durch die augenblicklichen Zögerungen immer wieder sogar ausmachen konnten, wenn eine Fackel von einer Hand eines Trägers in die eines anderen am Wechselpunkt überreicht wurde. „Einen Schritt zurück!,“ erbaten sich die Stewards. „Lasst den Jungs die Chance – befreit die Rennbahn!“ Die leitenden Reitsprinter waren um die erste Kurve gebogen und gallopierten bereits schnurstracks auf das Itonianische Tor zu. Die Fackeln schienen heller und klarer, irgendwie größer im Schein, und es sah schon aus als wenn sie im Reigen tanzten, sodass es unmöglich wurde die Abstände, die es zwischen ihnen gegeben hatte, einzuschätzen. Endlich war die letzte Bahn geklärt, eine bis auf die der Wettrenner. Die Menge hatte sich an einer den Schanzen aufgestellt – eine pale Masse von Gesichtern und Körpern. „Hier – jetzt kommen sie!“, rief eine Stimme von unterhalb des Schanzengrabens. Ein Flüsterton war hörbar, jedermann wartete auf den Warnruf des ersten Rosskämpfers. Schon konnte das Rasseln der Hufe vernommen werden. Der Ruf kam, ein atemloser, triumphierender Schrei seitens des jungen Mannes, der voran kam: „Akamantis!“ Unter einem Gemurmel aus Enttäuschung und andereseits, des Vergnügens, kam der nächste Reiter des Acamantis Abzeichens geradewegs nach vorne geprescht. Alle anderen Jungen wurden vor Spannung ängstlich. Es war nerven-spannend sich andauernd zu wundern, wer wohl der nächste, am dichtesten reitende, Name hörbar sein würde, oder ob sich das Rufen in dem wachsenden Tohuwabuhu verlieren würde. Also, nun kam denn auch der erste eigentliche Wettkämpfer, heran gesprungen, sein Pferd ergab einen einzigen schwarzen Schatten, während sein eigener Kopf und seine Schultern von einem goldenen Licht in dem Strahlen der glühenden Fackel, die er in der linken Hand hielt, erleuchtet emporschien. Die letzten hundert Ellen musste er dicht unter der Stadtmauer entlang reiten, welche von verwunderten, staunenden Gesichtern umrahmt wurde. Für ein paar kurze Augenblicke vergaß auch der ernste Bürger aller seiner Würde und seiner vornehmen Zurückhaltung. „Da bist du doch!,“ schrie sein wartender Kamerade. „Akamantis – hierher!“ Für einen Augenblick, sobald die Torzen ausgetauscht wurden, wurde auch die Menschenmenge am Tor von dem flackernden Schein lichterloh angeleuchtet. Es schien auf die angesprayte Pferdehaut und winkende freie Arme, auf die augen die vor Entzücken erstrahlten und auf dunkele Mundhöhlen, die sich einem breiten Lachen hingaben. Das, was Alexis in diesem Moment nicht entgangen war, war ein Eindruck von dem Fremden, der zuvor bei Hippias gestanden war. Es war ein eindrücklicher, unvergesslicher Gesichtsausdruck, in dem etwas an den Kieferzügen stand, was kein Bart je hätte verstecken oder bedecken können. Eine abstehende Nase, hohe Wangenknochen – Der Mann neigte sein Gesicht nach vorne, so dass die Krempe senes Hutes einen Schatten auf das Gesicht warf, als die Fackel welche die Szene für einen kurzen Moment hell aufgeleuchtet hatte, sich wieder tanzend entland der Phalerum Alee von ihm entfernte. Schockiert wurde Alexis gewahr, dass die nächsten zwei Reiten auf ihn zupreschten, und ein noch größeres Entsetzen packte ihn, als er den Namen-Ruf eines unter ihnen der eigenen Division zu, entgegennahm. Er rüttelte Star in Position. „Leontis – hier!,“ schrie er. Der nächste Wettkämpfer jedoch, der noch zwei Längen vor seinem Rival entlang geritten kam, war der Pandionis-Junge. Er pirschte hinaus in die Dämmerung auf einen Auslasspunkt hinaus, kurz nachdem er die Fackel tadellos ausgehändigt hatte, und kam dort zum Stillstand, seitlich. Inzwischen hatte Alexis seine Fackel ergriffen, und auch Star kam seinen Schritt die Straße entlang geritten. Die glücklich erleuchteten Gesichter entschwande hinter ihm. Es war keine Bagatelle durch das Abenddunkel auf den Lederrücken wie durch eine Hölle zu reiten, mit den knackend herunter brennenden Fackeln in einer Hand, weit um Armeslänge ausgestreckt in die Höhe gehalten, und nichts außer Zaumzeug und einer Decke um den Pferderücken geworfen unter sich spürend. Er war dankbar um das Fackellicht, das nach vorn leuchtete. Er strömten auch Strahlen zurück, ein kleiner Schein fiel auf die graue Tierhüfte des Pandionis-Jungen und erleuchtete auch die tiefsten Furchen und Löcher in der Straße vor Stars Beinen. Dennoch durfte er sich nicht gehen lassen und zurück bleiben, dass der nächste die Führung hätte übernehmen können. Lucian hätte sich sonst darüber aausgelassen. „Komm schon Star!“, raunte er dringlich. Das Pferd beantwortete den Druck in seine Flanken. Sie spritze voraus. Sie preschte vor bis zu dem silbrigen Haarkamm, welcher ihnen von vorne ihren Gesichtern entgegen flog. Sie kamen an, bildeten zusammen eine Pfeilspitze, Armeslänge für Armeslänge, zur Linken des grauen Rappens. Nun standen alle gerade. Funken sprühten von den Fackeln aus, andere Funken waren unter den trommelnden Hufen von den Kieseln in der Straßenauslage ausgegangen, lose Steine waren rechts und links davon weggerollt, die langen, schwarzen Stämme der Pappeln schienen eine dunkele, riesengroße Haspel entlang der Schneise, Gesichter tauchten aufspringend aus einer freudigen Menge auf und verschwanden darin wieder, Stimmergewirr, das inmitten der Schreie plötzlich erstarren konnte – „Pandionis!“ „Leontis!“ Auf einmal wurde ihm bewusst, dass der andere junge Mann auch schrie, gewissermaßen der Menge der Zuschauer antwortete. Da war eine herüber starrende Masse gerade vornewegs – du, gütiger Himmel – das musste schon der Umschlagpunkt sein! Genau rechtzeitig erinnerte er sich, die Bezeichnung seiner Division auszurufen. Star machte eine letzte Bemühung und kam vor dem grauen Hengst an. Zum ersten Mal fiel Alexis auf, wie groß der Vorsprung war, den er und der andere Junge an der Divisionsleitung zugelegt hatten. Sie gaben einander wieder die Fackeln, dreißig Armeslängen voraus. „Leontis – jetzt hierher!“ Das war Lucian, vor lauter Ungeduld fast schreiend. Alexis kam um einen guten Satz vor dem Grauen an. Doch an der Übergabe verhaspelten die beiden etwas, sodass der Vorteil verloren wurde. Lucian kam sogar eine Länge später erst ins Rennen. „Schlechtes Glück,“ sagte Vater dazu, während er Star´s Zaumzeug erfasste und Alexis dabei half sie zu einem Stillstand zu bringen. „Es war mein Fehler,“ meinte Alexis. „Nach all den Übungen, auch noch! Aber ich war dermaßen außer mir -“ Ein Sklave kam aus dem Dunkel an sie heran. Alexis erkannte ihn als den Mann aus Thessalia, der die Farm bewohnte. Er rutschte von Star herunter, gab ihr einen leichten Tapps auf die Nackenseite zum Dank und überließ ihm das Tier. Er musste Lucian jetzt finden und sich entschuldigen so ein Durcheinander in der Übergabe erzeugt zu haben. Er begann entlang des Weges zu gehen, während die letzten der zehn Reiter vorbei liefen. Schon bald hörte er die Stimme die Ergebnisse über und bis jenseits der Felder klangvoll zu verkünden. Pandionis war zuerst, Leontis mit geringem Unterschied danach. Die erzeugte freudige Stimmung der Leute ertönte jetzt immer weiter, da die Menge stadt einwärts zurück stapfte. Er konnte ein paar bekannte Stimmer erkennen, und fragte auch nach Lucian. Endlich traf er einen Jungen, der ihm mit Stimme zu einiger Beschämung entgegnete: „Ich denke, er ist den anderen Weg bis nach Hause gegangen.“ „Danke, ich verstehe,“ antwortete Alexis bekümmert. Er ging ein bisschen weiter noch bis zum Phalerum, obwohl es jetzt aussichtslos war. Er wollte nicht mit den anderen zusammen heimgehen. Er zog es vor alleine in dem warmen, samtigen Dunkel, nur von dem Gezwirrpe des Grasshüpfer, welche an beiden Straßenseiten sangen, begleitet. Nicht dass, so sponn er jetzt reumütig, man jetzt viel zu besingen hätte. Das Gesicht im Studio Alexis war entschlossen als erstes am Morgen darauf, Lucian ausfindig zu machen und sich für das Herumfummeln zu entschuldigen. Es war ein Jammer, dass Lucian alles so ernst anging, aber schließlich waren es seine Sorte von Leuten, welche Rennen gewannen und Dinge auf den Nenner brachten. Er wartete in einer Gasse, um seinem Freund auf dem Weg zu seinen Lektionen aufzulauern. Lucian lernte höhere Mathematik (keiner wusste wozu genau) von einem älteren Professor, der unlängst aus Asia Minor gekommen war. „Ich sage dir,“ begann Alexis zögerlich, „es tut mir leid wegen letztem Abend.“ „Ist schon in Ordnung,“ meinte Lucian in kühlem Ton. „Ich wurde flatterig, und –“ „Ach, vergiss es. Diese Dinge benötigen viel mehr Übung. Ich werde selbst viel mehr üben, wenn ich nächstes Jahr noch auserwählt werde. Da ist etwas an dem, was mein Vater sagt: `Wenn eine Arbeit gemacht werden kann, ist sie es wert, gut gemacht zu werden`.“ „Ja.“ Da er ernstlich bemüht war, die Dinge mit Lucian wieder zu begradigen, biss sich Alexis bei der nächsten Bemerkung, die er drauf und daran war, fallen zu lassen, auf die Lippen: Wenn Lucians Vater so begeistert von Sprüchen war, hatte er wohl noch nie gehört, das das berühmte griechische Wort auch hieß `Von Keinem zuviel.` „Ich meine,“ sagte Lucian, „es kann doch jeder seine eigene Façon haben. Entweder nimmt man Sport ernst, oder man tut es gar nicht. Wenn ein Kollege sich eben zuviel mit Mädchen umgibt...“ „Wenn du denkst, dass ich dabei das getan habe -“ „Ich denke nicht von mir so klug zu sein, wie du es tust, aber ich bin kein Obertrottel.“ „Ich kann dir versichern -“ „Ich wünschte eher dass du das nicht tust. Ich erwarte nicht von dir, mir deine persönlichen Geschäfte zu verraten – aber jetzt – gibt es noch keinen Anlass für Lügen, noch. Siehst du, es interessiert mich einfach nicht.“ Sobald dieses gesagt war, hastete Lucian weiter seinen Bestrebungen nach der Höheren Mathematik Folge leistend. Alexis stand am Straßenrand, von Wut übergossen. Wenn jemand sich ungerecht behandelt fühlt, ist es nur natürlich, Sympathie zu heischen. Die letzten beiden Jahre hatten die beiden einander viel anvertraut. Sobald etwas schief gegangen war, hatten sich beide in einer Ecke in Hader zusammen getan und sich angebellt: „Es ist eine Schande...“, „Das ist nicht gerecht!“. . . `Der hat dir einen üblen Trick gespielt`. Wieviele Konversationen hatten nicht auf diesem Grund bestanden! Alexis fühlte sich jetzt verloren, und fragte sich wohin er einkehren oder sich wenden könne. Plötzlich wusste er es einfach. Corinna... Sie schien eine diskrete Sorte Mensch zu sein, jemand zu dem man sprechen konnte. Und es würde Lucian dann das Recht geben, über sie zu grinsen. Wenn er doch so sicher war, dass Alexis sie gesehen hatte, konnte er ihm dann wohl nicht eine Ursache liefern, seiner Eifersucht Raum zu geben? Natürlich war da die andere kleine Angelegenheit mit Milons morgenlichem Unterricht in Oratorie. Wenn er seinen besten Freund nicht einer so einfachen Wahrheit überzeugen konnte, wie sollte er jemals ein politisches Zusammentreffen oder eine Geschworenen-Kommission überzeugen? Andere Jungen wagten allerdings auch ein paar Auslassungen. An diesem Morgen würde er es wagen zu schwänzen. Als es aber an Corinnas Auffinden kam, fühlte er Scheu aufkommen. Er wankte hin und her, an dem Gasthaus auf und ab, in der Hoffnung sie würde ihn von einem oberen Fenster kommen sehen. Die Gaststätte sah von außen reinlich aus und erschien in einem farbigen rötlich und bläulich-getünchten Wandbeschlag – er wunderte sich nur, ob die Gasthäuser in der Tat immer Käfer in allen Betten zogen, so wie man es freien Gästezimmern nachsagte? Dann lukte er lange Zeit am Brunnen nach rechts und nach links, öffentlich, voller Inbrunst hoffend sie würde auch etwas Wasser holen kommen. In Anbetracht der Gruppe der Mädchen und jungen Frauen, die ihre Töpfe und Krüge am Löwenkopf Brunnen im Wasserstrahl füllten, errötete er v.a. wenn sie spotteten und kicherten. Nach dem er zum dritten Mal gefragt wurde, wen er erwartete, beschloss er dass es weniger peinlich wäre, seinen Mut zusammen zu nehmen, um sich gleich am Gasthaus nach Corinna zu erkundigen. Es kostete allen Mut, sein Schicksal zu bestimmen. Respektierliche Leute besuchten Gasthäuser nur selten – wenn sie sich weit von Zuhause aufhielten, wohnten sie bei Freunden. Sollte sein Vater erfahren, dass er seinen Fuss ins Innere eines solchen gesetzt hatte, würde es Ärger der höchsten Stufe bei ihnen geben. Sein Gewissen war von diesen hintergründigen Gedanken so benommen, dass er nicht einmal darüber nachgedacht hatte, ob sein Anruf Corinna auch in Schwierigkeiten oder Beschämung bringen könne. Mit einem nervösen Versicherungsblick nach links und dann nach rechts, glitt er durch einen Torbogen in einen Innenhof. Ein herrlicher Duft von Frisch-Gekochtem empfing ihn. Solche Gerüche mussten wohl die Olympischen gerochen haben, wann immer sie ihre himmlischen Banketts abhielten. Eine urige Frau tauchte aus einem Kücheneingang mit einer Schaufel in der Linken, auf. Sie türmte sich vor ihm auf, ja sie stoß zu ihm. Ihr Gesicht war überrot davon geworden, wie sie sich über ihren Herd gebeugt haben musste, jedoch war es ein freundlicher Ausdruck darauf und ihre Augen blinzelten voll Witz: „Na, du Frosch?,“ forderte sie in einem Ton, der sogar einen Schiffsinsassenaufstand zum Stillstand gebracht hätte. „Ich suche hier nach Corinna,“ sagte er zaghaft. „Das tue ich auch – an den meisten unserer Tage. Mein Kind ist bald hier, bald ist sie da, und gleicht überall beschäftigt, einem Wiesel oder einer Eidechse. Trotzdem sagte sie an diesem Morgen sogar wohin sie gehe; sie wollte beim Cephalus sein. „Dem Steinmetzen?“ „Das ist er. Die Maurer Gasse. Hier,“ sagte sie indem sie in der Küche verschwand und wieder daraus auftauchte, einen kleinen Kuchen in der Handfläche, „probier das hier mal, du Winzling!“ „Dankeschön, herzlichen Dank“ Er strömte immer noch Wärme seitens des Herdes auf ihn herein. Das Stück war honigsüß, gefüllt von gehackten Nüssen und Rosinen. Er mampfte es genießerisch-dankbar. „Entschuldigung, Sie sind Corinnas Mutter?,“ fragte Alexis. „Das ist richtig. Gorgo ist der Name. Wie hast du das erraten?“ Sie hustete ein Lachen: „Familienähnlichkeit?“ „Oh nein,“ sagte Alexis eiliger denn es bestätigend gewesen wäre. Es fiel ihm schwer das zarte Mädchen mit diesem gut-humorösen Gebirgsklamm zu verbinden. „Es war der Kuchen – sagte sie doch schon, welch wundervoller Koch Sie seien!“ Gorgo nickte mit ihrem grauen Haupt, sichtlich erfreut. „Der beste Koch in Syrakus, sagten die Leute. Und das kann ich behaupten, dass in Syracuse Kochen noch Kochen bleibt. Die hier kennen keinen Kochstil, gescheige denn das Sie wissen, was Essen ist. Möchtest du noch eines?“ „Nein, doch vielen Dank dafür. Ich sollte gehen.“ „Wie es dir beliebt. Gorgo blieb im Kücheneingang stehen. Es ist so ein guter Spruch von den Alten, sodass ich mich lieber daran halten sollte - `dem der keine Fragen stellt, erzählt niemand die Lüge`.“ Mit einem erneuerten Hustenlachen verschwandt sie. Alexis fragte sich dabei, ob diess Sprichwort eines jener war, die Lucians Vater aufsagen würde. Wenn er es tat, dessen war sich Alexis sicher, würde es sicher nicht unter einem so köstlich-schelmischen Hust-Lachanfall sein noch mit diesem Zwinkern seiner Augen. Es überquerte den Markt, diesen fazsinierenden Platz, wo du (so mit genügend Geld ausgestattet) alles von Fisch bis hin zu Rohrflöten – oder sogar den Barden – kaufen konntest. Nicht dass man jetzt vollzeitige Flötisten gebrauchen könne. Solltest du aber jemals einen für einen Empfang brauchen, konnte einer oder eine für ein Abendbufet, zusammen mit den Tänzer-Mädchen, anheuern. Alexis hatte kein ersichtiliches Interesse an jedwelchem Bereich, er mochte jedoch das emsige Bummeln über den Krämerplatz. Er mochte die Fischermatrosen, welche ihre rutschigen und glänzenden Fische aufgeplätscht darbieten, und den plötzlichen Anmarsch von Kunden, sobald die tönende Trommel erklang um zu melden, dass ein neuer Fang da war. Er genoss die geräuschigen Streitigkeiten zwischen den Bäckerinnen, die Brot versteigerten, welche einander die drohenden Flüche gaben und miteinander in der nächsten Minute schallend lachen konnten. Er liebte die grüne Helligkeit der Gemüsehändler – die goldenen Kürbisse und faltigen, grünen Gurken oder die gefiederte-Möhren-Verkäuferinnen,deren Töpfe hier ausgestellt standen, sowie die purpurnen Trauben und die hügelig sortierten spiegelglänzenden Äpfel, die Blumen nach Jahreszeiten angeboten – Lilien und Rosen, Veilchensträußchen und gelbe Narzissen oder auch die Hyazinthen als Zwiebelpflanzen ebenfalls in Pötten. Er liebte den Markt, weil er das Leben liebte, in all seinem Humor und seiner Vielfalt in Schönheit. Doch an diesem Morgen, Obacht gebend dass er seinem Vater nicht über den Weg liefe oder sonst einem anderen, der ihm davon Bescheid geben könnte, dass er eine Schulstunde ausgelassen hatte, flitzte er über das Marktgeschehen hindurch, nur die schattigen Kolonnaden nutzend welche an den Seiten davor angebaut waren. Fünf Minuten später klopfte er an die Türe des Bildhauers. „Ist da ein Mädchen noch da?,“ fragte er den Sklaven, der öffnete. „Ihr Name heißt Corinna, die Tochter Gorgos vom Gasthaus - “ „Das müsste das junge Model sein, das du meinst, junger Mann. Immer geradewegs herein, Sir, und dann durch den Hof. Sie ist mit dem Meister im Studio. Zu spät um zurück zu kehren. Er hatte gemeint, nur zu erfragen nach ihr und so lange ab zu warten, bis sie von ihren Geschäften heimkehrt. Aber der Sklave hatte ihn bereits in die Passage hereingeschubst und den Straßenzugang gekappt. Es war klar, dass der Bildhauer keine Gäste haben konnte, wenn er bei der Arbeit saß. Dennoch, so berühmt wie er ist, würde er mich nicht auffressen, erklärte Alexis seinen Gang für sich. Indem er seine Schultern breitmachte, erinnerte er sich dessen, dass er der Sohn Leons war, ein Wettkampf-Athlet und ein Kriegsveterane, und so trat er ein. Das Studio war eine nicht gänzlich sauber wirkende, kleine Werkstatt, deren ganzer Fussboden völlig von Steinsplittern und festgetretenen Tonhäufchen überzogen war. Cephalus arbeitete sowohl mit Meißel als auch mit einer abgesetzten Stempelform dahingehend etwas in die Masse ein, dass man es an den unfertigen Stücken und Arbeitsproben, die er an die Wände gestellt hatte, zur Genüge festmachen konnte, manche in Stein, etliche in Bronze. Gerade war er am Modellieren. Er war ein glatzköpfiger, nicht ganz hochgeschossener Mann mit einem grauen, sehr staubigen Bart, muskulösen Armen unter seinem schulterfreien Umhang, und mit sehr beanspruchten Händen, die ein Eigenleben zu führen schienen und die ein Hirn nur für sich alleine hätten benutzen können, während sie geschwinde über den Ton rannten, indem sie zwickten und auf und abstrichen bis eine Figur volle Gestalt annahm. Alle paar Augenblicke hielt er inne und schaute, mit halb-geschlossenen Augen und seitlich abgewandtem Gesicht auf das Mädchen, welches auf einem Sockel stand. Corinna trug eine kurze, im Schluss zusammen gefasste Tunica Spartanischen Stiles. Ihre nackeden Beine schienen einen Menschen im Laufen nachzuahmen, die eine Hand hielt einen Bogen im Griff und sie wandte den hochgezogenen Kopf so, als wäre ihr Blick in die Ferne geschweift. „Artemis!“, rief Alexis aus, völlig ohne nachzudenken. Bei dem Klang seiner Stimme zuckte Corinna zusammen, wandte sich jedoch nicht nach ihm um. Sie stand da, als ob vor Erstarrung. |
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