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Bei der Granatapfelernte in Rahova – 11 – 2. Teil
prosa [ ]
Erinnerungsroman von Anni-Lorei Mainka [Almalo ] (1958 - 2014)

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von [Delagiarmata ]

2017-02-17  |   

zum Originaltext  | 



Mihăiță und ich schmiedeten dort am Rande des Teiches Pläne für unser Erwachsensein. Wir träumten mit den Händen unter dem Kopf und dem Gesicht himmelwärts gewandt, träumten, aus unserem Teich ein Meer zu machen, mit Strand, wie wir es in Schwarzweißfilmen gesehen hatten.

Wie auch immer, den Liegestuhl Tante Kathe Fiegers hatten wir, ein paar Tische und Stühle fanden wir noch – vor den Toren! -, und wir träumten wie wir das Eis am Stil essen und frei leben werden, am Ufer unseres eigenen Meeres.

Wir wussten nicht, wie das große Meer, Pontus Euxinus, in Wirklichkeit aussah, denn keiner von uns hatte es gesehen. Als ich das erste Mal von Sulina zurückkam, wo ich Vater auf der Elektrifizierungsbaustelle besucht hatte, habe ich viele Abende lang unter den staunenden Augen Mihăițăs, Mioaras, die die beste Schülerin des Stadtteils war, der Katzen, die anscheinend etwas von meinen Erzählungen verstanden, und besonders der Nachbarn erzählt. Die Katzen und Mioara mussten mir glauben; sie haben das Viertel nicht verlassen und ich brachte die Nachrichten Sommer für Sommer von draußen.

Als ich den Nachbarn erzählte, dass ich im Meer geschwommen bin und einen Leuchtturm – den alten!, den ältesten, ich weiß gar nicht, ob er noch steht – nachts aus dem Boot der Fischer Frangetti gesehen habe, schüttelten sie die Köpfe, um anzudeuten, dass es nicht gut ist, was meine Eltern mit mir machen – ts, ts, ts, auf keinen Fall.

Dann nahmen sie Stellung, erklärten Mutter, dass es sehr schlecht ist, wenn sie mich so unter den Fremden herumspazieren lasse, „entblößt“, mit offenem Haar und besonders im Badekostüm.

Die Reisen nach Sulina sind weitgehend aus der Erinnerung gelöscht, die Katzen tot, Mioara im Großmutteralter, aber die Nachbarn leben bis heute, Hühner herumtreibend und auf alles eindreschend, was sich bewegt, mit wässrigen Schildkrötenblicken unter den Augenrunzeln, als würden alle, die bei ihnen vorbeigehen, ihre Steuern nicht zahlen.

Die Familie des Vetter Mărin war eine Plage für alle in der Umgebung, für die Katzen und besonders für die Hunde war es aus mit der Freiheit, und seit einigen Jahren sind sie sehr beschäftigt mit dem Vergiften der Straßenhunde und dem Sandstehlen von der Landstraße, um vor dem Hof zu pflastern. Es gibt diese Menschenart: Sie schrumpfen, sie verzehren sich und überwachen nachts wie die Fledermäuse anderer Leute Zeit.

Mihăiță blieb länger auf dem Feld. Mutter Lila kam erst, nachdem es dunkel wurde. Er musste weder besonders viel lernen, noch Abend für Abend die vielen Blumen gießen, weil sie überhaupt keine hatten.

Im Obstgarten wohnten vor 40 Jahren einige Familien. Wie ich erfahren habe, wohnt jetzt nur mehr eine dort, am Ende des von kleinen, grauen, kreuz und quer von Bauhaien gebauten Villen unterbrochenen Horizonts.
In die Vila meiner Kindheit ist die Familie Dumitrescu zurückgekehrt und jetzt wohnen dort Eltern, Kinder, Enkel - eine Oase von Türen, Blumen, freie Bäume, Hunde, Katzen, Rechen, Sensen, eine Anzahl kleinerer Gebäude, die sich um die Hauptvila winden.

Aus der Vorkriegszeit blieb in dem Eingangskorridor ein großer Seif, in dem wir uns verkrochen, wenn wir Verstecken spielten im damals einzigen Haus mit Stockwerk, Holztreppe und im Hinterhof ein leeres Schwimmbecken. Später wurde es für die Zucht von Sumpfbibern hergerichtet.

Und wir haben uns ein paar Jahre lang immer wieder im Haus der Familie Dumitrescu versteckt, die sich überhaupt nicht ärgerte, wenn sie mit einem Kinderschwarm aus der Umgebung fürliebnehmen musste.

Die vier Dumitrescu-Brüder waren zu jener Zeit Jugendliche. Sie hatten bloß einen Vater, der eine Art Bojar war, sagten die Nachbarn. Vor 1947 arbeiteten einige und hatten etwas und investierten: Herr Dumitrescu hatte in eine Villa investiert, die auch heute noch steht, aber sie ist nicht mehr die einzige. So viel blieb ihr: Sie ist die einzige Villa mit Geschichte, mit Seif, in dem wir spielten, und die ein Schwimmbecken hatte, als das ganze Viertel das Meer noch nie gesehen hatte.

Dann war Herr Dumitrescu der einzige Mensch, der, als ich klein war, eine Kuh hatte, während die anderen in den 50er Jahren nur einige Hühner und einen Hund halten konnten. Und Herr Dumitrescu hatte als Erster im Viertel einen Gehstock. Die anderen wackelten, bis sie nicht mehr in der Straße auftauchten.

So weit ich mich erinnere, blieb nach dem Krieg noch eine Familie in Bragadiru*: die Familie Hundeshagen, aus dem Westen geflüchtete Händler; sie haben einen deutschen Dialekt gesprochen, aber nicht sächsisch. Sie hatten auch zwei Mädchen, die wiederum Mädchen in meinem Alter im deutschen Lyzeum hatten. Die alten Hundeshagen haben den Mädchen Häuser, die mit Hof und Bogeneinfahrt nicht demoliert wurden, an der Rahova-Chaussee in der Nähe der Sebastian-Straße gekauft. Alle sind, so wie sie konnten, zum Ende der 80er Jahre in den Westen gegangen.

Die verbliebenen Bewohner der Obstplantage haben verkauft, um diesem Friedhof Platz zu machen, denn es war teurer, die Toten als die Lebenden weit aus dem Viertel zu bringen.
Der Tudor-Vladimirescu-Friedhof hat die Bewohner des Rahova-Viertels aufgenommen, bis kein Platz mehr war. Jetzt gibt es das Umherschlendern, Almosen und Blumen nur vor dem Tor. Wer Geld hat, aber viel, viel, findet noch ein Plätzchen in Tudor Vladimirescu und zieht unter Feierlichkeiten ein; verzweifelte Rufe begleiten einen Haufen verschreckter Menschen, die sich aber anscheinend erlauben, die Zeit zu ignorieren, im Glaube sie kaufen zu können. Viel Mäßigkeit gibt es in unseren Tagen rund um die Barriere nicht.

Familie Benz, die im Herzen der Kirschenplantage wohnte und gleich nach dem Krieg aus Siebenbürgen gekommen war, hatte viel Feld, ein kleines Haus und viele weiße Kirschen, die mich faszinierten. In der damaligen Zeit hatte noch niemand von uns japanische Kirschen gesehen; bezaubernd waren unsere weißen Kirschen, wie sie überall herabschneiten.

Es gab noch eine Besonderheit: Familie Benz hatte keinen Strom. Bei uns zu Hause gab es eine Gaslampe für Notfälle, aber ohne Strom zu leben, schien mir unmöglich.

Im Winter lief ich manchmal von Zuhause weg, um zu sehen, wie Andreas und Kathi Benz sich durchschlugen. Märchenhaft, das richtige Wort, für das, was ich in den Wintertagen dort erlebt habe.

Andreas Benz, ein sympathischer, immer zu Schabernack aufgelegter Mensch, wurde hier am Rande Bukarests geboren und hat schließlich Tante Kathi geheiratet.

Sie war nach 10 Jahren Deportation nach Sibirien zurückgekehrt, aber nicht nach Mediasch*, woher sie stammte, sondern blieb in Bukarest, wo sie bei Andreas’ Eltern arbeitete und sich um die Tiere kümmerte. Familie Benz hatte neben Andreas noch ein Mädchen, das Tierärztin wurde. Es ging ihm gut, aber niemand sprach mit ihm, weil es Dorel geheiratet hatte und sich weigerte im Dialekt zu sprechen; dazu ist es noch in die Partei eingetreten, und „so was macht man nicht“.

Vater und Mutter kannten diese Vorurteile nicht, aber auch sie hatten es nicht leicht. Jahrelang hat auch mit ihnen niemand geredet. Sie wurden von Weitem gegrüßt. Erst als sie zu Geld gekommen waren, haben sie ihr Haus fertiggestellt und sich so gekleidet wie jene, die ihre Herkunft verbergen: mit Hut, Lederschuhen und Manschettenknöpfen. Damals bekamen wir sonntags aus allen Teilen Bukarests Besucher, die mit einer, zwei Blumen kamen und mehrere Tage blieben.

Vater erklärte ihnen, dass wir keine Blumen brauchen, sie aber sahen ihn nur komisch an, weil er nicht Dialekt, sondern ein einwandfreies Deutsch sprach, und blieben den vollen Tischen und der reinen Luft zuliebe, und wenn sie gingen, schwankten sie unter der Last der Tragetaschen und der Napfkuchen.

Im Obsthain der Familie Benz spielten abends durch die Fenster die Lichter der Gaslampen mit dem Mondschein und schufen wie kaum anderswo viele Schatten und Träume.

Die Vögel in den Bäumen unterhielten sich ununterbrochen. Die Schatten der Äste im Schnee schienen riesengroß. Der Himmel fiel über den Obstgarten und dieser währte sich nicht, sie verschmolzen miteinander, die Sträucher, das Bellen der Wolfshunde, sie wirkten wie Argonauten. Ich hatte große Angst vor ihnen. Ich weiß nicht, in wie viele Teile die jemand zerreisen konnten.

Und was Tante Kathi noch hatte, war ein großer Keller in der Tiefe der Erde voll mit sonderbaren Dingen, Tabletts beladen mit Quittenkäse, eine starke Gelatine aus Quittensirup mit Nuss, Dunstgläser aller Größen voll mit unvorstellbaren Sirups, Sakuska, Tomatenmark, Auberginen, Kürbisse, Kartoffel, Gurken, Kraut, „gebrannte Nüsse“.

Der Winter hätte ein Leben lang anhalten können. Die Wege bis in den Obstgarten schienen kurz zu sein, nach Hause länger, denn es belasteten uns die schweren Tüten mit einigen Päckchen, in denen es nach Knoblauch und Zwiebeln aus der Wurst roch.

Sie hatten keine Kinder und ich war für sie so eine Art Versuch. Sie lasen mir vor und erzählten mir, wie sie nach Bukarest kamen aus ihrem Ardeal*, das ihnen als das verheißungsvolle Land erschien. Warum sie aber nicht dahin zurückkehrten, wo es doch so gut war, weiß ich nicht.

In den 70er Jahren hat ihnen die Staatsfarm einen Handel vorgeschlagen und sie sind in ein Haus in der Frații-BuzeÈ™ti-Straße unweit der Mărgeanului-Straße gezogen, von wo sie nach Deutschland ausgewandert sind. Dort - geizig, wie sie waren - lebten sie in einem Keller, in dem Tante Kathi Lungenkrebs bekam und gestorben ist. Onkel Andreas hat noch ein paar Jahre gelebt, bis er sich nicht mehr bewegen konnte, hat sich eine Gattin aus Thailand gekauft, die ihn verlassen hat, so dass er allein, betreut von einer in Nürnberg arbeitenden Frau aus Siebenbürgen gestorben ist.

Das Haus auf dem Staatsgut haben beide nie vergessen.

Tante Kathi hatte von ihrer Deportation nach Sibirien tiefe Falten unter dem Mund auf dem Kinn mitgebracht. Die hätte sie von der Kälte dort, hat sie mir erzählt. Zehn Jahre in der Grube hatten aus ihr einen Helden ohne Weiblichkeit gemacht. Die Tatsache, dass sie keine Kinder bekommen konnte, vertieften ihre Falten in Richtung Wangen und vereinten sich manchmal mit jenen, die von den Augen herabkrochen.

Sie war eine der Frauen, die dem deutschen Schriftsteller Alfred Margul Sperber beim Ordnen seiner Bücher behilflich war, war seine Bibliothek doch zu groß. Von hier aus seinem Haus ging Celan ins Exil, hier wurden so viele traurige Briefe aus dem Nachkriegsexil gelesen. Schließlich hat Tante Kathi mich einige Male mitgenommen, um die riesige Menge von Büchern zu sehen, wie sie entstaubt und danach in ihre Welt im Regal eingereiht wurden. Auf dem Fußboden lagen Zeitungen und die Frau des Schriftstellers wischte meine Hände dauernd mit Spiritus ab. Ich glaube, sie hat Mihăițăs Hände nicht gesehen; sie hätte sehr viel Spiritus für uns benötigt, wenn sie unser Nachhausekommen vom Teich gesehen hätte.

Sie war eine Frau ein wenig größer als ich, also sehr klein, und sie kümmerte sich um die Bücher, hütete sie unter Verschluss, sie hatte mehrere Schlüssel in einer Hand und in der anderen den Spiritus. Sie wusste bestimmt nicht, dass es viele gab, die keine Bücher gesehen hatten oder denen damals der Sinn nicht nach Lesen stand.

Aus dieser Bibliothek las ich noch als Kind die ersten Bücher über Afrika, über das Exil und Deportationen.

Viel habe ich damals nicht verstanden … Es ist nicht besonders gut an einem Ort geboren zu werden und dann an einen anderen zu ziehen, um, deine Muttersprache zurückstellend, der Einsamste zu werden; ungefähr an so viel erinnere ich mich von damals.

Wie auch immer, damals wollten Viele weg, egal wie allein sie sein würden. Aber dieses Weggehen war diffizil. Einige fuhren aufs Land oder in die Berge und kamen beladen und fröhlicher zurück. Diejenigen, die bis zum Bahnhof oder Flughafen fuhren, kehrten nicht mehr zurück und ich habe sie nie mehr gesehen.

Ein Kollege Vaters mit polnischem Namen, dessen Herkunft er sich selber nicht erklären konnte, hat eine einzige glänzende Ansichtskarte aus Deutschland geschickt, ohne Absenderadresse. Vater konnte ihm nicht antworten. Die Karte stand hinter dem Glas des Küchenschranks, jede Fliege sah sie an, spazierte auf den Straßen jenes München. Vater betrachtete sie ab und zu und weinte, er schien viele gemeinsame Erinnerungen mit diesem Ianoșevschi zu haben.

Ich schwieg, wir hatten uns mit der Zeit angewöhnt, im Wechsel zu weinen und nicht zu fragen. „Und der Rest ist Schweigen!“ *– ein Vers, den ich spät verstanden habe. Mit Sicherheit wussten die Menschen damals, warum sie schwiegen und weinten.

[aus dem Rumänischen von Anton Potche]



*Worterklärungen
- Bragadiru = ein Städtchen am südwestlichen Rand von Bukarest
- Mediasch (rum.: Mediaș) = Stadt in Siebenbürgen
- Ardeal (rum.) = Siebenbürgen
- Und der Rest ist Schweigen ( rum.: Restul e tăcere) = Zitat aus Hamlet von William Shakespeare; rumänischer Film von Nae Caranfil (2007)

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