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Bei der Granatapfelernte in Rahova – 36
prosa [ ]
Erinnerungsroman von Anni-Lorei Mainka [Almalo ] (1958 - 2014)
Serien: Ãœbersetzungen

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von [Delagiarmata ]

2022-04-08  |   

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Von Bildern und Fotografien

Es sind 44 Jahre her, dass ich dieses Bild gemacht habe. Es war ein Sommertag, warm mit viel Sonne, und ich glaube, es war ein Sonntagmorgen, darum trug ich ein Röckchen und einen Pullover. Auf dem Weg zum Brotzentrum, wo auch der Fußboden nach Teig roch und die Verkäuferin seit einer Ewigkeit, Genossin Ghenea, eine Art schnurloses Telefon des Stadtviertels war, machte Tică, der Fotograf von Piatra Olt, Bilder.

Er hat mit dem Bildermachen seine Familie erhalten. Als er noch klein war, hat er Ziegen gezüchtet, dann bei Vulcan gearbeitet und mit einem russischen Apparat jeden fotografierte, der es wollte. Sein erstes Labor in dem kleinen Fachwerkbau war in eine Ecke zwischen Küche und Eingang eingezwängt, dann hat er sich „Block genommen“*. Dort wurde das Labor generalstabsmäßig im Wohnzimmer installiert. Er hatte verschiedene Schneidegeräte fürs Fotopapier, große und kleine, nur er wusste, von wo er sie aufgetrieben hatte, Klemmen, improvisierte Gefäße und Substanzen in allen Farben. Er war sehr froh, dass er die Ziegenzucht hinter sich gelassen hatte und „im Block wohnte, mit Wasser im Haus und WC im Warmen“.

So kam es zu diesem Lichtbild im Hof der Schule auf der Măgurele-Chaussee. Vor der Schule, damals noch ohne Zaun, umgeben nur von Sträuchern, befand sich die Haltestelle des einzigen Busses in der Zone: Nr. 56. Vor der Schule hielten die Personenwagen und Busse vom Institut für Atomphysik, durch deren Fenster, ich habe das schon einmal irgendwo erwähnt, uns Augen verschiedener Menschen mit fremden Blicken betrachteten: Chinesen, Vietnamesen oder Schwarze. Einige winkten uns zu, als würden wir uns in der Mitte eines Sees befinden, jeden Moment bereit, zu ertrinken, während sie am Ufer standen und uns „auf Wiedersehen“ zuriefen, breit lächelnd mit diesen weißen Zähnen, nach denen du in Rahova lange suchen musstest. Einige warfen uns aus dem Fenster zerknüllte Päckchen zu. Diese Menschen, von deren Existenz ich nur aus den Erdkundebüchern erfahren hatte, studierten eine sehr komplizierte Materie, „die Wissenschaft, Bomben herzustellen“, dort, nicht weit von meinem und Mihăițăs Feld, im IFA-Institut, damals das einzige im Land.

Die Chaussee war speziell gepflastert worden, erzählten die Leute, damit diese Autos leichter bis zum Institut fahren konnten, damit sie, diese Menschen aus anderen Welten, uns beim Bau unserer eigenen Bombe helfen sollten. Viele Straßen waren in einem erbärmlichen Zustand, sogar die Rahova-Straße* war voller Löcher. An der Seite hatte sie einen Graben, in dem sich das Regenwasser sammelte, an einigen Ecken der Straße gab es auch Pumpbrunnen. Aber es fiel niemand ein, sich zu beklagen, ob der vielen Pfützen und Löcher in der Straße. Und selbst wenn wir es gewollt hätten, ich weiß nicht, wo auch wir uns hätten beklagen können. Der Schlamm reichte dir im Herbst bis an die Knöchel, die Autos verspritzten dich von oben bis unten und alle lachten, nur der Verspritzte senkte den Blick und schwieg. Wäre es sinnvoll gewesen, im Rathaus oder bei der Polizei zu reklamieren? Ich glaube nicht, den Mut brachte keiner auf. Ins Rathaus und zur Polizei gingen wir selten, denn es gab ein ungeschriebenes Gesetz: Meide alles, was uniformiert ist. „Lieber arm, aber unbescholten“, sagte Mutter.

„Hei Anilori“, sagte Mihăiță, „aber warum bringen diese Leute nicht die Bombe aus ihrem Land mit, warum müssen wir unsere eigene Bombe haben? Wieviel kostet, hei … eine Bombe?“
„Die Bomben kauft man nicht, jedes Land hat alles, was man dazu benötigt, ich glaube, wir lernen, unsere eigene Bombe zu machen … Wenn die Türken so wie früher kommen, dass wir vorbereitet sind …“
„Der Türke kommt zu Pferd, habe ich in der Schule gehört, er ist zu Stefan der Große und Michael der Tapfere gekommen, sagt Genossin, und dass der vom Hundert-Lei-Schein* sie dann fertiggemacht hat …“
„Na, schau her, es hat sie niemand fertiggemacht, sie sind bloß erschrocken … und jetzt, siehst du, wieviel Busse zum Institut fahren … Wir werden unsere Bombe haben und basta! Dann wirst du sehen, wie sie erschrecken!“
„Im Institut ist auch Tante Petra und Olimpia und Tante Bubu, und alle Tanten aus dem Viertel arbeiten dort.“
„Aber ich glaube nicht, dass sie Fremdsprachen beherrschen, um die Menschen zu verstehen, sie fahren bloß mit ihnen im Bus.“
„Und wenn wir die Bombe haben?“
„Dann werden wir mit ihr andere erschrecken, so wie du mich mit deiner Schleuder erschreckt hast, mit der du die Sperlinge getötet hast, die wir zwischen den Rosen eingegraben haben und Mutter uns getadelt hat.“
„Gut, ich mache das nicht mehr, ich wollte sie nicht töten, ich habe sie nur getroffen.“
„Ich glaube dir, Mutter war böse, weil wir auch einige Zwiebeln von was weiß ich welchen holländischen Blumen getroffen haben, so auch die Bomben, sie treffen uns nicht, sie erschrecken uns nur.“

Und so standen wir an den Sommerabenden und betrachteten vom Chausseerand, wie Busse des Instituts an uns vorbeifuhren, viel sauberer gewaschen als unser Bus Nr. 56, der nur bis in die 13. September-Straße fuhr. Als ich im Lyzeum war, hieß er eine Zeitlang Bus 103 und fuhr bis zum Unirii-Platz, dann haben sie ihn 303 getauft und die Busse waren größer, ich glaube irgendwelche Geschenke aus der ehemaligen DDR. Sie waren geräumiger, die Türen öffneten sich schneller, sie knarrten nicht wie die mit der Nummer 56, eine Art Intercity auf der Rahova-Straße, würde ich sagen. Wie auch immer, die, die ihn bestiegen, waren besser gekleidet, einige lasen Bücher und sie redeten nicht laut oder hatten Schilfkörbe dabei, so wie die Benutzer der Tramway.

Seit Anfang der 80er Jahre kenne ich das Schicksal des Busses nicht mehr genau. Der Unirii-Platz hat sich brüsk verändert und zwischen den Schutthalden konnte der Bus, der Tag für Tag Teil meines Lebens und das jener aus Rahova und aus Măgurele war, nicht mehr umdrehen, um uns zurück zu unseren Häusern zu bringen. Ja, bis dahin drehte der Bus sich hinter dem Tribunal und dem Brâncovenesvc-Spital um. Aber ohne Spital und Loch über Loch, ah, auch ohne den traditionellen Platz und die Riesen vom Unirii konnte unser Bus aus Măgurele nicht mehr die gewohnte Route befahren. So haben sie ihn wieder auf der kurzen Strecke eingesetzt: nur auf der Măgurele-Chaussee bis zur Barriere und zurück.

Ich glaube, die Menschen aus diesen IFA-Bussen bemitleideten uns, etwa so wie ich es mit den Kindern tat, die Lesezeichen mit einer abgefärbten Zeichnung irgendeines Pharaos von den Eingängen der verschiedenen Tempel im ägyptischen Tal der Könige, verkauften. Nein, wir wähnten uns nicht arm, sondern waren nur Augen und Ohren. Ungefähr das stelle auch ich dar auf jenem Sonntagsbild vor der Schule, wie ich so ohne jedwede Zukunftssorgen dastand, im orangenfarbenen Rock und Schuhen aus Deutschland, ja, die ich nur sonntags benutzen durfte. Man nannte sie Sonntagskleider oder gute Kleider. Mutter und Vater hatten auch Sonntagskleider und ich denke, damals hatten das alle Leute. Die meisten Sonntagskleider wurden aus dem Schrank genommen, um zur Kirche getragen zu werden. Und nur die Sonntagskleider waren parfümiert. Wen interessierte es, dass sie eigentlich mit einem Geruch aus Holz und Naphthalin durchdrängt waren? Es gab Anzüge für Männer und Krawatten und Hemde, die so gut gewaschen und appretiert waren, dass sie so manchen Mann am Hals genierten.

„Vater, drückt es dich?“
„Ja, Mutter hat wieder etwas Hartes ins Wasser gegeben.“
„Ich habe nichts hineingegeben, so muss es sein, damit auch du gut aussiehst, es ist Sonntag … ah, und du hast vergessen die Wale in den Kragen einzulegen.“
„Mutter, welche Wale? Wale leben im Meer und nicht in Krägen.“
„Halt den Mund und misch’ dich nicht ein … sie heißen eben so, Wale, und man trägt sie, damit der Kragen gerade steht.“

Ich habe mich nicht mehr eingemischt, weil ich gelernt hatte, dass das Recht auf Seiten des Größeren ist. Er weiß sofort, wie der Kragen steh’n muss oder die Ärmel, mit oder ohne Wale.

Ich hatte von Bomben gehört, einigen Kriegen, irgendwo sehr weit weg von uns. Bagdad oder Beirut waren zum Beispiel für uns Städte, wo Aladin mit seiner Zauberlampe lebte und man auf Perserteppichen flog. Abends sahen wir manchmal am Fernseher kurze Nachrichten, in denen Bomben fielen und Soldaten sich bekämpften. Für uns war das allerdings weit entfernt und in unseren Spielen gab es vier Lager: die Russen, die Amerikaner, die Indianer und die Deutschen.

Wartet: Wir sollten die Türken nicht vergessen. Aber „Türken“ spielten wir nicht, sie waren nur eine Art Bau-Bau, die irgendwann mal Unheil stifteten und jetzt Gott sei Dank im Geschichtebuch waren. Wo sie sich wirklich aufhielten, interessierte uns nicht, unser Verstand fürchtete sich bloß vor der Idee, dass sie von dort zurückkommen könnten, von weit her, wohin sie aus Angst vor den Soldaten Stefans des Großen und Michaels des Tapferen geflüchtet waren.

Beim Erdbeben von 1977 habe ich zum ersten Mal gehört, dass es im Institut wirklich auch gefährliche Substanzen gab. Aber wer hat gedacht, dass sie uns irgendwann schaden könnten? Das Erdbeben hat allen ihre Seelenlandschaften verändert, den Kindern und Bukarest. Aber wir, dort zwischen den kleinen Straßen und großen Träumen, haben nicht erfahren oder wollten nicht erfahren, wie es um die Landkarte der Stadt steht.

Es war eine kleine Schule, die Hauptschule an der Măgurele-Chaussee. Ich war einmal mit Mutter dort bei einer Volkszählung, ein anderes Mal bei den Wahlen irgendeines Stadtteilabgeordneten. Die kleinen Fenster ließen das Licht nur bruchhaft und durch Risse eindringen. Auf dem Korridor kamen zwei Kinder kaum aneinander vorbei. Hunden, Katzen und Hühner gingen ungehindert durch die Hintertür ein und aus. Dann verloren sie sich auf dem Feld, das wie alle Felder und Farmen und Weingärten dem Staat gehörte.

Wir waren im Vergleich mit anderen reich, hatten einen Garten mit vielen Bäumen und Blumen. Der Rest der Welt hatte einen ganz kleinen Garten, in welchem sie das Nötigste anpflanzen mussten. Und den Esstisch hatten sie im Sommer draußen unter dem schattigen Traubengewölbe. Dort mussten alle und alles Platz finden.

Die Schule ist noch immer dort. Aber jetzt gehört der Platz vor dem Gebäude der Schule, und die Kinder haben eine Schaukel, eine Plastikrutsche, die Fenster sind aus Thermopan und ein Schulkörper ist breit und viereckig. Wie bin ich erschrocken: Alles ist in Türkis gestrichen. Ich glaube, diese Farbe wurde von den Schülern auserkoren, sie tragen türkisfarbene Ringe und Ohrringe, anscheinend ihre Lieblingsfarbe. Ich habe in Europa kein türkis gestrichenes Haus gesehen, aber die Schule zieht schon von weitem die Aufmerksamkeit auf sich, besonders weil sie auch einen Pförtner, Antennen und einen Eisenzaun hat. Jetzt betreten die Schule nur Kinder, die Hühner und anderen Tiere bleiben in ihren Häusern oder breiten sich am Rande der Chaussee aus, denn es beachtet sie niemand. Die Schinder hatten Berufsverbot. Das wurde mir offiziell mitgeteilt.

Die Fotografie vor der Schule ist schwarz-weiß und auf hartem Papier. Damals gab es noch keine Farbbilder, nur eine Art blasse Farbimitation. Der Fotograf strich mit einer Farbe über das Foto. Das Endprodukt war ein Misch-Masch, aber der Abgebildete freute sich und bestellte ein großes Bild, auf dem die Konturen schwach gefärbt waren, alle hatten superlange Augenbrauen, schön geformte Lippen, mit kleinen und vorsorglich überdeckten Ohren, kein Haar befand sich an der falschen Stelle. Die Männer schauten voller Verwunderung geradeaus, die Frauen hatten feuchte Augen vor Freude, endlich zu dem Fotografen gelangt zu sein, neben dem geliebten Mann. Dieses Foto wird sie das ganze Leben begleiten, dort in der „schönen Stube“, vorne, von der ein Schüler aus dem Kreis Argeș mir sagte, sie wäre speziell gebaut worden für die großen Bilder „von Vater und Mutter sowie Großmutter und Großvater“.

In der damaligen Zeit galt das Fotografieren als ein Luxus und war teuer. Auf der Calea Rahovei war an der Haltestelle das Atelier „Foto Stela“. Das Haus, ansehnlich vor Zeiten, mit Holztür, ist verlassen, nur über der Tür sieht man auch jetzt die verblasste Tafel „Foto Stela“. Als Motter aus Amerika kam, bat Mutter sie eines Morgens, mit uns zu „Foto Stela“ zu gehen, um ein gemeinsames Bild zu machen. Wenn ich es betrachte, habe ich den Eindruck, der Fotograf hat mit einer magischen Maschine fotografiert. Mutter sah sehr jung aus und Motter, ihre Mutter, auch. Wir hatten natürlich lange Wimpern und eine Porzellangesichtsfarbe auf hartem Papier mit schon abgenutzten kleinen Zacken an den Rändern.

Etwa bis in die 60er Jahre wurden die Bilder am Sitz des Fotografen gemacht, später wurde er bei Hochzeiten und Taufen zur Kirche oder nach Hause eingeladen, aber das war dann „noch mehr Luxus“. Wenn du einen Fotografen hattest, hieß es, du hast es geschafft. Die Glücklichen, nach der Hochzeit „mit Fotograf“ und Hochzeitsgästen für ein paar Wochen im Schaufenster in Habt-Acht-Stellung ausgestellt, gekämmt und mit Brillantin-Glanz, schienen eingenommen von jenem ewigen Stolz, dem Stolz, es ins Schaufenster des Stadtviertels geschafft zu haben! Es war etwas ganz Besonderes, es ins Schaufenster von „Foto Stela“ in Chirigiu, also ins Herzen Rahoveis, geschafft zu hast. Die anderen entblößten ihr Haupt, wenn sie dir begegneten, in der Kirche verbeugten sie sich vor dir, und beim Bäcker konntest du dich vorne anstellen, denn, schau her, du warst ein Mensch mit Rechten, denn „du hattest Geld für einen Fotografen mit Scheinwerferlicht bei der Hochzeit“.


[aus dem Rumänischen von Anton Potche]


*Worterklärungen
- Block genommen = sich eine Wohnung im Wohnblock genommen
- Rahova-Straße = rum.: Calea Rahovei
- der vom Hundert-Lei-Schein = gemeint ist Nicolae Bălcescu (1819 - 1852), rumänischer Historiker, Schriftsteller, Diplomat


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