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■ Eine Krone von Veilchen
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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2015-11-13
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An der Barriere
Die Hauptkreuzung im Stadtteil trägt heute keinen Namen. Im Kreisel, das eigentlich eine Art beschwipptes Hexagon ist, stößt die Strada Antiaeriană* (sie sieht aus wie eine wirkliche Chaussee, auf ihr fuhren in anderen Zeiten sogar Panzer, wie Herr Fleacã sagte, der alles wusste) auf die letzten Meter von Podul Calicilor* (heute Rahovei-Straße), was man mit dem freien Auge sieht, wenn du auf die Balkone der Wohnblocks und die Menschen schaust, die lethargisch ihre kleinen Einkaufsläden rund um die Kreuzung bewachen. Podul Calicilor geht geradeaus weiter durch die Löcher und mündet mit dem ganzen Staub oder dem auf der Trasse angesammelten Schutt direkt auf die Alexandriei-Chaussee. Hier beginnt auch die Măgurele-Chaussee, die erst nach sechs Kilometer am Institut für Atomphysik endet, eine Gegend die sich vorgenommen hat, Studentenstädtchen zu sein. Ein paar chinesische und arabische Studenten geben ihm manchmal ein internationales Flair. In den sechziger Jahren hieß dieses unförmige HIER offiziell „An der Barriere“. Wir Kinder waren überzeugt, dass irgendwo ein echter Schlagbaum versteckt sein musste, den nur die Großen kannten, um uns Kleinen zu fangen. Wir verbrachten unsere Zeit nach dem Unterricht oder in den Ferien in den Straßen des Viertels mit der Suche nach Kuriositäten: Süßigkeiten von den Weibern, die den lieben langen Tag vor dem Tor saßen, sogar an Sommerabenden im Staub der Busse, der Opferkuchen von den Toten, die sich in kleinen Kammern ausruhten, vor dem Stehlen bewahrt von benebelten Männern und dicken Fliegen. Wir suchten auch nach alten Zwei- oder Dreirädern. Unsere durften wir nur sonntags in der Öffentlichkeit benutzen. Auch heute sagen die Alten „An der Barriere“ und die ganze Welt weiß, um was es sich handelt. Auf der Karte gibt es die Bezeichnung „An der Barriere“ nicht. Ich habe die nicht mehr unter uns weilenden Nachbarn mal gefragt, was sie über die Bezeichnung „An der Barriere” wissen. Der alte Bobric (klingt nach Kroate!) aus der Vârteju-Chaussee, die eigentlich eine einfache Straße war, die bis in die Gemeinde Vârteju* führte, und an der ein schmaler Hof mit den besten Pflaumen lag, wo sich niemand ärgerte, wenn wir welche verlangten – er war der Meinung, dass man „An der Barriere“ sagt, weil dort die Straßenbahnlinie endet und der Raion* seine Grenze hat, also der Raion Lenin sich zum Sterben begibt. Podul Calicilor befand sich sozusagen im Raion Lenin. Der wurde nicht von irgendeinem Edil geführt. Alles, alles, aber absolut alles, also alle Viertel und Vorstädte, Städte und Dörfer, Straßen und Wohnblocks, Fabriken und Schulen, das Meer und die Berge, die Wälder und das Gänselied …wie ein Witz sagt, wurden gleichzeitig von einem Genossen geführt, der rumänische Che, lange Zeit unerschossen geblieben. Er erschien verkleidet mal als Arbeiter, mal als Schweißer, Bäcker, Mechaniker oder Bauer, abhängig davon, wo sie ihn fotografierten und wo er dachte, sich besser in Szene setzen zu können. Ich hoffe, wir finden im Archiv ein Foto, auf dem er mit einem Bär abgebildet ist. Ich bewunderte ihn, als ich klein war, und war überzeugt, dass er sich sehr angestrengt hat, den Bär einzufangen und ihn zum Posieren zu bewegen. Wir Kinder aus dem Viertel standen auch nicht still beim Fotografieren. Dann erst noch ein Bär! Zu Hause durften wir über diesen Genossen nicht sprechen, oder man tat es im Flüsterton, wir nannten ihn N.C. Bukarest lebte bis zur Ceaușescu-Reform sehr gut in Raions, die nach den hellsten Söhnen des Volkes benannt waren. Ich erinnere mich nur an eine einzige Tochter, eine Elena*, die aber vorwiegend nicht die Tochter des Volkes war, sondern seit jeher Tante Leana in den Witzen, die uns zum Totlachen brachten. Wir lachten sehr viel, mehr als heute. Diese Söhne, muss ich noch hinzufügen, um zu erläutern was sie und der Genosse so machten, haben uns so stark angestrahlt, dass beim ersten sozialen Kurzschluss alles über den Haufen geworfen wurde und wir ohne Raions, Romanzen und „An der Barriere“ blieben. In keinem Lied gab es einen Lokalbaron, denn es existierten keine Manelisten*. Es gab keine Manelisten, weil die Leute Gică Petrescu, Ioana Radu oder Maria Tănase hörten, Musik der Sehnsucht und blauen Herzen, aber von Musikern und Textern bearbeitet, die an Feiertagen aus den Straßenlautsprechern kam, oder aus kleinen Radios auf den Fensterbrettern der gitterfreien Holzfenstern, auf die Trichterwinden aus eigener Kraft hochkletterten. ............................................................ „An der Barriere“ existierte problemlos, ohne Stopp, ohne von Hagel und Staub verkratzte Werbungen wie auch ohne die Wächter, auf deren schwarzen, auf Betonmuskel gegossenen T-Shirts heute Security geschrieben steht (die du mehr als die wirklichen Diebe fürchtest). Ich habe den Puls des Lenin-Raions verspürt, eine von Bäumen eingesäumte Kreuzung, von kleinen und einladenden Läden mit authentischem Kaffeegeruch, bittere Schokoladen – und Fondantbonbons, ohne Färbungsmittel, oder geröstete Samenkörner von Ioana und Olimpia, die einen Mann in der Firma nebenan hatte, also der dort gearbeitet hat, und so problemlos die Tütchen mit den Körnern dort verkaufen durfte. Tante Olimpia hatte auch ein Auto vor dem Tor, direkt in der Kreuzung, einen Wolga groß und grau. Ich habe ihn nie in Bewegung gesehen und er wurde auch nie chauffeurt, aber er war das Symbol von großem Wohlstand. Wahrscheinlich hatte sie ihn vom Körnergeld gekauft. Die Einkommensteuer war unbekannt und niemand hätte erwartet, dass in einer Generation sogar die Wörter auf den Kopf gestellt und in einer Wörterschneiderei landen werden. Zum Beispiel, die Romanzen wurden Manele, mit denen einige sich sehr stark bereichert haben, so dass man ihnen heute die Mittelmäßigkeit verzeiht und sie es sich erlauben, zwischen ihren Goldzähnen zur Nation zu sprechen. Auch im Fernsehen und mit dem gleichen Pathos wie der Genosse! Heute schütteln die Leute nicht einmal mehr die Köpfe, wenn sie meinen, etwas sei nicht in Ordnung. Heute schweigt man irgendwie zänkisch, und man hofft auch nicht mehr auf bessere Zeiten auf den Gehwegen von „An der Barriere“, bei einem Azuga-Bier oder Mitsch* eingepackt in der Zeitung Informația Bucureștiului*. Wäscherei des Bösen, wie Mutter die Kneipe nannte, einerseits tat sie gut, viele mussten nicht einsam sein, sie halfen sich mit einem Wort oder einem Stamperl und manchmal sahst du sie, sich gegenseitig stützend und nur ihnen bekannte Refrains brüllend. Sie gingen in der Mitte der Măgurele-Chaussee und kamen sehr spät nach Hause, zwischen Kinderschreie und Flüche der von den Alltagssorgen vergrämten Frauen. Einige nannten ihn Majoru, andere Mater, den Nachbar von Bobric, ein Mann der immer einen Generalanzug trug, und von dem ich nicht wusste, ob er hieß, wie er sich nannte, oder ob er wirklich General war. Er hatte eine Gattin, Frau Mater, von morgens bis abends grelltönend geschminkt und schwarz wie die Nacht gefärbt. Sie hatten keine Kinder und waren auch nicht gut zu uns, wenn wir unseren Ball in ihren Garten warfen. Dieser General Mater behauptete, dass die Deutschen, jene, die brutal über Bukarest herfielen und das ganze Gold des Landes gestohlen haben, die Kreuzung „An der Barriere“ genannt hätten. Sie haben dort eine Barriere errichtet, als sie mit den Panzern eindrangen, und konnten so die Aus- und Eingänge in die Stadt kontrollieren. Vetter Sandu Găuță, der dünne Geiger, gelassen und mit Hut, eine Art Sozialklub des Rahova-Viertels, mit drei jeweils andersfarbigen Kindern, die den ganzen Tag stritten, mal unter sich, mal mit den Nachbarn, wusste nicht sehr viel über „An der Barriere“; aber dort an ihrem Rand hat er mehr als ein halbes Jahrhundert gelebt, mit Leidenschaft auf seiner Geige spielend, mit Freude und Seelenruhe in seinem aschfarbenen Blick, österreichische Walzer, wahrscheinlich an den erstaunlichsten Orten gehört. Dort wurden die Vereinbarungen für die kommenden Verlobungen und Hochzeiten geschlossen, man mietete Lastträger und Pferdewagen für alle Gelegenheiten, dort am rechten Eck, wo die kleine Kneipe mit dem niedrigen Schanktisch war, mit Plastikstühlen, die auf unerklärliche Weise nie gestohlen wurden von der Terrasse, die irgendwie sogar in die Straße hineinreichte, ohne allerdings sehr stark zu stören - bis zur Befreiung von ’89. Der Fuhrmannchef der Zone hieß Herr Pațac, er hatte zwei Pferde, einen großen Wagen für lange Bretter und einen kleinen für Säcke. Eine stolzer Mensch, mit dem größten Bauch von allen Bewohnern der Măgurele-Chaussee, mit einem Schnurrbart, der bis zur Brust reichte, und einer ihm gegensätzlichen Frau, klein, schwach, sie bewegte sich schnell, handelte die Preise aus und war immer in Schwarz gekleidet. Tante Pațac war der Chef der Institution, die alles transportierte, was nicht in den Armen getragen werden konnte. Die Familie Pațac hatte keine Kinder, sie beschäftigte ein paar Bedürftige, die von ihnen Logis und Kost bekamen. Ihr Grundstück mit dem aus mehreren großen und einigen kleinen Zimmern bestehenden Haus aus Erde grenzte an das Gebiet des Architekten Brãtianu, der Baumdoktor – er veredelte und fand Abhilfe bei allen Krankheiten der Weinreben oder Rosen. Die zu viel tranken, ruhten sich an den Ecken der „Barriere“ aus und setzten ihre Geschäfte fort oder ihren Rausch - nach einem kurzen Erwachen mit warmem Brot, frischer Wurst mit grünen Essigtomaten und in großen Fässern gesäuertem Kraut. ...................................................... Vis-á-vis befand sich ein Brotladen, ein kleines Lebensmittelgeschäft, wo ein gescheiter Wiener Mandatar einst riesige aus dunkelrotem Kupfer angefertigte Handmühlen in Betrieb hatte. Mutter zeigte sie mir jedes Mal und sagte zufrieden: Das sind noch von denen vor dem Krieg, eine Art Gutes, dass wenigstens sie davongekommen sind. Mit ihnen wurden dauernd schöne Bohnen eines einzigen Sortiments gemahlen, die in großen Säcken angeliefert wurden, auf denen mit Pech Buchstaben in englischer Sprache geschrieben standen. Aber damals war Englisch die Sprache des Klassenfeindes, die ganze Welt um mich lernte Russisch aus den Schulbüchern. Lernen wir singend Russisch. Aber auf keinem Sack, unabhängig vom Inhalt, stand etwas in Russisch. Im einzigen Kühlschrank der kleinen Metzgerei waren auch Lamm-, Schweins- oder Hasenköpfe mit Augen ohne Wimpern ausgelegt, die mich mit ihrem fixen und kalten Blick erschreckten. Eine zeitlang habe ich kein Fleisch mehr gegessen, aus Angst, nicht ein Auge zu schlucken. Die gewesene Friseurstube ist heute ein kleines Eisenwarengeschäft. Sie befand sich direkt in der Bushaltestelle. Beim Warten konntest du dir die Haare schneiden, dich rasieren oder konntest dich schlicht und einfach über die Nachrichten unterhalten, die aus dem Sieb eines alten Radios, das die Deutschen wahrscheinlich vergessen hatten, kamen. Alles war eng, aber sauber, nach Seife riechend. Ich weiß nicht ob die Desinfizierung mit etwas anderem als Spiritus oder Bittersalz vorgenommen wurde, aber ich erinnere mich nicht, dass danach jemand ein Ekzem gehabt hätte. Die Kämme waren aus Knochen oder aus einer Art versilbertem Metall und widerstandsfähig, nicht aus Plastik. Pediküre und Maniküre machte man nur vom Rahova-Platz stadteinwärts, hier auf keinen Fall. Der Friseur war ein kleiner Mann, hinkend, mit einer ebenso kleinen und fast blinden Frau. Mit Sicherheit hatten sie keine große Friseurschule, aber ihre Stühle waren immer besetzt mit zufriedenen Menschen. Vor den Feiertagen warteten Ährentrauben an der Tür, dann brachten sie auch ihre Kinder mit. Ich ging zu Ciufulici*, beim Onkel Friseur war ich nie, ich blickte bloß durchs Fenster und brachte den Mut nicht auf, zu fragen, woher er Waschschüsseln aus italienischem Porzellan hatte. Heute bin ich mir sicher: Auch sie brachte ein deutscher Soldat, um sicher zu gehen, dass der Friseur ihn sauber wie bei ihm zu Hause bedient, also in Deutschland vor dem Krieg. ............................................................ Der Fischladen war eine große Bude, auf der von Eimern umgebene Schüsseln thronten, alle voll mit lebenden Fischen, neben dem Pumpbrunnen an der Ecke der immer vollen Kirche. Zur damaligen Zeit waren die einzigen toten Fische in bläulichen Konserven mit einer verstaubten Sardine oder wenige Exemplare dekorativ zur Schau gestellt zwischen großen Eiswürfeln. Ah, vergessen wir nicht: Der Kühlschrank war eine Seltenheit, er hieß Fram oder Polar und nur die Wohlhabenden besaßen einen, der Rest der Menschheit kaufte Eis, zum Beispiel in Cotroceni*, wo viele Schüler, Kinder von dem und dem, wohnten. Das Eis wurde vom Eismann gebracht. Die Kirche war immer zum Bersten voll: Sie war so klein, dass der Menschenstrom an Feiertagen, Hochzeiten oder Beerdigungen die Măgurele-Chaussee überflutete. Heute haben gut situierte Bürger das Anbetungshaus renoviert und geholfen, das Dach und die bemalten Kirchenfenster zu renovieren. Was vorher die Kneipe und die Straßenecken um den Platz „An der Barriere“ waren, ist heute die Kirche. Sie, die Kirche vom Platz „An der Barriere“, ist der letzte und einzige Zeuge jener sechs Jahrzehnte, die über diese Rahova-Gegend gezogen sind. Der Rest der Zäune, Häuser, kleiner Geschäfte ließen sich privatisieren, verkaufen, demolieren, erdrücken wie von einem großen Nagelschuh mit riesigen Sohlen, was dazu führte, dass Freundschaften zwischen den Violinisten des Viertels und den Lehrern der Schule an der Chaussee oder die gute Nachbarschaft der Verkäufer mit den Einheimischen zerstört wurden. Trauriger ist, dass die neuen Nachbarn, die mit ihren unglaublichen Ersparnissen aus Italien oder von anderswo, die Grundstücke „An der Barriere“ oder die Häuser der unter der Woge der Demokratie verarmten Einheimischen erworben haben, auch unserem Stadtteil unbekannte Sitten beschert haben. Angesammeltes Schwemmholz erstickt das Ufer eines Flusses, ein Vorgang, der heute auch bei Menschen zu beobachten ist. Durch die sogenannte Befreiung vom Rande Europas, wo Rumänien wirklich auf der Landkarte eingetragen ist, finden wir diesen natürlichen Prozess: Alluvionen jedweder Art, die ersticken, Waren, die vor einigen Jahrzehnten von niemand beachtet wurden, Gesten, Worte, Unflätigkeiten und besonders Namen, die du zwischen den Zähnen hervorgepresst oder herausgeschrien vernimmst … Ich hatte natürlich keine Kollegin, die Formation hieß. Oder jemand anders hätte sein Kind keinesfalls freiwillig Telegram genannt … Die Häuser sind nicht mehr weiß oder ziegelfarben oder grau, sondern haben schmerzlich grelle Farben. Manchmal habe ich den Eindruck, man will die Atmosphäre aus Italien oder Spanien nachahmen. Aber passen diese Farben in einem anderen Licht und unter einem anderen Himmel. [aus dem Rumänischen von Anton Potche] * Worterklärungen Strada Antiaeriană = Luftabwehrstraße Podul Calicilor = Brücke der Armen Măgurele = ein Dorf im Umland von Bukarest (mãgurã = Anhöhe) Vârtej = Wirbel Raion = administrative Einheit vergleichbar mit einem Verwaltungskreis in Deutschland Elena = Elena Ceaușescu Manelisten = Sänger des Genres Manele = eine Mischung aus volkstümlicher Musik und Schlager Mitsch (rum.: mici) = Würstchen (ein rumänisches Nationalgericht) Informația Bucureștiului = Information Bukarests Ciufulici = Friseursalon für Kinder (Petre Ciufulici = Struwwelpeter) Cotroceni = Stadtteil von Bukarest |
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