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■ Eine Krone von Veilchen
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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2010-01-08 | |
Es ist das schlechte Gewissen, das mich zum Verfassen dieser Kolumne veranlasst. Ich könnte selbstverständlich sagen, was soll’s, Schwamm drüber, so ist das Leben. Aber so einfach geht das bei mir nie ab. So etwas zieht sich oft Tage, ja sogar Wochen und Monate hin und lässt mir keine Ruhe, bis ich nicht in die Tasten haue oder instinktiv zu einem Bleistift greife.
Eine Festschrift liegt vor mir: 100 Jahre Loris-Kapelle. Hans Speck, mein ehemaliger Geschichtslehrer, hat sie im Juni 2008 verfasst. Der Anlass war eher formal, als natürlich. Das Jubiläum hat seinen Protagonisten um einiges überlebt, denn die am 8. August 1908 von Peter Loris im Banater Heckendorf Jahrmarkt gegründete Loris-Kapelle gibt es seit 1986 nicht mehr. Hier wurde also mit Pauken und Trompeten ein seit 22 Jahren toter Klangkörper gefeiert. Nun mag ein Mensch nach 22 Jahren biologisch und zum Teil auch erinnerungsbedingt einem Nichtexistenzzustand anheim fallen, aber eine Idee, eine Begeisterung, ein gesellschaftlicher Impuls kann eine bedeutend höhere Halbwertzeit besitzen und diese durch die Schrift noch um einiges erhöhen. Ein solcher Ideenprovokateur, getragen von grenzenloser Begeisterung und schließlich belohnt mit immer neuen Impulsen, war in Jahrmarkt schon immer die Musik. Ideen, Einfälle und Ausfälle entstanden in diesem Dorf seit jeher ganz besonders, wenn es um die Blaskapellen ging. Und ich blättere und erinnere mich, finde Unbekanntes und Bekanntes, vermute hie und da den einen und anderen subjektiven Blickwinkel, vermisse da was und dort was (besonders wenn es um Abartigkeiten geht), um mich gleich danach zu fragen: Würde das überhaupt hierher gehören? Es sind oft nur einzelne Sätze oder gar Namen, die plötzlich die Gegenwart zum Statisten degradieren und einer immateriellen Welt zur Wiederauferstehung verhelfen. Der Speck-Lehrer weiß, dass „in demselben Monat Mai 1834 wird die Kapelle erstmals schriftlich erwähnt“, nicht die Loris-Kapelle, aber eine Vereinskapelle des Schützenvereins in Gyarmatha. 1834: Franz I. von Österreich verbrachte sein letztes Lebensjahr. Das war eine Zeit, die uns, politischen Kindern der Habsburger, weit weniger im Gedächtnis geblieben ist, als die Regierungszeiten Maria Theresias und Josephs II. Umso spannender ist es, zu erfahren, was damals im Dorf so lief. Immerhin: Da war Musik, Blasmusik. Also gab es im Dorf Ideen, Begeisterung und gesellschaftliche Impulse, auch wenn letztere damals aus Sicht so mancher Traditionalisten nicht gerade erfreulich waren. Der ungarische Einfluss wurde in jener Zeit immer stärker. Allerdings haben wir das 19. Jahrhundert noch nicht verlassen und Lehrer Speck schreibt schon von „Missverständnis, Rivalität und Geldstreit. Es waren fortan die schlechten Begleiter des Jahrmarkter Musiklebens.“ Also fiel der Apfel, von dem wir Jahrmarkter so lustvoll genossen, nicht weit vom Stamm. Hans Kaszner ist eigentlich nur der letzte einer langen Namensliste von Kapellmeistern, die außer den Loris-Kapellmeistern in diesem Dorf nicht nur eine künstlerische, sondern vor allem auch eine – und das vielleicht mehr als in anderen Dörfern – gesellschaftliche Rolle spielten; eben weil sie Impulse setzten und dadurch stark polarisierten. Dass der Speck-Lehrer von einer „Loris-Dynastie“ sprechen kann, ist sowohl biologischen als auch gesellschaftspolitischen und auch familiären Umständen zu verdanken. Wenn auch die Sterne nicht immer günstig standen, so haben anscheinend doch persönliche Eigenschaften der zentralen Gestalten – Talent, Durchhaltevermögen, Ehrgeiz, musikhandwerkliches Können, gesellschaftliche Bindungsfähigkeiten u.s.w. – die Kapelle durch meist stürmische See gesteuert. Mein Kapellmeister Hans Kaszner war der letzte aus der langen Reihe der Konkurrenten. Viel Feind - viel Ehr. Das ist nun mal so und muss man den Loris-Leuten neidlos zugestehen. Über den wohl hartnäckigsten und auch erfolgreichsten Widersacher in der Jahrmarkter Musikgeschichte kann man in der Festschrift nachlesen: „Im Jahre 1957 trennte sich Hans Kaszner mit vier weiteren Musikanten von der Loris-Kapelle und bildete seine eigene Kapelle. Dank intensiver Jugendarbeit erhöhte sich die Zahl seiner Musikanten auf über 60 Mann.“ Respekt! Das nennt man Hochachtung vor dem Gegner, trotz aller Subjektivität, die einer solchen Festschrift innewohnen darf. Und genau da schlägt mein schlechtes Gewissen zu. Auch meine Kapelle hat vor einigen Jahren ein Jubiläum gefeiert: 50 Jahre Kaszner-Kapelle. Der Anlass war ebenso formal, denn auch diese Kapelle gab es seit rund zwei Jahrzehnten nicht mehr. Umso gelungener war das Jubiläumsfest. Danach bekamen alle Teilnehmer eine DVD als Erinnerung. Zeitgemäßer geht es wohl auch heute noch nicht. Monate danach rief mich mein ehemaliger Kapellmeister Hans Kaszner an und wollte mich überzeugen, auch noch an einer Festschrift mitzuwirken. Ich habe dieses Ansinnen damals höflich, aber bestimmt abgelehnt. Wenn ich mich gut erinnere, führte ich zur Begründung Zeitnot, die Schwierigkeit, die Jahrmarkter Musikvergangenheit objektiv einzuordnen und besonders unvermeidliche Überschneidungen (also Wiederholungen) mit der von anderen Kollegen mit bemerkenswertem persönlichem Einsatz gestalteten DVD an. Jetzt sitze ich da, blättere die Festschrift der fiktiven Konkurrenz durch und ertappe mich als eingefleischter Bücherwurm bei der Frage: Wie konntest du damals deine Mitarbeit zu einer solchen Festschrift verweigern? Ein Buch ist und bleibt der Ausdruck jeden intellektuellen Anspruchs. Und Subjektivität muss nicht, aber darf und soll sogar in verträglichen Maßen durch die Reihen einer Festschrift schwirren. Wie soll sie anders die Zuneigung und Dankbarkeit der Ersteller für die geschätzten Vereinsmitglieder übermitteln? Das ist das Mindeste, was du damals für deinen Kapellmeister hättest tun müssen. Denn was er in diesem Dorf leistete, war von Ideen, Begeisterung und immer von künstlerischen Impulsen geprägt. Jetzt ist es zu spät. Mein Kapellmeister ist tot. Die Kaszner-Kapelle ist tot. Die Loris-Kapelle ist tot. Und doch nicht. Ihrer aller Geist lebt und ist von den gleichen Ideen, Begeisterungen und Impulsen geprägt wie eh und je. Was einigen verrückt vorkommen mag, ist für andere das höchste der Gefühle. Die ehemaligen Kaszner-Musikanten planen im Jahrmarkter Kulturheim ein Musikantentreffen. Liest man die Festschrift 100 Jahre Loris-Kapelle, dann kommt man folgerichtig zu der Vermutung, dass dies heuer nicht das letzte Musikantentreffen ehemaliger Jahrmarkter in der Banater Großgemeinde Giarmata sein dürfte. Das wiederum hilft mir, mein schlechtes Gewissen ein wenig zu entlasten. Der Mythos lebt, mit oder ohne Festschrift. |
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