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■ Eine Krone von Veilchen
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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2020-12-11
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Das Weihnachtsfest
Hier in Köln verlassen viele zu Weihnachten ihr Zuhause ohne jedwedes Bedauern; sie haben es eilig, machen den Eindruck einer obligatorischen Flucht aus der eigenen Gegenwart. Sie laufen weg von den Familientreffen, so schnell und vor allem so weit wie nur möglich, mit oder ohne Tannenbaum, und viele schrecken zurück vor dem Gedanken, das neue Jahr im eigenen Haus zu begrüßen. Die religiösen Symbole haben sich in antastbare und besonders verzehrbare verwandelt, aber am merkwürdigsten ist, dass sogar die Puppen aus den Vitrinen der Sexshops in Knallrot gekleidet sind; die Renntiere schlüpfen ihnen durch die Beine. Der moderne Weihnachtsmann liebt alle, und die Gleichheit der Geschlechter ist der Gipfel dieser Liebe; die Menschen aller Altersstufen freuen sich auf dieses Kommen mit dem gefüllten Sack. Interessant, der Weihnachtsmann hat sich globalisiert, er teilt auch an die nicht sehr Braven aus, und wer die Fastenzeit nicht eingehalten hat, wird einfach übersehen. Denn wie anders könnte er seine Geschenke verkaufen, und vor allem wem? Wir sollten nicht vergessen, dass er noch den Schlitten benutzt, und weil alles Geld kostet, muss er wahrscheinlich aus der eigenen Tasche für Rudy, the rednosed reindeer, aufkommen. Am Heiligen Abend wurden der Weihnachtsbaum und vor allem der –mann, zusammen mit den Geschenken, von verschiedenen Industriezweigen gerettet und nicht von Priestern oder Gläubigen. Die Weihnachtsmänner, die in den Weihnachtsmarkt in Köln einfallen, sind Studenten oder Jugendliche, die sich noch einen Groschen verdienen wollen, sie keuchen und schwitzen nicht wenig für die paar Euro und atmen erleichtert auf, wenn sie ihre Schicht beendet haben und aus dem flauschigen Weihnachtsmannkostüm schlüpfen. Der Kölner Dom ist für eine Handvoll Leute ein Gebetsrückzugsraum. Aber beten kannst du nur mit Ohrstöpseln. Unzählige Fotoapparate und Geflüster in verschiedenen Sprachen beeindrucken nicht einmal die Heiligen, die von oben herabschauen, kalt, verstaubt, wie in einem anderen Glauben über den alten Steinplatten schwebend. Der Bau des Doms wurde vor über 700 Jahren begonnen … und ist nicht fertig, also bis heute nicht ganz fertig. Um zu der Gesellschaft zu gehören, die ihn baut, instand hält und restauriert, Stunde für Stunde, Jahreszeit für Jahreszeit, die sogenannte Dombauburg, musst du der nahe Verwandte eines Baumeisters , Ingenieurs oder eines Verwalters der Kathedrale sein, Familienmitglied par excellence, die seit Jahrhunderten versuchen zu erhalten und einem Ende zuzuführen, was in jenen dunklen Zeiten, als jedermann wusste, was ein Stil ist, begonnen wurde. Es war der gotische Stil, in dem sie damals lebten. Und heute hält der Stil die Tradition aufrecht, zumindest was den Dombau anbelangt.Viele Jahrhunderte lang galt der Kölner Dom als das höchste Gebäude der Welt. Heute ist er noch immer so hoch, aber in seiner Art „ein Großvater“ der modernen Wolkenkratzer, in denen Geschäfte jedweder Art abgewickelt werden und wo die dort tätigen Manager, die „modernen Heiligen“, inbrünstiger zu Gott und allen, die ihnen in ihren Geschäften beistehen können, beten als die Gläubigen an Weihnachten oder in einem Sonntagsgottesdienst oder bei einem Begräbnis mit traditionellen Ritualen. Auch sie sind eine Art Dome, diese Wolkenkratzer. An Weihnachten fahren die Einkommensbezieher ans Meer, an die Sonne oder zum Skilaufen. Mit den Eltern spricht man am Handy, von Weihnachtskarten gar keine Rede, wie Mutter sie mir schon an den Novemberwochenenden zu schreiben auftrug. Ich knackte Nüsse und schrieb Karten rund um die Welt, beginnend natürlich mit den Verwandten aus „unserem Siebenbürgen“ bis nach Boston, für jene Verwandten, die nach unseren Vorstellungen im Paradies lebten, wie ihre Ansichtskarten mit einem perfekten Perlmutterglanz zeigten; auf jeder Weihnachtskarte sah man ein Haus mit einer aus roter Schleife gebundenen Quaste, ein Rentier und einen vor Freude rotbackigen Weihnachtsmann, in heiligen Tagen begraben unter Regen aus Schokolade, Nailonstrümpfen für Mütter und großen Bierflaschen für Väter … Ah, schon wieder der Weihnachtsmann, hörte man aus dem Lande Amerika, er kann auch schwarz sein, wie Tom aus dem Roman Onkel Toms Hütte, bei dessen Lektüre wir alle weinten und, da wir noch so klein waren, nicht wussten, wie wir diesen Unterdrückten oder Sklaven aus den Erzählungen helfen könnten, die verstaubt auf diversen Hausböden überlebt hatten; oder wir schauten mit vor Staunen offenen Mündern zum ich weiß nicht wievielten Male die Serien mit Stan und Bran oder Tom und Jerry. Wir lachten viel über die linkischen, aber saftigen Pointen Stan und Brans, die jährlich in Schwarz-Weiß wiederkehrten. Wir schienen von einem zum anderen Jahr alles vergessen zu haben und die wirklich neuen Filme schauten wir, bis uns die Augen übergingen. In diesen Momenten war die Welt in Ordnung. Die ruhige Stimme des Nachrichtensprechers von der Abendschau schaukelte dich in die Mitternachtsträume, wo du die Augen sowieso nicht öffnen durftest, um nicht zu sehen, wie die Eltern sich abmühten, dem Tannenbaum einen aufrechten Stand zu geben. Wir gehörten zu den Glücklichen: Wir hatten einen aus Eisen geschmiedeten Ständer und mussten den Tannenbaum nicht mit Ziegel abstützen, oder in einem Eimer mit Sand, auch mit diversen Schnürchen mussten wir ihn nicht an diversen Nägeln, die die Fachwerkwände der Häuser am Stadtrand durchlöcherten, anbinden. Viele Jahre glaubte ich an Väterchen Frost, und das war gut so. Der Baum war mit flaumiger Watte eingeschneit, er neigte sich unter den schweren Kugeln sowie den Bonbons verpackt in Stanniolpapier in extrem schreienden Farben. Manchmal spielten wir vor dem Tor, wer mit den Blicken länger ein Stanniol oder eine Fayence mit einem Labyrinthprofil fixieren konnte, ohne dass ihm die Tränen kamen; das war nur eins der Spiele, bei dem du mit dem Verzehren eines Wurms bestraft werden konntest. Und hart waren diese ovalen Bonbons, hart wie Stein, weichten sie doch nicht einmal nach stundenlangem Herumlutschen auf, so als beständen sie aus einer Mixtur aus Fensterglas, Stein, einem komischen Vanilieparfüm und einer eigenartigen Süßigkeit, die aber in keiner Weise an Zucker erinnerte. Ah, die Farbstoffe, die konntest du irgendwann versteckt irgendwo unter den Wangen und der Zunge spüren. Und die Zunge hatte manchmal die Farbe dieser Bonbonsteine. Besonders die grünen hatten einen Kompromissgeschmack zwischen Minze und Wandkalk. Aber wir zählten und behüteten sie, damit nicht andere Kinder sie sich in den folgenden Tagen aneigneten, als eine Art Transhumanz der Städter in Richtung der Ränder Bukarests begann, und besonders der Halbstädter, die die Dörfer invadierten. Es hieß sie „kommen zu Besuch“, genau weiß ich nicht mehr wer zu wem, der Pate zum Patenkind oder das Patenkind zum Pate, so ungefähr. Sie hatten mit Rahm gefüllte Einmachgläse dabei, extra große Maisfladen oder tschechische Parfüms, die Vater dann beim Fliegentöten einsetzte. Diese weihnachtlichen Zusammenkünfte begannen, zumindest bei uns in der Straße, fröhlich, sie wurden emotionaler gegen Mitternacht, als diese erwachsenen Menschen, die alle Rechte hatten, in angeheitertem Zustand wirklich versuchten zu tanzen … Einige der Tanten haben den Paten oder das Patenkind zum Tanz eingeladen und flüsterten ihm Gott weiß was zwischen die Schultern und Ohren, unter dem von irgendeinem Ionel der Friseur frisch geschnittenen Haar, Ohren, die stark nach Kölnischwasser rochen, und manchmal sah ich ein einsames Haar und wunderte mich, warum wir Kleinen kein einziges in den Ohren hatten. Dann ruhten die Unterhaltungen bis in die Morgenstunden, nahmen gegen Mittag aber wieder Fahrt auf und erst am zweiten Tag in den frühen Abendstunden bekamen sie einen ernsten Verlauf: Ja, dann hatten alle Mut, ihr Gemüt zu entladen, schon beladen mit 24 Stunden Wein, gesäuerter Fleisch- und Gemüse- oder Knödelsuppe, Wurst, Schwartenmagen oder Blutwurst, Speckschwarten, Krautwickel, Gans, Truthahn, Sulz, Blätterkuchen … und dazwischen immer ein gekochtes Schnäpslein mit Pfefferkernen, die wie Fischaugen in den Schnapsgläsern aus dickem Glas, älter als wir alle, herumschwammen. Und wieder wurde ein Glas erhoben und sein Inhalt hinuntergestülpt, dort irgendwo in einem schwebenden Raum über uns, mal für das Patenkind, dann für den Paten, mal für die Nichte, dann für die Taufpatin, es wurde von Mal zu Mal mehr geseufzt, aber leiser. Die Blicke der jungen Frauen, die bis dahin die Krautwickel gezählt hatten, die der eine und andere gegessen hatte, oder aus den Augenwinkeln die Männer der anderen mit dem eigenen verglich, der sich manchmal kaum noch auf dem Stuhl hielt, vom Aufstehen konnte sowieso keine Rede sein, wirkten sogar verträumt. Eh, und dann hörte man von Zeit zu Zeit: „Lass nur Schwiegermutter, du wirst schon sehen …“ oder „Lass nur Liebling, der Herrgott sieht alles.“ Wir Kinder lachten auch laut wie die anderen, ohne viel zu begreifen, weder am Anfang, noch um Mitternacht, nur am zweiten Tag ließ uns die ernste, bedrückte Stimmung nachdenklich werden, und als die Erwachsenen aufrechter auf den Stühlen saßen und sich selber einschenkten, verschwanden wir auf die Straße und rannten übers Feld, um die Krähen zu verjagen, oder wir liefen mit den sogenannten Skis durch die ganze Straße voller Löcher und Drähte unter dem Schnee … In diesen Tagen schimpfte niemand, weil du die Hosen zerrissen hattest oder in den Dreck gefallen bist, du wurdest sogar bemitleidet, wenn dich ein Hund gebissen hat; an anderen Tagen wurdest du verprügelt oder ausgelacht oder als dumm hingestellt. Es waren die Tage, als viel nachgesehen wurde, so als würden die Menschen sich gegenseitig gar nicht richtig wahrnehmen, so sehr sie sich auch ansehen würden. Ihre Gedanken weilten bei der Menschwerdung Christi, natürlich zurückgezogen irgendwo in der Kälte der Kirchen, und zuhause in der Mitte der Wohnungen, in welchen an diesen Tagen sogar die Tür zur guten Stube weit geöffnet war, aus der eine das ganze Jahr über konservierte Kälte und ein schwer zu beschreibender, aber unvergesslicher Geruch von Stollen, von dem den gesamten Raum einnehmenden Baum, von Orangen (jede Familie betrachtete in der Weihnachtszeit mit großem Respekt die zwei, drei Orangen, die langsam, sehr langsam gegessen wurden, so als würde man den Geschmack und das Aroma bis zur nächsten Weihnacht behalten wollen), auch eine Brise des unverzichtbaren Naphthalins wehte, wie auch der Geruch von Nüssen, reifen Äpfeln, die auf dem Sims der mit Goldfäden und kleinen Tannenästchen behangenen Fenstern aufgereiht waren, und, fast hätte ich’s vergessen, der Geruch der Spritzkerzen, die zuerst flackerten, dann abbrannten und dich brüsk an der Hand zwickten, denn entweder zerbrachen sie oder waren zu kurz, aber der Geruch, der dir Tränen in die Augen trieb, bleibt und verfolgt dich. Ganz gleich wie sehr wir heute versuchen würden, jene Zeiten wieder erstehen zu lassen und zu erleben, jetzt wo die Armut von damals längst vorbei ist, mit dem ganzen Geld, das wir investieren könnten in Feigen, Orangen, Spritzkerzen, die heute nicht zerbrechen, und gleichwohl wie viele Rosinen wir im Stollen verbacken und wie sehr wir die reifen Äpfel pudern oder mit Zimtbatons füllen würden, gelingt es uns nicht, diese bewegenden Gefühle, entscheidenden Augenblicke, in denen wir uns so geliebt fühlten, dass etwas anderes nicht mehr zählte, zurückzuholen; als hätte uns jemand die Tür zur schönen Kammer verschlossen, von wo der Anfang nach der Geburt des Herrn gekommen war sowie der Weihnachtsmann und Mutter, die uns in ihre Arme über der noch vom Mehl weißen und mit Vanille und Kümmelgeruch durchtränkten Schürze nahm. Es schien nach dem ausreichenden Essen und Trinken, Tanzen und sich gegenseitig schöne Gesichter machen ein Ritual zu sein, nachdem die traditionellen Worte des Respekts für die heiligen Winterfeiertage aufgebraucht waren, dass die Träume sich in dem wenigen Schlaf zurückhielten, um im neuen Jahr mit umso größerer Kraft zurückzukehren, unterstützt von ausländischen Radiosendern. Erst dann, am zweiten Tag des „Besuchs“, nahmen diese ausufernden Diskussionen Fahrt auf, von denen Wortfetzen noch heute auf den Bänken des Cișmigiu von Rentnern, vergessen von ihren Familien und Gott, zu hören sind: „Wer hat nach dem Krieg wem den Boden weggenommen?“, „Wer hat wen vertrieben – also die Russen den König, oder war es eine geheimnisvolle Verschwörung?“, „Wer sind die Amerikaner?“, „Wer hat Kennedy erschossen?“, „Wer hat Rasputin erschossen?“. „Ist er, Ceașcă...“, auch das war eine der Diskussionen, die mit den Schnapsfahnen verschmolz, und der Wortführer schien vom Mut beseelt zu sein, der ihn erst zusammen mit den Kopfschmerzen nach den Feiertagen verließ, „ist oder ist Ceaușescu nicht in der Lage, uns die Russen vom Hals zu halten?“ Die kampfeslustigsten Stimmen steigerten sich direkt proportional mit dem Alkoholverbrauch. Die Frauen waren, als diese Themen angesprochen wurden, schon längst im Nebenzimmer und sprachen über die Zeitschriften QUELLE und BURDA, die damals in großer Mode waren, von Wollfarben und dem jeweils eigenen Geschick beim Sockenstricken. Also, auch wir Kinder konnten stricken, wir haben es in der Schule gelernt; es war sogar etwas Ungewöhnliches, keine Socken stricken zu können! Wer QUELLE, NECKERMANN und BURDA im Packet bekam, war eine Art Bevorzugte des Schicksals. Eine Zeitschrift konnte von Hand zu Hand gehen und erst nach zwei Jahren zu der Person zurückgelangen, die sie von irgendeiner Tante bekommen hatte, die so freigiebig war, ihr für wenig Geld eine Zeitschrift voller Modelle für moderne Röcke, Kleider oder Sakkos und mit vielen Anleitungen, die in den 60er Jahren noch üblich waren, zu schicken, während wir in den 80ern so weit waren, Fotos anzuschauen und in Erinnerungen zu schwelgen. „Glücklich die Armen im Geiste“, sagt die Bibel. Ich meine, dass in den 80er Jahren die glücklich waren, die Erinnerungen hatten, also gut gegessen, sich gut unterhalten, auch einen Teil Europas gesehen hatten, wenigstens die nähere Umgebung unseres Landes. Ein ganzes Volk hat über ein Jahrzehnt lang Bilder angeschaut, stundenlang, also in QUELLE, BURDA, Zeitungen, Büchern, die eigenen Bilder und die Bilder anderer, Dias, durch das Teleskop, durch das Mikroskop, durch das Fernrohr. Ja und!? Unser Erfindungsgeist ist sprichwörtlich. Ich kenne kein Volk in Europa, das sich Mitte der 80er Jahre Tee aus geschmolzenem Schnee zubereitet hat, das alles Mögliche und Unmögliche angewandt hat, um eine Schwangerschaft loszuwerden, das sich jahrelang darin geübt hat, dem kommunistischen Terror zu entkommen! Es scheint so, als hätten einige von uns nicht genug von dem damals durchgemachten Leid. Es ist aber auch wahr, dass die Schmerzen nur sehr selten eine kollektive Empfindung sind; wenn jemand seine Frau bei einem Schwangerschaftsabbruch verloren hat, wird heute, nach drei Jahrzehnten kaum noch jemand außer den Familienangehörigen darüber klagen … Ja, alles gut, und vergessen wir, und besonders verzeihen wir, uns, den anderen; aber Vater, der Arme, hat, glaube ich, nicht vergeben, ich glaube, er hat resigniert und erst dann vergessen. Ich schaute die Fotos der Kollegen, die in der Eremitage waren, an und stellte mir vor, auch dort gewesen zu sein … Andere waren in Polen oder der Tschechei oder in Ungarn und brachten uns Deodorants, Kondome und Büstenhalter … Niemand konnte die Gebrauchsanweisungen richtig lesen, aber ich habe niemand gesehen, der etwas verkehrt benutzt hat. Doch, Toma Caragiu, ein vollkommener Schauspieler - wer ihn noch nicht gesehen hat, sollte sich schnellstens DVDs besorgen und schauen, war seine Präsenz in unserer Welt doch ein Glück des Schicksals -, hat einen Sketch zu dem Thema gedreht: „Wie sollen wir die Anweisungen auf tschechischen Deodorants lesen?“ Die Radiosender FREIES EUROPA, DEUTSCHE WELLE und DIE STIMME AMERIKAS, die abends die genaue Uhrzeit meldeten, echte Weihnachtsmusik und die reine, ungeschminkte Wahrheit sendeten, ließen Vater vollends verstummen, als würden sie ihm Blut in die Augen spritzen, und er nahm sich eine Flasche Murfatlar und betrachtete sie, als hätte er das für ihn wichtigste Lebewesen, dem er Rechenschaft ablegen musste, vor sich. „Hör, das ist Weihnachtsmusik“, sagte Vater zu Mutter, „nicht eure Musik auf dem Hackbrett.“ „Es ist nicht meine Musik, sie ist von den Rumänen … Wir feierten in Siebenbürgen an Weihnachten deutsch und sächsisch, da kamen die Jünglinge auf den Pferden und führten uns alle vom Dorfrand zur Kirche. Und wir trugen unsere Tracht … Was weißt du? Ihr habt dort in Deutschland bestimmt nicht mehr die Tracht eurer Eltern getragen!“ Im Hintergrund hatte sich das Transistorradio in eine deutsche Kirche verwandelt, es dröhnte, das Arme, aus den kleinen Lautsprechern, aus deren Poren man den Staub mit keiner Haarspange mehr entfernen konnte, ja, das Radio, das Vater zu Ehren der Feiertage auf die Mitte des Tisches stellte, damit man den Kirchenchor besser hören konnte; die Orgel aus Wien, München oder Köln, ersetzte die Kirche im Rahova-Viertel. Man hörte die traditionellen Weihnachtslieder, aber als „O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit“ erklang … dann führte Mutter ihre Hand zum Mund und Vater rieb sich die Augen, wo ich das ganze Jahr auf diesen Augenblick gewartet hatte: „Darf ich eine Apfelsine … und eine Feige …?“ „Ja, ja, nimm, du darfst alles“, sagte Vater, als würde er jemand in der Ferne etwas zuflüstern. Ich glaube nicht, dass ihm bewusst war, dass er durch dieses „du darfst alles“ das bisher heilige Hausgesetz, „du durftest nichts, ohne den Vater zu fragen“, soeben gebrochen hatte. Mit dieser Freigabe rief ich Mihăiță durch die Vordertür, die nur an Weihnachten und Ostern offen war, und wir traten in die Stube wie in eine heilige Grotte. Dann füllten wir uns die Kleidertaschen mit Nüssen, kleinen Stücken Schokolade, Orangen - jeder eine -, einige schon ziemlich harte Feigen und mit den in Stanniol eingewickelten Bonbons, die wir zum Tausch benötigten. Ja, und zum Schluss fühlten wir uns als Sieger: Wir hatten endlich ein Packet mit Schinken, auf dem ein Abziehbild klebte, das einen auf- und absitzenden Kowboy mit seinem Pferd zeigte, gefunden. Bis in den Sommer haben wir dem Kowboy zugeschaut, wie er auf sein Pferd und wieder herunter kam. Den Schinken haben wir eins, zwei verzehrt, aber das Packpapier behalten, an dem die anderen Kinder dann riechen durften ... ohne je davon gekostet zu haben. „Nein, können wir nicht mehr, wir sind keine Bauern wie Ihr, wir weben unsere Teppiche nicht selbst … Wir haben Perserteppiche … das sind Teppiche, Perser, fertig im Geschäft.“ „Mensch, Willi, wir brauchen keine Perser, wir haben von der Familie eine große Kiste, dort in der Truhe für die Trachten wird einiges für die Zukunft bewahrt. Das ist unsere Kiste, unsere Trachtentruhe“, versuchten Mutter und andere Tanten Herrn Willi und noch einigen Flüchtlingen beizubringen, wie reich ihr Siebenbürgen war, und das ohne Industrie. Man weiß nicht genau, was Vater dachte. Er schwieg eine Weile. Die anderen sprachen schnell in ihrem sächsischen Dialekt von ihrem Arbeitsleben bei Herrschaften, in der Fabrik, als Botschaftsköchin oder Haushälterin bei alten Schriftstellern, die in der Immensität ihrer Bibliotheken keine Sauberkeit mehr halten konnten. So zum Beispiel der Schriftsteller Alfred Margul Sperber, bei dem Mutter einige Male mit Tante Kathi, die sich um dessen Familie bis zu seinem Ableben kümmerte, war. Vater und ich verstanden ihre sächsische Sprache nicht. Er war wie in Trance, sein Blick verriet ein Gemisch aus Wein, Essen, Angst und Sehnsucht. Damals kannte ich das Wort „Sehnsucht“ nicht, aber der Blick dieses sonst so fröhlichen Menschen, weilte an Feiertagen anscheinend in noch größerer Ferne, er sah noch schlechter mit seinem schrägen Auge. Dann ärgerte er sich, weil Onkel Eni das Brennholz nicht bezahlt hatte, das er einfach aus dem Hof genommen hatte, ohne zu fragen, und vor allem ohne das große Tor zu schließen. Das hat Onkel Eni vor etwa 10 Jahren gemacht. Aber der zweite Schmerz, der Vater noch Jahre später in jedem Winter plagte, gipfelte in der Frage: „Warum hat er mir nicht wenigstens ein Schaf gegeben?“ Eine rhetorische Frage, die Jahr für Jahr wiederkehrte, so als würde sie zum Weihnachtsausklang gehören. In ihr war alles kondensiert: die Frustrationen, die Schmerzen, die Einsamkeit dieses Menschen, der um 1939 sein Land verlassen hat, ins Zentrum Österreichs gelangte, als Soldat, ein bescheidener Untertan der ihn umgebenden Systeme, aber ausreichend gewandt, um der Folter oder dem Tod zu entgehen. Nicht nur, dass er mit dem Leben davongekommen ist, er hat die Erlebnisse aus der Gefangenschaft eines stummen Lebens gespeichert, Bilder aus einer für Außenstehende nicht sichtbaren Welt; und es gelang ihm dabei sogar, das Leben mit all seinen Vergnügungen intensiv zu genießen. Aber wenn Weihnachten vorbei war, machten sich die seltenen Augenblicke der Traurigkeit bemerkbar, manchmal aus Wut auf Eni, also der Vater meiner Mutter, der ihm nicht einmal ein Schaf gegeben hat, und zum Schluss eine kurze Abrechnung mit dem Herrgott. Die Geschichte mit dem Schaf nahm mich zu jedem Weihnachtsausklang ein. Man hat über dieses theoretische Schaf diskutiert und wiederdiskutiert, aber in den 40 Jahren, die Vater in Rumänien gelebt hat, versuchte niemand, ihn zu versöhnen und ihm dieses Schaf zu geben. Natürlich ging alles vom Krieg aus. So kamen sie zusammen: einige deportiert nach Sibirien, um das große Russland zu entschädigen für die Kavaliersgeste, Rumänien von den deutschen Zerstörern, unter ihnen Großvater, Tante Johanna und Tante Paula und Tante Kathi, zu befreien; dann die deutschen Soldaten, die der Erschießung entgangen waren und auch nach Russland gebracht wurden. Zu ihnen gehörte auch Vater, ein Herr Janoschewski und Herr Scherer, viele Polen, die aus Angst ihr Land verlassen hatten und Unterrichtsstunden in Musik und katholischer Lehre, die sie direkt von Gott erhalten hatten, erteilten, oder Österreicher wie Onkel Eni Markeli, dessen Eltern nach dem Krieg ein wirkliches Vermögen mit einer Autowerkstatt, die sie komplett aus Wien hergebracht hatten, machten … Zu ihnen gehörten auch viele Waisenkinder aus allen Ecken Europas, die Wochenunterkünfte und Waisenhäuser füllten und in Kantinen aßen, die sie mit dreilagigem Kochgeschirr aus Aluminium, das mich sehr faszinierte, verließen. Alles begann mit diesem „von zu Hause Weggehen“ aller dieser Bedürftigen, übrigens zufriedene Menschen, wenn sie zu Hause bleiben oder ohne Probleme wieder dort ankommen hätten können, von wo sie weg sind. Die Herauslösung ging schnell vonstatten, mit Gewalt, und schnitt ins rohe Fleisch, so nahm ich es von allen Seiten wahr an diesen Weihnachtsessen, wo die Vertreter aller Religionen und Glaubensrichtungen anwesend waren, aber auch Anhänger der Farben und Parteien in Sachen Krieg: also Feinde, Deserteure, Patrioten, größere oder kleinere Verräter, die an verschiedenen Krankheiten litten, deren Aufzählung erst begann, als Essen und Getränke zur Neige gingen. An die Kinderspiele jener Zeit denkend, erinnere ich mich an die Deutschen und Indianer und Türken und Winnetou. Wie auch immer, die armen Deutschen und armen Rothäute waren sichere Opfer, ganz gleich wie viele Heldentaten sie zwischen Steinen und Pfützen verbrachten oder wie viele Würmer sie sich zu essen trauten. Natürlich geriet ich, die aus Angst vor der Mutter keine Courage hatte, etwas vom Boden zu essen und dabei auch noch eine Deutsche war, immer in eine Zwickmühle. Man jagte mich über das ausgedehnte Feld, so dass ich Mutters Ruf zum Essengehen nicht hörte … Ich wurde von den Kindern bestraft und von den Eltern, und dann waren da noch einige Nachbarinnen, die versuchten mir beizubringen, wie es sich anfühlt, wenn man ein braves Kind ist und kein deutsches oder indianisches. Nach Kriegsende war es in Deutschland schlecht, in vielen europäischen Ländern herrschte Armut, Hunger und Dürre und das Geld begann seinen Wert zu verlieren und die vormals Reichen, sagte mir Mutter, waren jetzt arm, und eine neue Klasse erhob sich von ganz unten, denn darum hat sie ja auch gekämpft und saß im Gefängnis und lernte singend russisch! Es war die Arbeiterklasse, die jeder auf Bildern, Fahnen, Buchumschlägen und besonders in der überdimensionalen Statue Lenins auf dem Scânteii-Platz, heute Presei-Libere-Platz, oder noch schlimmer, in der Statue Lenins im Herăstrău-Park, wo heute die Charles de Gaulles steht, bewundern konnte … Im Hof des deutschen Lyzeums Nr.21 stand auch eine Statue, die aber 1965 von ihrem Sockel geholt wurde. Ich weiß nicht, wer auf dem Sockel stand, aber bis 1973, als wir ins Tonița-Lyzeum wechselten, blieb er leer. Diese Leere war manchmal aussagestärker als viele andere Figuren, die unsere Kindheit prägten. Die Blicke der neuen Gesellschaftsvertreter schauten immer nach oben, mit weit geöffneten Augen, ein geheimnisvolles und zufriedenes Lächeln spielte um ihre Mundwinkeln, wie bei Mona Lisa, von der man bis heute nicht weiß, wohin sie beim Modellstehen geschaut hat, aber die Pioniere, Genosse Ceaușescu, die Friedenstauben und alle Genossen un Arbeiter aus den Betrieben, die in Zeitungen und Büchern abgebildet waren, wussten wohin sie schauten, und zwar in die Zukunft: eine große Zukunft, voller Freiheit und Fraternität. So viel Brüderlichkeit in jenen Tagen, weil „nach 45 im Land saubergemacht wurde“, so sagte es mir Mutter. „Du durftest keine Schweine züchten, und von Freunden, wie du sie heute hast, konnte keine Rede sein, du musstest sie mit der Partei teilen, Eigentum war verboten, die Unternehmer wurden hinausgeschmissen“, seufzte sie und versprach, mir Bilder zu zeigen, die aber so gut versteckt waren, dass sie nicht mehr auffindbar waren. „Ja, wie wir bestimmt alle in dem Film Doktor Schiwago, nach dem Roman von Pasternak gesehen haben.“ „Ja, ich habe es im Wohnzimmer großgezogen und wusch es nachts, schlachtete es an einem 23. August*, als die Fanfaren lauter waren als die Schreie des abgestochenen Schweins, und dann haben wir es heimlich auf dem Marktplatz verkauft, das Fleisch hielten wir unter dem Arm, es durchnässte mir die Kleider, ich roch nach Schweineblut, aber wir mussten von etwas leben.“ „Also du mit deinen wenig über 20 Jahren hast bei dir zu Hause im Speisezimmer ein Schwein geschlachtet und dann Stück für Stück verkauft? Und du hattest keine Angst?“ „Doch, damals hat die Siguranța* nichts verziehen, aber ich war zu ärmlich gekleidet, zu schwach, dass die Sicherheitsleute sich vorstellen konnten, ich würde etwas unter den Achselhöhlen verstecken. So habe ich die ersten 400 Lei verdient und dieses Grundstück im Rahova-Viertel erworben. Den Rest habe ich in Raten abgezahlt, denn ich musste auch Mutter in Siebenbürgen helfen, mit Päckchen, die Großmutter dann Großvater und der Schwester Johanna nach Sibirien weiterschickte.“ „Und wo lebte damals Großmutter mit deinen kleineren Brüdern?“, fragte ich beschämt, nachdem ich immer öfter hörte, wie viel Armut und Durst sie erlitten hatten, und wir spielten uns mit den Schokoladen. (Ja, das war eine Mehrzahl, es gab zwei Sorten, mit Rum und bitter und auch eine mit Milch.) „Ja, aber zu meiner Zeit gab es so gut wie nichts, ab und zu Drops auf dem Marktplatz oder Bonbons mit Kaffee oder Nüssen, die Leute beim Opferkuchen als Zutat benützen … Aber wir in Transsylvanien machten keinen Opferkuchen.“ Und Vater wiederholte den gleichen Refrain: „Warum hat er mir nicht einmal ein Schaf gegeben?“ Die Großmutter blieb mit Mutters drei Brüdern nach 1947 in Miete. Sie mussten ihr Haus offiziell verlassen. Dort waren die „neuen“ Menschen eingezogen, sie aber hatten kaum etwas zu essen. Großvater und die größere Schwester waren deportiert. Eigentlich ging es Siebenbürgen und auch dem Rest des Landes nicht besonders gut und kaum jemand wohnte noch in seinem Haus. Es war ein russisches Roulette an der Menschenfront einiger Bauern, die sich anderen Bauern gegenübergestellt sahen. Nur, dass Erstere zu Hause und die anderen Russen von weit her waren, aus einer unbekannten Welt, in der es sicher keine Uhren und Küchenmöbel gab. Anders kann man sich ihr brutales Vorgehen nicht erklären. Das hört man aus verschiedenen Erzählungen heraus. „Die Russen waren arme Menschen, sie wuschen sich nicht und hatten keine Manieren“, erzählte mir Großmutter einmal. „Als sie zu uns ins Dorf kamen, benahmen sie sich wie die Wilden. Sie stürzten sich auf die Hühner, stürmten in die Küche und zerschlugen die Möbel, schrien herum und verprügelten auch uns. Gut das viele schon in den Wald geflüchtet waren. Das war eine große Tragödie. Der Krieg war zu Ende und jetzt kamen die Russen in Friedenszeiten und nahmen uns, was noch übrig war“, schüttelte Großmutter den Kopf, als wieder Weihnachten war und Vater noch immer dieses symbolische Schaf verlangte. Mutter war damals 18 Jahre alt und arbeitete als Aushilfskraft in einer Schäßburger Metzgerei. Der Eigentümer, ein anständiger Mensch, anscheinend genauso gefährdet vom Kommen, besser gesagt, von der Invasion der Russen, hatte Mutter gesagt, dass die Deportation bevorsteht. „Geh nach Hause“, hatte er zu ihr gesagt, „und versteckt euch im Wald. Mich werden sie nicht hohlen, ich bin alt und reich. Um dich ist schade, du bist jung.“ Immer wenn Mutter mir von diesem alten Metzger aus Schäßburg erzählte, weinte sie, denn man hatte ihm nicht geglaubt, aber er sollte Recht behalten. Sie war in der Nacht durch den Wald zurück ins Dorf gegangen und hatte alles erzählt, aber Großmutter und Großvater haben ihr keinen Glauben geschenkt und sich nicht versteckt. Mutter und eine Freundin haben das getan und einige Monate im Wald gelebt. Sie sind davongekommen. Großvater und die größere Schwester Johanna sowie viele Nachbarn wurden deportiert und kehrten erst nach zehn oder fünfzehn Jahren zurück. Großvater ist dann nach etwa drei und die Tante nach fünf Jahren verstorben. Beide an Rachenkrebs, wahrscheinlich vom schweren Leben und dem Minenstaub. Mein Vater, ein auf dem Heimweg verirrter deutscher Soldat, war im damals chaotischen Bukarest stationiert. „Hier bleibe ich nie! Für immer? Niemals!“ Ich glaube Vater hat genauso auf den Augenblick seiner Heimkehr gewartet wie viele auf das Kommen der Amerikaner. Er setzte seine Hoffnung wahrscheinlich in die Amerikaner, um so problemlos wegzukommen, nicht wie viele andere, die sich auf den Weg gemacht haben, und von denen man nichts mehr hörte, ob sie umgekommen oder vielleicht umgekehrt sind oder erschossen wurden. Man weiß einfach nichts von ihnen. Ein Entkommen aus eigener Kraft, gab es nach Vaters Meinung nicht! „Es muss jemand kommen, dem man vertrauen kann, aber nicht die Russen und auch niemand von hier.“ … Er sagte es, er hörte es. So hat Vater, der überhaupt kein Rumänisch sprach, versucht, den Schofför und Witze in allen Sprachen zu machen, wie Mutter mir erzählte. Er hat vom Staat das Haus ihrer Großeltern zurückgekauft und ein Stück Wald, ebenso ein paar Schafe. Natürlich hat er vom Staat überhaupt kein Papier bekommen. Großmutter hat sich sehr gefreut, dass sie ihre Kinder großziehen konnte und die Nachbarn waren froh mit dem Brunnen, aus dem sie problemlos Wasser schöpfen konnten. Die Jahre sind ins Land gegangen, Vater hat Rumänisch gelernt, ich wurde geboren, die Russen haben das Land verlassen, um danach in andere einzufallen, Großvater ist aus Sibirien zurückgekehrt und wusste nichts von all dem Vorgefallenen. Und Vater hoffte, dass er für seine Verdienste um Mutters kleinere Brüder und diesen aus Sibirien zurückgekommenen Schwiegervater sowie um alle, die von seiner Arbeit profitierten, Anerkennung erfahren werde. Also dass er ihm ein Schaf gibt, denn das war alles, was er sich wünschte. Sein Schaf, mit dem er machen konnte, was er wollte, es schlachten, oder nur zum Anschauen behalten, wie er es eigentlich auch mit den zwei Schweinen getan hatte, die er nicht opfern konnte und sie dann beweinte wie liebe Freunde. Auch ihr Verkauf war für ihn ein Problem, konnten doch andere danach mit ihnen verfahren, wie es ihnen beliebte. Mutters Brüder luden ihn immer wieder ein, aufs Dorf zu kommen. Er hatte keine Zeit, fuhr von Rădăuți nach Sulina, Herculane, Iași, Galați, Chilia, Sf. Gheorghe* ..., denn das Land wurde elekrifiziert und die Bukarester Firma Energo Reparații war aktiver als je zuvor, und so war Vater ein ewiger Reisender, der Mann mit dem Koffer, der, wenn er schon nicht zurück in sein Deutschland gelangte, Rumänien besser kennenlernte als jeder Rumäne zur damaligen Zeit. Und dann fuhr er nicht nach Marienburg*. Er hat mir mal gesagt, dass er sie nicht versteht. Die Sachsen im Dorf wollten nicht Rumänisch sprechen und Vater konnte weder Sächsisch noch Ungarisch. Eh, man sprach eine Art gesungenes Deutsch, aber wie lange der Tag auch war, ihm viel es zu schwer, sich mit dem verdrehten Slang aus mehreren Sprachen auseinanderzusetzen. Dabei schmerzten dich abends mehr die Hände als der Mund … Übrigens erwartete er, dass man ihn als einen „Mann von Welt“, der „die Familie der Frau“ unterstützt hat, respektierte. Alle Mängel und Verwirrungen jener Hunger- und Durstjahre, haben sich nach Mutters Aussage in den Köpfen aller festgesetzt, die monatelang in den Wäldern ausharrten und morgens nasses Gras aßen. Anders war die eingehüllte Brotkruste nicht zu erklären, die man in Schürzen, Schubladen und manchmal sogar unter Kopfkissen vorfand. Dazu hatte Vater noch seine versteckten Schmerzen und Sehnsüchte in dem kleinen Blick, in den vom vielen Gesehenen verzerrten Augen. In einem Herbarium der Seele schlummerten verstaute Nöte, von Zeit zu Zeit mit Kölnischwasser bespritzt, das „die Kröte“, Tante Käthe Fieger, ein Gemenge aus den unsichtbaren Kriegswunden und dem Verlust der gesamten Familie, mit einer anderen Sprache, anderem Essen und einem anderen Gang auf der Straße, mitgebracht hatte. Diese unsichtbare Kapsel trug Herr Willi immer mit sich herum und erwartete darum von diesen Leuten, gestern für ihn noch Fremde, ein Symbol als Zeichen, dass auch er in der Äquation dieser Gesellschaft existiert; wobei die doch gar nicht wissen konnten, was dieses Schaf Herrn Willi bedeutete, der ohne den Krieg nie etwas von Bukarest gehört und auch nicht von Schafen geträumt hätte. „Vati, wann hast du zum ersten Mal von meinem Land Rumänien gehört?“ „Mei, Lori, auch ich war klein … wenn ich unausstehlich war, hörte ich, ‚du bist nicht artig‘, also brav, dann sagte meine Mutter Gertrude ‚zur Walachei mit dir‘ … ja, in die Walachei zu müssen, war für uns ein Weg in die Hölle, also ein hässlicher Ort.“ Es gibt im Deutschen noch eine sonderbare Redewendung, die mir niemand erklären konnte: „der kommt aus den Karpaten.“ Ich habe sie einige Male gehört, bis ich nach ihrem Sinn fragte und diese Antwort bekam: „Das heißt, der ist ein dummer Mensch, also ein Niemand.“ Der Mann, von dem ich diese Explikation bekam, war Professor an der Hochschule in Bochum, und er wusste ganz genau, wo die Karpaten liegen, aber woher dieser Ausspruch kam, blieb er mir schuldig. Mutter sprach von einem Terchea-Berchea, also einem Taugenichts, und ich verstand, was sie meinte. Ich verspreche, die etymologische Evolution dieser Redewendung, die bei den Deutschen kein besonderes Licht auf uns wirft, zu suchen. Aber wieso kannte man sie schon vor dem Krieg? Vater ging erst 1939 von zuhause weg und in den 20er Jahren war er noch ein Kind. Aber für alles, was er in den 50er Jahren getan hatte, wünschte er sich nur eins: ein Schaf. Hätte er ihnen eine normale Rechnung präsentiert, mit einem chemischen Bleistift, und hätte er ihnen gesagt wie beim CEC*, „bis zum Tag X gibt ihr mir so viel zurück“, wäre es nicht mehr zu den Anschuldigungen gekommen, die nur die Meinungsverschiedenheiten anheizten, und auch nicht zu den Vorwürfen, die jahrzehntelang bei den unvermeidbaren Begräbnissen auf den Gemütern lasteten. Nachdem er ihnen Grund und Haus zurückgekauft hatte, schickte er ihnen auch Pakete mit Essen, damals zu Beginn des 6. Jahrzehnts. Und doch hielt man ihn für einen geizigen Deutschen. Sie waren dann für ihn „Bauernsachsen“, also Sachsen vom Dorf, und die Rumänen, die mit den Sachsen hielten, taufte er „kleine Menschen“. Und wir Kinder assistierten von draußen, in Wind und Schnee, sangen dabei Lieder und aßen Orangen mit den Schalen. Nur wurden bei diesen von Jahr zu Jahr härter ausgetragenen Auseinandersetzungen die Kontrahenten immer weniger. An dieses Schaf erinnerte Vater sich immer gegen Ende der Feiertage, als er wahrscheinlich wie alle Leute nach Weihnachten versuchte, ein neues Leben zu beginnen und von den Problemen der Vergangenheit einige zu lösen. Ein paar Jahrzehnte hat er jeden nach seinem Schaf gefragt, auch wenn Großvater seit ’61 nicht mehr existierte. Aber Mutters großer Bruder, Misch-Onkel, wohnte auch auf dem Lande, in einem anderen Dorf unweit von Schäßburg. Leider verstand aber auch der nicht, warum er nach 30 Jahren ein Schaf herausrücken sollte, woraufhin gegen Ende der 70er Vater in einer Syntrophieanwallung beschloss, das Schaf nicht mehr einzufordern, hat er doch lange genug darauf gewartet. Mit diesen Bauernsachsen wollte er aber nicht mehr reden, woraufhin die ihn sofort zum „deutschen Zigeuner“, „Fremden“ abstempelten, also ein geiziger und böser Deutscher, und weltfremd obendrauf. Über beide Seiten senkte sich ein Schleier der Unzufriedenheit, bloß dass einige ein Haus hatten und der andere nicht einmal sein eigenes Schaf, mit dem er sowieso nichts anzufangen wusste. [aus dem Rumänischen von Anton Potche] *Worterklärungen - 23. August = Nationalfeiertag im kommunistischen Rumänien. - Siguranța = Geheimpolizei im Königreich Rumänien - Rădăuți, Sulina, Herculane, Iași, Galați, Chilia, Sf. Gheorghe = Radautz, Sulina, Herkulesbad, Jassy, Galatz, Chilia, St Georgen (deutsche Namen nach Wikipedia) - Marienburg = deutscher Name der Ortschaft Feldioara in Siebenbürgen / Rumänien |
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