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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2006-02-07 | |
Geburtstag. Ich sitze im Keller zwischen meinen Büchern. Was ist denn da oben los? Über mir geht’s rund. Geburtstag eben. Drei Mädchen und vier Jungs – weil mein Sohn sich auch dazugesellt hatte – feiern den 19. Geburtstag meiner Tochter. Es geht laut zu, aber trotzdem anders als in den Jahren zuvor. Da erinnere ich mich nur ungern an unerträglichen Rockkrach mit unerbärmlichen Bassschlägen. Und jetzt höre ich Mädchen- und Bubenstimmen. Jawohl, die singen selbst, wahrhaftig. Nein, natürlich dringt da weder ein Heller noch ein Batzen zu mir durch und schon längst kein Fuchs mit einer gestohlenen Gans und es kommt auch kein Vogel geflogen, aber ich ertappe mich trotzdem beim Horchen, was von draußen reinkommt.
Was ich höre, sind Lieder wie Uptown Girl (Billy Joel), Bruttosozialprodukt (Geier Sturzflug), Sternenhimmel (Hubert Kahl), Der Knutschfleck (IXI), Goldener Reiter (Joachim Witt), 99 Luftballons (Nena), Simply The Best (Tina Turner) u.v.a. Mir kommen die alten Spinnstubengeschichten aus Omas Zeiten in den Sinn; da soll ja auch gesungen worden sein, beim Spinnen, Häkeln, Stricken und vielleicht auch beim Strümpfestopfen; dann die Jahre, als die Männer im Nebenzimmer des Kulturheims ihre Lieder anstimmten; und schließlich meine Halbstarkenzeit, in der wir singend (oft auch grölend) durch die nächtlichen Dorfgassen zogen. Was folgte, waren Jahre der Klagelitaneien über das Aussterben des Singens und damit des Endes der Gemeinschaftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Festgemacht wurde dieses Lamento vor allem an der vor Fernseher und Computer angeblich total vereinsamten und bereits kommunikationsunfähigen Jugend. Und jetzt dies... Aber warum wird der zum Teil wirklich ganz akzeptable Gesang über mir immer wieder mit Hallo-Heh-Bravo-Ah- und ähnlichen Rufen, oft auch mit lautem, ungezwungenem Lachen und Klatschen (auch rhythmisch) untermalt? Es ist ja kein Geheimnis, dass man mit zunehmendem Alter zunehmend neugierig wird. Also muss ich mal nachsehen, was sich dort oben abspielt. Diese Spinnstub’ anno 2005 sieht so aus: ein normales Wohnzimmer mit einem Fernsehgerät in der Schrankwand, die vier Jungs und ein Mädchen auf der Sitzgarnitur verteilt. Zwei Mädchen sitzen vor ihnen auf dem Teppich, halten Mikrofone in der Hand und singen. Die Mikrofonkabel laufen in ein kleines Kästchen – USB-Konverter heißt es, klärt man mich auf -, das wiederum an eine PlayStation 2-Konsole angeschlossen wird. Diese ist weiter mit dem Fernseher verbunden. Auf dem Bildschirm läuft das Original des Liedes mit Sänger und Ton. Die zwei Mädchen singen mit und die Qualität ihres Gesangs wird sofort mit Grafiken auf dem Bildschirm angezeigt. Bewertet werden sowohl die stimmliche Darbietung als auch das Text-Timing, also ob man im Rhythmus mit dem Interpreten liegt. Die auf dem Bildschirm zu lesenden Bewertungen sind klar und deutlich: grausam, mies, OK, gut, cool u.s.w. und beim Endranking, also bei der Endeinstufung, erfährt jeder Mitsänger dann, ob er ein Möchtegern, Sänger, Sternchen, Amateur, Fortgeschrittener oder nur ein Nichtskönner ist. Das liefert natürlich ausreichend Stoff für gute Laune in der Runde. Es wird wieder gesungen, denk ich mir, diese Jugendlichen sind wieder gesellschaftsfähig, unsere Gegenwart hat eine Zukunft. Die wird bloß anders aussehen, aber sie wird sein, das zählt. Und weil es spät ist, wird es für die Alten Zeit. Ich leg mich ins Bett, stülp mir den Kopfhörer über, drück die Starttaste und gleite zufrieden in den Schlaf mit Helmut Kassners Walzer „Frühlingserwachen“.
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