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Bei der Granatapfelernte in Rahova – 22
prosa [ ]
Erinnerungsroman von Anni-Lorei Mainka [Almalo ] (1958 - 2014)

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von [Delagiarmata ]

2020-04-17  |   

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Ein harter Winter – Teil II

Ein harter Winter, aber Bilderbuchweihnachten.

Weißbeladene Tannen, die Stiefel knirschten, aus einigen Wohnblocks, an denen wir vorbeikamen, roch es nach zubereiteten Speisen. Wir befanden uns im Süden Kölns, wo die Mehrheit der hier ansässigen Sachsen, Russen und Türken wohnten. Ich halte das fest, damit Sie sich vorstellen können, wie stark ein Kraut, gekochter Wein, Zimt und gebrannte Nüsse riechen können.

Hier schneit es selten. Es war eigentlich der erste Winter, in dem an Weihnachten alles weiß war. Und nachdem ich drauf bestanden hatte, dass Mutter nicht gleich in einem dunklen Kellerraum versteckt wird, also dass sie noch einen Tag mit uns bleibt, damit der ein oder andere sich noch von ihr verabschieden oder Auf Wiedersehen sagen kann …, fiel mir auf, dass es Jahre, sehr viele Jahre her war, dass ich nicht mehr auf frischem Pulverschnee gerutscht war, dass ich keinen zugefrorenen Wassertümpel in der Straßenmitte mehr gesehen hatte, dass der Schnee mir nicht mehr unerwartet hinter den Kragen fiel, ich mich nicht mehr an die laute Straße in den Winterabenden in Rahova erinnert hatte, als Mihăiță und die anderen Kinder, Mioara mit ihrem Bruder Nelu, Angelica, Vica oder Nuța, mich fingen und festhielten und nicht losließen, bis ich nicht ein paar Worte auf Deutsch sagte.
„Komm, sag Ich liebe dich!“, baten sie mich, mit von Kälte und Methyl blauen Lippen und zwischen schiefen und gelben Zähnen durch den Winterhauch lachend.
„Ich liebe dich“, flüsterte ich und versuchte zu entkommen, während die Leute an uns vorbeigingen.

„Lass sie los, die Nemtzoaica* kommt und dann werdet ihr eine deutsche Lektion bekommen … Komm Annchen, was wollen die von dir?“, fragte ab und zu eine Nachbarin, zwischen zwei mit Kartoffeln und Bier gefüllten Tragetaschen hin und her schwankend, und mit kleinen Schneeflocken auf dem Schnurrbart, die schmolzen und sich in kleine Tropfen verwandelten, die mir auf die Wangen fielen und von ihr dann als Tränen in meinem Gesicht gedeutet wurden.

„Seht nur her, Ihr seid doch verrückt, jetzt habt Ihr sie wirklich zum Weinen gebracht. Hallo, hallo, Koana* Ani, nimm deine Tochter, denn diese Wilden reißen sie auseinander“, rief sie über den Zaun mit einer Dem Rădulescu* würdigen Sorge. Empathie klang in den Worten dieser dicken Frauen, die fast alle eine Art Schnurrbart und kräftige Arme vom Tragen und Wiegen von zwei, drei Kindern hatten.

Den Stolz dieser Frauen habe ich auch jetzt noch nicht verstanden. Ich denke zurück und sehe, wie sie sich auf die Zehenspitzen stellten, um über den Zaun Mutters Blumen zu betrachten. Und sie nahmen die Augen nicht mehr von den Rosen.

Sie lebten in Armut, wurden von besoffenen Männern geschlagen, hatten am Monatsende nichts zu essen, aber sie waren geschminkt, alle mit den gleichen Frisuren, sie schritten lässig, als würden sie im Straßenstaub schwimmen, aber mit aufrechtem Gang, und keine blickte zu Boden.

Doch, eine kam ab und zu betrunken vom Straßenende und hielt sich am Zaun fest, sie war auch allein und schwächer als die anderen. Ich weiß nicht mehr, wie sie hieß, sie hatte aber von Zigaretten verbrannte Lippen und gelbe Finger unter den Nägeln. Sie war die einzige Frau, die allein von der Arbeit kam, die mich nicht mit Worten verzärtelte und jeden Abend fragte, wo ich zur Schule gehe.

Mutter befürchtete keine Gefahr für uns, es waren Kinderspiele, wir waren frei auf der Straße. Nur einige hatten ein Moped, wenige ein Motorrad mit Beiwagen und, ich glaube, es gab nur zwei, drei Fahrräder im ganzen Viertel, von denen zwei uns, also Vater und Mutter gehörten. Vater, hatte dort, von wo der Krieg ihn bis zu uns gebracht hatte, das Fahrradfahren gelernt und erzählte, dass in seiner Kindheit alle Welt mit dem Fahrrad fuhr. Jetzt weiß ich auch warum.

Im Rahova-Viertel war das nicht möglich. Es gab so viele Löcher, dass du nach zwei Haltestellen entweder nicht mehr auf dem Fahrrad gewesen wärst oder es keine Räder mehr gehabt hätte, oder es hätte dich ein Auto auf der Chaussee überfahren, denn dort fuhr man schnell und nach eigenen, individuellen Regeln, die man heute nicht als „Verkehrsregeln“ einstufen würde.

Es war der Boulevard, der zum Institut für Atomphysik führte, und die Busse waren stets voll, auch mit vielen Fremden.

Aber zwei-, dreimal im Jahr fuhren die schönsten Wagen vorbei, die der Familie Ceaușescu, die die Fakultät und den Arbeitsplatz ihres Sohnes Valentin inspizierte, gehörten. Dann rannten wir alle an die Chaussee mit der gleichen Begeisterung, die wir nach einem Begräbnis oder einem Hochzeitszug, dem wir uns erst hinter dem Akkordeonisten anschließen durften, verspürten.

Wir waren neugierig, zu sehen, wie die schwarzen Volgas eins nach dem anderen vorbeifuhren, mit reinen Scheinwerfern und verdunkelten Scheiben, so dass man nur den Fahrer sah. Manchmal, glaube ich, waren sie leer, denn der Genosse konnte doch nicht gleichzeitig im Fernseher, auf den Feldern und bei uns in der Chaussee auf dem Weg zum Institut sein. Aber viel habe ich mir darüber nicht den Kopf zerbrochen, sondern imitierte die Jungs, staunte über die Größe eines Volgas und erfuhr dabei, dass diese Autos eigentlich aus Russland kommen.

„ Hör zu, Vater, warum bauen wir unsere Autos nicht selber, so dass die russischen Menschen sie uns nicht geben müssen?“
„Weil Ihr Bauern seid und Bauern können keine Autos produzieren, also Rumänien ist ein Agrarland und vor dem Krieg nannte man es die Kornkammer Europas, und es ist besser so“, antwortete Vater mir ruhig.
„Aber du bist kein Bauer, du arbeitest mit Motoren und Strom auf der Baustelle und hast dort Ingenieure. Macht doch ein Auto und nennt es Rumänien, damit wir keins von den Russen mehr nehmen müssen.“

„Aber Kinder, was habt Ihr gegen russische Autos? Die sind robust und widerstandsfähig. Gut, Mercedes ist besser, aber Rumänen haben kein Geld für so einen Luxus …“
„Ach Vati, du weißt nichts, die Russen sind schlecht, sie haben JFK* erschossen, Marilyn Monroe umgebracht und ich glaube auch Dej*. Ich bin mir aber nicht sicher, ich glaube den haben die Türken umgebracht.“ Für uns Kinder war das allerdings einerlei. „Vater, wann kommen die Amerikaner?“
„Komm, geh lieber spielen und bring den Kindern Deutsch bei, als dass du Dummheiten in die Welt posaunst … Die Amerikaner kommen nicht, weil sie über dem Ozean wohnen, sie fliegen höchstens, und es ist schon viel Zeit verstrichen, ich kann mich gar nicht mehr erinnern, dass wir auf sie gewartet haben …“
„Vati, was ist das, ein Ozean?“
„Fertig, raus zum Spielen und gib den Kindern auch Bonbons.“

Wir liefen, um eine Autokolonne zu sehen, denn Pferdewagen sahen wir genug, und im Zentrum, wo ich in die deutsche Schule ging, fuhren in den 60er Jahren noch keine Präsidentenkolonnen.

Von Zeit zu Zeit sahen wir einen Mercedes, wussten aber nur nach dem Stern, dass es ein Mercedes war. Ãœbrigens, bei uns im Stadtteil hatten einige Kinder viele Mercedessterne, die sie an ihre Roller montierten.

[aus dem Rumänischen von Anton Potche]

*Worterklärungen

- Nemtzoaica (rum.: nemțoaica) = die Deutsche (eine im Rumänischen oft benutzte Benennung für eine deutsche Frau, der Gebrauch des Wortes schwankte zwischen Respektbezeugung – so wie hier – oder Antipathie)
- Koana (rum.: coana, cucoana) = gnädige Frau
- Dem Rădulescu (1931 - 2000) = beliebter rumänischer Schauspieler
- JFK = John F. Kennedy (1917 – 1963)
- Dej = Gheorghe Georghiu-Dej (1901 – 1965), mit kurzen Unterbrechungen von 1944 bis zu seinem Tode Generalsekretär der Rumänischen Kommunistischen Partei, von 1961 bis 1965 Vorsitzender des Staatsrats und damit Staatsoberhaupt Rumäniens

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