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Die Rebellion
prosa [ ]
IX-XIX

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von [Joseph_Roth ]

2014-05-20  |     |  Veröffentlicht von miron stefan



IX
Das Unglück Andreas Pums hatte noch einem anderen wohlgetan: dem Herrn Arnold nämlich. Sein Zorn war verraucht. Den unangenehmen Luigi Bernotat versuchte er zu vergessen. Morgen wollte er zum Rechtsanwalt gehen. Er küßte seine Frau und seine blühenden Kinder. Er sprach wieder freundlich mit dem Dienstmädchen. Und obwohl ein strenger Ernst über seinem Wesen und seinen Bewegungen und seinen Worten lag, atmete seine Umgebung dennoch auf. Er warf einen freundlichen Schatten auf seine Familie.
Andreas Pum aber ging in den Stall. Da stand Muli und hauchte Wärme aus. Eine Fledermaus hing im Winterschlaf zwischen zwei Pfosten, die im Winkel ein Dreieck bildeten. Das feuchte Stroh stank und war in der Nähe der Tür gefroren. Der Wind blies durch ihre Fugen. Andreas sah ein paar Sterne des nächtlichen Winterhimmels durch eine Ritze. Er spielte mit einem Strohhalm. Er flocht einen Ring aus drei Halmen und schob ihn auf das Ohr Mulis. Das Tier war gut und ließ sich liebkosen. Es hob mit freundlicher Langsamkeit einen Hinterfuß, und das sah aus, als hätte es den ungelenken Versuch gemacht, Andreas zu streicheln. Es war hell genug, daß man seine Augen sehen konnte. Sie waren groß in der Dunkelheit und bernsteingrün. Sie waren feucht, als stünden sie voller Tränen und schämten sich doch zu weinen.
Je weiter die Nacht fortschritt, desto kälter wurde es. Andreas hätte am liebsten gewimmert, wenn er sich nicht vor dem Tier geschämt hätte. Sein fehlendes Bein schmerzte wieder, nach langer Zeit. Er schnallte die Krücke ab und betastete seinen Stumpf. Er hatte die Form eines abgeflachten Kegels. Dünne Rillen und Vertiefungen zogen sich kreuz und quer über das Fleisch hin. Wenn Andreas seine Hand darauf legte, milderte sich der Schmerz. Aber der andere, der in seinem Innern wütete, hörte nicht auf.
Die Nacht war still und hell. Die Hunde bellten. Ferne Türen gingen. Der Schnee knisterte, obwohl ihn niemand betrat, und nur, weil der Wind über ihn hinstrich. Draußen schien sich die Welt zu weiten. Man sah durch die Ritze ein schmales Stückchen Himmel. Aber es gab eine deutliche Vorstellung von seiner Unendlichkeit.
Wohnte Gott hinter den Sternen? Sah er den Jammer eines Menschen und rührte sich nicht? Was ging hinter dem eisigen Blau vor? Thronte ein Tyrann über der Welt, und seine Ungerechtigkeit war unermeßlich wie sein Himmel?
Weshalb straft er uns mit plötzlicher Ungnade? Wir haben nichts verbrochen und nicht einmal in Gedanken gesündigt. Im Gegenteil: wir waren immer fromm und ihm ergeben, den wir gar nicht kannten, und priesen ihn unsere Lippen auch nicht alle Tage, so lebten wir doch zufrieden und ohne frevelhafte Empörung in der Brust als bescheidene Glieder der Weltordnung, die er geschaffen. Gaben wir ihm Anlaß, sich an uns zu rächen? Die ganze Welt so zu verändern, daß alles, was uns gut in ihr erschienen, plötzlich schlecht ward? Vielleicht wußte er von einer verborgenen Sünde in uns, die uns selbst nicht bewußt war?
Und Andreas begann mit der Hast eines Menschen, der in seinen Taschen nach einer vermißten Uhr sucht, nach verborgenen Sünden in seiner armen Seele zu forschen. Aber er fand keine. War es etwa eine Sünde, daß er die Witwe Blumich genommen hatte, und rächte sich jetzt ihr toter Mann? Ach! lebten die Toten? Hatte er sich je an Muli, dem Esel, versündigt? War das etwa ein Unrecht, daß er das Tier, als es einmal unterwegs stehenblieb und etwas Unerklärliches auf dem Boden suchte, mit einem sanften Schlag weitertrieb? Ach, war der Schlag auch sanft gewesen? War es nicht vielmehr ein harter, ein schmerzlicher, ein unbarmherziger? »Muli, mein Esel!« flüsterte Andreas und legte seine Wange an die Stelle, die er geschlagen hatte.
Gegen Morgen schlief Andreas ein. In seinen ersten Schlaf rauschte schon der frühe Lärm der Straßen. Das Tier blieb unbeweglich. Es ließ ein leises Grunzen hören und näßte das Stroh, das sofort gefror. Sein Urin roch schwer und betäubend.
Am nächsten Tag kam Andreas grußlos in die Stube. Er entnahm selbst Brot und Margarine dem Schrank. Die kleine Anna kam aus der Schule. Sie schmiegte sich an ihn, als wollte sie ihn versöhnen. »Spiel ein bißchen!« bat sie. Und Andreas spielte auf seinem Leierkasten die wehmütigsten Lieder, mit denen der Fabrikant das Instrument ausstaffiert hatte. »An der Quelle saß der Knabe« und die »Lorelei«. Und die Melodien erinnerten ihn an jenen glücklichen Sommertag, an dem er zum erstenmal in den Hof dieses Hauses gekommen war.
Oh, wunderbar war der Sommer, eine kostbare Schnur glücklicher Tage, Tage der Sonne und der Freiheit, der alten Lindenbäume in den gastfreundlichen Höfen. Die Fenster in allen Stockwerken flogen auf, rundliche rote Freudengesichter steckten die Mädchen wie festliche Lampions zu den Küchen hinaus, und der Duft guter Speisen sättigte die Nase. Lachende Kinder tanzten um die Musik, das Kreuz blinkte in der Sonne, die Uniform, heute von Stroh und Unrat beschmutzt, wie sauber und ehrfurchterregend war sie damals!
Katharina kam. Mit sachlichen, knappen Bewegungen hantierte sie im Hause. Sie schien ihren Mann gar nicht mehr zu sehn. Sie stellte wortlos und mit einem heftigen Ruck eine irdene Schüssel auf seinen Platz. Er kannte diese kleine Schüssel mit der schadhaften Glasur. Manchmal bekamen ein alter Bettler, eine verirrte Katze, ein zugelaufener Hund aus ihr zu essen. Katharina selbst schlürfte die Suppe aus einem rotgeränderten Porzellanteller. Auch hatte sie den Kohl von den Kartoffeln gesondert vor sich aufgestellt. Aber in der kleinen Schüssel Andreas' mischte sich alles, und ein großer Knochen ragte zwischen dem Mischmasch wie ein Dachtrümmerstück im Schutt eines zerfallenen Hauses.
Was sollte er tun? Er aß und wurde demütig und richtete von Zeit zu Zeit sein Auge auf Katharina. Sie hatte ein rotes Gesicht und war sehr sorgfältig onduliert, mit vielen kleinen Wellchen, die bis zu den Augen reichten, und in der Mitte trug sie ein paar kurzgeschnittene und in die Stirn gekämmte, am Ende mit einem scharfen Lineal abgeschnittene Härchen, die wie Fransen eines Schals aussahen. Sie duftete wie ein Friseurladen nach allerlei Gerüchen, Patschuli mischte sich mit Haaröl und dieses mit Kölnischem Wasser. Ein anderer hätte sofort erkannt, daß Katharina einen ganzen Vormittag im Damenfrisiersalon zugebracht hatte. Andreas aber merkte nichts.
Ihn beschäftigte nur das Rätsel der plötzlichen Veränderungen, die sich um ihn vollzogen hatten. Es war wie eine Verzauberung. Er versuchte, sich den Vorfall in der Straßenbahn klar ins Gedächtnis zu rufen. Er sah wieder den Herrn, der ihn angegriffen hatte. War es nicht umgekehrt gewesen? Was hatte der Herr nur gesagt? Daß die Invaliden simulierten! Und es stimmte. Wie oft hatte Andreas selbst Simulanten gesehen. Woraus entnahm er eigentlich, daß der Herr ihn persönlich gemeint hatte? Er sprach ganz allgemein. Er ärgerte sich mit Recht über die Versammlung. Waren es doch Tagediebe, Rebellen, Gottlose, sie wollten die Regierung stürzen, und sie verdienten ihr Schicksal.
Es war eben eine Ausnahme, daß Andreas das Pech hatte, mit einem unfreundlichen Schaffner, mit einem verständnislosen Polizisten zusammenzustoßen. Sie sollen ihn nur vor Gericht bringen. Hier wird er kategorische Bestrafung der untergeordneten Organe verlangen. Hier wird er seinen Lebenslauf erzählen, seine Kriegsteilnahme, seine Begeisterung für das Vaterland. Er wird die Lizenz wiederbekommen. Er wird Katharinas Achtung aufs neue erringen. Er wird Herr im Hause sein. Der Mann seiner Frau. Sie stand auf. Ihre breiten, in ein Mieder gepreßten Hüften bewegten sich selbständig, und die strotzende Fülle ihrer Brüste zappelte, wenn sie einen Schritt machte. Andreas erinnerte sich an ihre gemeinsamen Liebesfeste, an den Druck ihrer nachgiebigen und dennoch muskulösen Oberschenkel, und er höhlte die Hand und glaubte wieder die breite, weiche, schwellende Endlosigkeit ihrer Brust zu fühlen.
Ach! laßt uns nur vor Gericht kommen. Dort sitzen keine ungebildeten Polizisten und keine rohen Schaffner. Die Gerechtigkeit leuchtet über den Sälen der Gerichtshöfe. Weise, noble Männer in Talaren sehen mit klugem Blick in das Innere des Menschen und sondern mit bedächtigen Händen die Spreu vom Weizen.
Hätte Andreas eine Ahnung von der Jurisprudenz gehabt, so hätte er gewußt, daß die Gerichte sich bereits mit ihm beschäftigten. Denn sein Fall gehörte zu jenen sogenannten »eiligen Fällen«, die nach einem Erlaß des modernen Justizministers sofort in Behandlung genommen wurden und zur Erledigung kamen. Schon hatten die großen, rollenden Räder des Staates den Bürger Andreas Pum in die Arbeit genommen, und ohne daß er es noch wußte, wurde er langsam und gründlich zermahlen.
X
Am nächsten Morgen kam eine gerichtliche Vorladung an den »Lizenzinhaber Andreas Pum«. Das Schriftstück trug ein Amtssiegel, einen weißen, lithographierten Wappenadler auf einem roten, runden Papier, und obwohl die Adresse von einer flüchtigen Hand geschrieben war und der Gerichte vielbeschäftigte Eile bewies, verbreitete das Schreiben dennoch eine Ahnung von jener langsamen Feierlichkeit, die unsere Ämter auszeichnet. Es enthielt die Vorladung vor die zweite Kammer, welche die eiligen und unbedeutenden Strafsachen zu behandeln hatte. Zum erstenmal wurde hier Andreas Pum als ein »Beschuldigter« bezeichnet, ein Wort, das, wenn es von einem Gericht geschrieben war, schon fast wie »Bestrafter« klang. Im übrigen enthielt das Schreiben nur noch die nähere Terminbestimmung, einen runden, roten Stempel, der etwas blaß und undeutlich ausgefallen war, und die unleserliche Unterschrift eines Richters, die anzudeuten schien, daß der Mann der Gerechtigkeit vorläufig nicht gekannt sein wollte.
Mehrere Male las Andreas das Schreiben des Gerichts, in einer törichten und aussichtslosen Hoffnung, daß er zwischen den gedruckten Zeilen des Formulars etwas herauslesen könnte, Nützliches oder Schädliches, etwas von der Stimmung, die den Richter beherrschte. Als das nicht gelang, versuchte er, sich das Gericht vorzustellen, das Kreuz, die Lichter, die Barriere, die Angeklagtenbank, den Ex-officio-Verteidiger, den Richter, den Schreiber, den Gerichtsdiener, die Aktenbündel und das große Bild des Gekreuzigten, zu dem er innerlich schon betete. Er ging in die Kirche aus gelben Ziegelsteinen hinüber, in der er seit seiner Trauung nicht gewesen war. Die Kirche war leer, ein Fensterflügel stand in der Höhe eines Stockwerks offen, und kalte Luft blies der Winter in das Gotteshaus, das dennoch muffig roch, nach Menschen, ausgelöschten Talgkerzen und Tünche. Andreas faltete die Hände, kniete nieder und sagte mit der dünnen Stimme, mit der er als Schulknabe vor dem Unterricht gebetet hatte, drei, vier, fünf Vaterunser auf.
Hierauf fühlte er sich beruhigt, gesichert vor böser Überraschung, vor dem gerichtlichen Urteil, das im Schoße des Morgen lag.
Er kehrte heim und traf einen fremden Mann im Zimmer. Der stand auf und verneigte sich leicht und setzte sich wieder und sagte sitzend zu Andreas: »Ich warte auf Ihre Frau Gemahlin. Sie entschuldigen schon! Ihre Frau Gemahlin muß in einer Viertelstunde dasein. Ihre Frau Gemahlin war heute früh bei mir im Geschäft. Sie können selbst sehen, wie pünktlich ich bin. Den ganzen Tag unterwegs und immer pünktlich. Das ist meine Devise.«
Andreas betrachtete den Mann feindselig, obwohl er ihn weder kannte noch verstanden hatte. Gewiß war er zu irgendeinem bösen Zweck hier – Andreas ahnte es. Er gab sich einige Mühe, den Beruf und die Absichten des Fremden zu erraten. Aber es gelang ihm nicht. Solange der Fremde saß, machte er den Eindruck eines großgewachsenen Mannes, wenn er aufstand, war er sehr klein. Denn er hatte kurze Beine. Sein vorgewölbtes Bäuchlein hätte auf eine gewisse Gutmütigkeit schließen lassen, ebenso wie die rötlichen Mädchenwangen und der harmlose kleine schwarze Schnurrbart und das glatte, gepuderte und säuberlich rasierte Kinn, das in der Mitte eine lächelnde Mulde hatte. Auch das Näschen war zierlich, sorgfältig und wie aus Gips geformt. Aber in den kleinen schwarzen Augen brannte ein böser Glanz. Der Fremde sah aus wie ein pausbäckiger Knabe mit dem Wuchs und dem Gebaren, der Stimme und dem Bartwuchs eines Mannes. Von ihm ging eine heitere Bosheit aus, eine niederträchtige Gutmütigkeit. Er saß da und hatte gar nicht das Angesicht eines Wartenden. Es schien, daß er sich nicht einen Augenblick langweilte. Seine brennenden Augen sprühten Funken über die Gegenstände des Zimmers, den Teppich, den Tischläufer, die Vase aus blauem Stein, das Kissen mit der Stickerei, als wollte er alles in Brand setzen. So saß er da, lebhaft beschäftigt, und ließ merken, daß sein reger Geist auch an den gleichgültigsten Dingen der Welt Interesse zu finden imstande war.
Immer noch duftend, von einer Wolke parfümierten Frohsinns umgeben, trat Frau Katharina ein, und als hätte ihn plötzlich etwas auf seinem Sitz gestochen, sprang der Mann in die Höhe. »Ich begrüße Sie ergebenst!« sagte er. »Wir wollen gleich ans Geschäft gehen. Nur nichts aufgeschoben! ist meine Devise.«
Katharina klirrte mit den Schlüsseln. Andreas beobachtete sie und den Mann schweigsam aus der Ecke. Er folgte ihnen, als sie hinausgingen. Auf seiner Stirn stand kalter Schweiß, und sein Herz klopfte in wuchtigen, die Brust fast sprengenden, von Zeit zu Zeit aussetzenden Schlägen. An die Tür gelehnt, die den Hof vom Flur trennte, stand er und sah, wie seine Frau den Stall Mulis aufsperrte und den Esel hinauszog. Es war sonnig und trocken, und das kleine Tier warf einen unwahrscheinlich riesigen Schatten auf den glitzernden Schnee. Vor Andreas' Augen verfinsterte sich die Welt. Der strahlende Himmel wurde dunkelblau und schien sich herabsenken zu wollen wie ein Vorhang. Alle Gegenstände wurden dunkelgrün, wie durch ein Bierflaschenglas gesehen. Alles spielte sich in dieser zauberhaften Traumbeleuchtung ab. Der Fremde tätschelte den Esel. Er kniff ihn, als wollte er sich überzeugen, ob das Fell dick genug sei. Er kitzelte das Tier an den Ohrenspitzen, daß es unwillig den Kopf wandte und schüttelte.
»Sehen Sie«, sagte der Fremde, »was fang ich mit so einem Tier an? Ich will ja damit nicht gesagt haben, daß ich es überhaupt nicht brauche, aber was fang ich mit einem Tier an? Wenn es wenigstens ein Pferd wäre, ein kleines Pferdchen«, sagte er mit zärtlicher Stimme, als spräche er schon zu einem kleinen Füllen.
»Ich sagte Ihnen ja: ein Esel«, erwiderte mit resoluter und schriller Stimme, die nichts Gutes verhieß, Frau Katharina.
»Gewiß, gewiß«, sagte der Mann mit niedergeschlagenen Augen, »ein Esel, gewiß. Aber so ein kleines Eselchen!«
»Ein Esel ist doch kein Kamel!« schrie Frau Katharina.
»Belieben zu scherzen, ha, ha, ein Esel ist gewiß ein Esel. Aber es gibt große und es gibt kleine Esel, auch ganz winzige Tierchen. Ich habe schon viel kleinere Tierchen gesehen!«
»Na, sehen Sie!« triumphierte Katharina, »Sie sagen's doch selbst!«
Zögernd griff der Mann nach der Brieftasche. Er zog drei Scheine, sie waren sehr neu und knisterten, und er zählte sie zweimal und hielt sie in die Luft und knatterte noch mit ihnen eine Weile.
Dann schlang er sein kleines, fettes Ärmchen um Muli, und das Tier trottete hinaus, an Andreas vorbei. Katharina blickte über ihn hinweg, als wäre er ein Bestandteil des Türpfostens.
Andreas sah seinem Esel bis zur Tür nach. Der Mann wandte sich noch einmal und grüßte: »Ergebenster Diener!« sagte er.
Andreas humpelte ihm nach. Er sah bis an das Ende der Straße. Da ging der Mann, und Muli trottete am Rande des Bürgersteigs, hart neben der Bordschwelle, das liebe Tier, das warme, kleine Wesen. Es hatte goldbraune Augen gehabt, und sein grauer Leib barg eine menschliche Seele.

XI
Der Tag, an dem Andreas vor Gericht erscheinen sollte, brach an wie ein ganz gewöhnlicher Tag, wie alle Tage, die ihm vorangegangen waren. In der Nacht, die Andreas auf dem Sofa, ohne Kissen und in Kleidern zugebracht hatte, war ihm eine großartige Rede eingefallen, deren Wirkung keine andere sein konnte als die, daß man ihn um Entschuldigung bitten und den Herrn, den Polizisten und den Schaffner einsperren würde. Der Morgen beruhigte Andreas. Um zehn Uhr sollte der Termin stattfinden. Es ist fast sicher, daß bereits um zwölf Uhr Andreas Pum siegreich und im Besitz seiner Lizenz das Gerichtsgebäude verlassen wird.
Die Sonne schien etwas wärmer, und der Frost war gebrochen. Der Schnee schmolz. Es tropfte von den Dächern mit einer süßen, hoffnungsfreudigen Melodie. Ja, es begann sogar ein Sperling zu zwitschern. Die freundliche Milde der Natur war wie Gottes tröstende Vergebung.
Andreas hätte sich nicht auf Anzeichen dieser Art verlassen, wenn er in den Gesetzen des Staates heimischer gewesen wäre. Er wußte nicht, daß die gut geölten Räder dieser Maschine auch manchmal – und besonders in kleinen Fällen – sich unabhängig voneinander drehten und, jedes für sich, das Opfer zermahlten, das ihnen der Zufall ausgeliefert hatte. Denn nicht nur den Gerichten, auch der Polizeibehörde steht das Recht zu, Strafen zu verhängen, und wer es mit ihr angefangen hat, muß zuerst von ihr erledigt werden. Es schien der Polizei, daß Andreas sich einer gewöhnlichen »Übertretung« schuldig gemacht hatte und daß er der Lizenz nicht mehr würdig war, die er durch eine besondere Gnade des Staates bekommen. Andreas Pum mußte also vor allem verhört werden.
So kam es, daß, während er zur Wanderung aufs Gericht rüstete, die Tür sich auftat und ein Kriminalagent eintrat, um Andreas zur polizeilichen Vernehmung abzuholen. Andreas verwechselte in seiner katastrophalen Unkenntnis der staatlichen Bestandteile diesen Mann der Polizei mit einem der Gerichte und sagte, daß der Termin erst für zehn Uhr angesetzt wäre. Der Beamte ließ sich die Vorladung zeigen, klärte Andreas mit der Sachkenntnis eines Menschen von Fach über den enormen Unterschied auf, zwirbelte dabei seinen blonden Schnurrbart und sagte endlich: »Pflicht ist Pflicht!« Das bedeutete, daß er nichts dafür könne, daß er aber seinen Auftrag, Andreas zur Polizei zu bringen, ausführen müßte. Vor dem Kommissär, so riet er, möge Andreas seine Vorladung zeigen.
Andreas Pum tröstete sich. Zwar ahnte er ein neues Unglück. Aber sein Verstand sagte ihm, daß der Staat für seine eigenen Irrtümer verantwortlich sein müsse und daß der Staatsbürger nicht das Recht habe, die Behörden auf ihre Widersprüche aufmerksam zu machen. Also ging er. Unterwegs erzählte er dem freundlichen Kriminalbeamten den ganzen Vorfall. Der Mann lachte herzlich und stark, seine blauen Augen blitzten, und seine breiten, weißen Zähne leuchteten. »Ihnen geschieht nichts!« sagte er. Und Andreas faßte neuen Mut.
In der Polizei mußte er warten. Entweder war der Beamte, der ihn verhören sollte, noch nicht anwesend oder mit anderen Dingen beschäftigt. Die Normaluhr an der kahlen Wand des Amtszimmers zeigte halb zehn. Andreas näherte sich der Barriere, hinter der ein Mann in Uniform von gelben Kartothekzetteln Namen und Daten auf rote Zettel umschrieb, und sagte: »Entschuldigen Sie!«
Der uniformierte Mann schrieb weiter. Er behandelte den Buchstaben K. Darin wollte er nicht gestört sein. Erst als er die erste Seite umblätterte, die mit L anfing, wandte er den Kopf.
Andreas zeigte ihm die Vorladung. Der Uniformierte fragte, was für eine Geschichte das nun schon wieder wäre, als hätte er bereits eine schwere Enttäuschung mit dieser Persönlichkeit erlebt. Andreas erzählte den ganzen Vorfall haarklein. Im Zimmer warteten zwei Straßenmädchen. Sie lachten.
Der Uniformierte faltete die Vorladung wieder zusammen und sagte: »Warten Sie!« Dann schrieb er weiter. Endlich ging eine Tür auf, die Stimme eines unsichtbaren Menschen rief: »Andreas Pum!«
Andreas trat vor einen Herrn und machte eine Verbeugung, wobei seine Krücke ein wenig ausrutschte, so daß er mit der Hand gegen den Schreibtisch fiel, hinter dem der Kommissär saß. »No, no!« sagte dieser.
»Erlauben bitte«, stotterte Andreas, »ich habe hier eine Vorladung!«
»Das weiß ich«, sagte der Herr, »antworten Sie, wenn Sie gefragt sind.«
Hierauf begann er, den Bericht jenes Polizisten vorzulesen, der Andreas aufgeschrieben hatte. Als er zu der Stelle kam, an der die Lizenz erwähnt wurde, schwang er sie ein wenig hoch, so daß Andreas sie sehen konnte.
»Ist das so?« fragte der Kommissär.
Es war ein junger Mann mit einem sehr hohen Stehkragen und einem sehr kleinen, dünnen Gesicht. Sein spitzes Kinn machte Anstalten, im Kragen zu verschwinden. Er sprach mit einer heiseren Stimme. Dabei glättete er seine Frisur mit beiden Händen und prüfte mit sanften Fingerspitzen immer wieder die gerade Linie seines Scheitels.
»Ja«, sagte Andreas, »aber nicht ganz.«
»Wie denn sonst?« fragte der Kommissär.
Andreas erzählte seine Geschichte zum drittenmal. Dann holte er schnell seine Vorladung hervor und zeigte sie dem Kommissär. Der sah nach der Uhr und sagte: »Zu spät! Weshalb sagen Sie das nicht gleich?!«
»Was soll ich jetzt tun?« fragte Andreas.
»Jetzt werden wir Sie erst erledigen.«
»Wie lange dauert es?«
»Das geht Sie gar nichts an«, schrie der Kommissär. »Gar nichts an«, wiederholte er – und sprang auf. Er begann, im Zimmer hin und her zu gehen. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie: »So eine Frechheit!«
Andreas fühlte, daß ihm Blut ins Gesicht schnellte. Haß gegen den Beamten ergriff ihn, schüttelte ihn so, daß er zitterte. Mit dem Stock schlug er auf den Boden. Speichel floß in seinem Mund zusammen. Er spuckte aus.
Der Beamte ballte die Fäuste. Andreas sah ihn in weiter Ferne. Der Beamte schrie. Andreas hörte seinen Schrei gedämpft und matt. Rote Räder kreisten vor Andreas' Augen. Er hob den Stock und traf einen Lampenschirm. Er klirrte schrill. Zwei Männer stürzten sich auf Andreas.
»Vierundzwanzig Stunden!« schrie der Beamte. Dann überreichte er den Akt Andreas Pum einem Schreiber: »Lizenzentziehung!« seufzte er und sagte: »Der nächste!«
Und während man Andreas über den Hof des Gebäudes in den Arrest für leichte Fälle führte, entschwanden alle Gedanken seinem Hirn. Es war, als ob sein Schädel auslaufen würde. Eine schmerzliche Leere entstand in seinem Kopf.
XII
Der Arrest für leichte Fälle schien sehr tief zu liegen. Andreas fiel ins Halbdunkel. Er blieb an der Tür stehen. Er hörte den knarrenden Schlüssel. Er war wie tot. Ausgelöscht war die Sonne. Endgültig verronnen waren die Tage, unauffindbar verschüttet wie große verlorene, auseinandergerollte Perlen. Das Leben kehrte nicht mehr wieder. Es war vertan. Nichts blieb übrig. Tot war das Auge. Über alles, was es gesehen und jemals gespiegelt, breitete sich der Vorhang. Hinter dem verblaßten die Bilder der Dinge, der Tiere, der Menschen. Gestorben ist Muli, der kleine Esel, an der Straßenecke, hinter der er verschwand. Ein rosiger, rundlicher Tod hatte das Tier gekauft und mit einem kurzen fetten Arm erstickt. Gestorben ist Katharina, Kathi, die breithüftige, hochbusige Frau. Gestorben ist Anna, das kleine Mädchen mit den dünnen Zöpfen. Die große, weiße, breitflügelige Schleife war ein Vampir auf dem Kopf des Kindes. Ausgelöscht, wie mit einem großen Schwamm, als wäre sie nur eine Kreidezeichnung auf matter Tafel gewesen, sind das Spital, der Krieg, die Lizenz, die Kameraden, der Ingenieur Lang, Willi, seine Braut, der Leierkasten, die Straßenbahn. Nur in zarten, erlöschenden Umrissen wehten sie durch die Erinnerung.
Der Lagerplatz stieg auf aus dem Halbdunkel der Zelle, wie von einem Schnellmaler mit rasendem Pinselstrich an eine Leinwand gefegt. Da ist Kastor, der zottelige Hund mit den grün schillernden Augen, die in der Nacht phosphoreszierten, seine ernste Schweifquaste, die immer zu mahnen schien, weil sie die Bewegung eines väterlichen Zeigefingers nachahmte, sein tappender Schritt, der war wie ein Gang auf Teppichen der Finsternis. Dort der Zaun, braunlackiert und nach Ölfarbe riechend, mit dem dreifach gewundenen Draht auf dem oberen Rande, mit kleinen Zinken und Zacken, wie einer eisernen Zahnreihe. Der Mond geht auf hinter geschichteten Brettern und klettert an vorragenden Latten empor, um sich über den Platz zu ergießen, das Sägemehl zu versilbern, das weich auf dem Boden liegt. Und Andreas schreitet, klirrend mit Waffen und Schlüsseln, den Hund hinter sich, neben sich, vor sich, rund um den Zaun. Wenn er müde ist, streckt er sich aus, den Rücken lehnt er gegen den Zaun, und seine müden Augen gleiten über seinen Bauch, seine Knie, seine Stiefelkappen.
Hört er ein Geräusch, knurrt der Hund, steht er behutsam auf, Schlüssel und Waffen an sich drückend, und setzt, wie ein Tier auf Pfaden der Beute, ein Bein vor das andere, ein Bein vors andere, und die Stiefel unterdrücken das gewohnte Knarren, weil der Fuß sie dazu zwingt.
Er war ein guter Nachtwächter, Andreas Pum, er hätte es bleiben sollen.
Er wurde aber einbeinig.
Er verlor ein Stück von sich und lebte weiter.
Man kann ein gewichtiges, wertvolles, unbedingt notwendiges Stück seiner selbst verlieren und dennoch weiterleben.
Man geht auf zwei Beinen, verliert unterwegs ein halbes aus dem losen Kniegelenk, wie ein Federmesser aus der Tasche, und geht weiter. Es tut nicht weh, das Blut ist nicht sichtbar, es war kein Fleisch, kein Knochen, keine Ader. War's Holz? Eine Krücke? Eine natürliche Krücke? Besser geleimt als die künstliche, geräuschlos wie Gummi und stark wie Stahl?
Man konnte unhörbar gehen und konnte laut schreiten. Man konnte mit beiden Füßen aufstampfen. Man konnte hüpfen. Man konnte einen Fuß in der Hand halten. Man konnte mit beiden laufen. Man konnte Kniebeugen machen, einfache und tiefe. Man konnte exerzieren.
Das alles und noch manches andere können wir nicht mehr.
Wie lange ist es her, daß wir nicht geräuschlos einen Fuß vor den anderen setzen konnten? Jeder unserer Schritte verursachte Hall und Widerhall. Wir kommen mit Geräusch und gehen mit Gepolter. Wir machen einen ständigen Lärm um uns. Die Krücke stößt Löcher in unsere Gedanken. Menschen auf zwei Beinen holen uns ein.
Die Zweibeinigen sind unsere Feinde. Zweibeinig ist der schiefnasige Herr auf der Plattform. Zweibeinig ist der polternde Schaffner. Zweibeinig ist der respektlose Polizist. Zweibeinig ist der Kommissär mit dem spitzen Kinn. Zweibeinig ist Katharina. Zweibeinig ist der rotwangige Tod, der Muli geholt hat. Die Zweibeinigen sind »Heiden«.
Ein Heide ist jetzt Andreas selbst. Er ist verhaftet worden. Man hat ihm die Lizenz genommen. Er ist, ohne Schuld, ein Heide geworden. Würde er sonst im Arrest sitzen?
Es sitzen noch andere in dieser geräumigen Zelle. Gewiß sind es Raubmörder, Gottlose, Halunken.
Aber sie sind auch Heiden, wie Andreas. Er ist ihnen nicht böse.
Zwar hat er nicht geraubt, aber er hat Gott verloren.
Man kann Gott verlieren. Gott fällt aus dem Kniegelenk.
»Was stehst du?« fragte ein Mann, der auf einem Kistenboden saß. »Platz genug für bessere Menschen!«
Andreas setzte sich.
»Du bist Invalide?« fragte der Mann.
»Ja!«
»Wozu trägst du das Blech da an der Brust?«
»Ich weiß nicht.«
Sie schweigen. Aus der Tiefe der Zelle sagte eine heisere Trinkerstimme durch die Luft: »Hast du Zigaretten?«
»Ja!«
Eine Gestalt tauchte aus dem Dunkel auf und schwamm näher, die Finsternis zerteilend.
Es waren drei Männer. Andreas hatte fünf Zigaretten. Sie beschlossen, Ketten zu rauchen.
»Du bist ein Neuer!« sagte der Mann mit der heiseren Stimme.
»Gib das Blech herunter!« schrie einer.
Der dritte trat zu Andreas, riß das Kreuz von seiner Brust und betrachtete es, indem er es ganz nahe vor die Augen führte.
»Haben dir ein Pflaster gegeben!« sagte der eine.
»Welcher Paragraph?« fragte der Heisere.
Der Heisere war ein »Jurist«.
Jemand übersetzte: »Was du ausgefressen hast, will er wissen!«
Andreas sagte: »Ich weiß nicht. Ich bin ja gar nicht hier zuständig. Ich habe eine Vorladung für heute!« Und er zeigte seine Vorladung.
Der »Jurist« las. Er entzündete ein Streichholz, das er lose in der Tasche hatte, an seiner Hose und las. »Du mußt schnell machen, Mensch! Wieviel Uhr ist es?«
»Es ist ja zu spät«, sagte Andreas.
»Na, dann haben Sie dich ja verknackt!«
»Wieso?«
»Weil du nicht da warst. Das Gericht weiß nichts von der Polizei. Und die Polizei weiß nichts vom Gericht. Bist du nicht bei deiner Verhandlung und du bist Angeklagter, dann hast du morgen die Aufforderung, die Strafe anzutreten. Was hast du denn getan?«
Andreas schilderte den Vorfall auf der Straßenbahn.
»Ja«, sprach der Heisere, »das kann körperliche Bedrohung eines Beamten sein. Amtsehrenbeleidigung auf jeden Fall! Es kann tätlicher Widerstand gegen die Staatsgewalt sein. Wenn die Beamten aussagen, daß du sie geschlagen hast, so entscheidet das Gericht: Ein rabiater Kerl! Sechs Wochen! Wärst doch hingegangen?!«
»Sie haben mich ja hierher geholt!«
»Du kehrst einfach nicht zurück. Dann brauchst du auch nicht zu sitzen. Sechs Wochen sind für mich eine Kleinigkeit. Aber für dich nicht. Wovon lebst du eigentlich?«
»Ich habe eine Lizenz! Zum Spielen!«
»Verkauf mir deine Drehorgel!«
»Da muß ich sie aber zu Hause holen!«
»Ich hol sie dir. Wo wohnst du? Gib mir ein Zeichen für deine Alte, daß sie mich erkennt.«
»Reden wir morgen darüber«, sagte Andreas.
»Du bist sehr dumm«, sagte der Heisere. »Du hast alles ganz falsch gemacht. Ich hätte den Herrn verklagt. Man muß sich nur auskennen. Ich hätte ihn verprügelt und verklagt. Wie hat er denn ausgesehen? Vielleicht trifft man mit ihm zusammen. Denn die Welt ist klein und rund.«
Aber Andreas wußte keine genaue Auskunft.
Die anderen schliefen ein. Einer nach dem anderen begann zu schnarchen.
Andreas wollte gern sechs Wochen und noch länger sitzen. Er will lebenslänglich eingesperrt sein.
Man ist auch so ein Gefangener, Andreas Pum! Wie Fangeisen liegen die Gesetze auf den Wegen, die wir Armen gehen. Und wenn wir auch eine Lizenz haben, so lauern doch die Polizisten in den Winkeln. Wir sind immer gefangen und in der Gewalt des Staates, der Zweibeinigen, der Polizei, der Herren auf den Plattformen der Straßenbahn, der Frauen und der Eselskäufer.

XIII
Am nächsten Morgen erhielt Andreas Pum eine Schale Kaffee und ein Stück Brot. Er verabschiedete sich von den drei Männern. »Laß dich nicht wieder ein!« mahnte ihn der Heisere.
Als Andreas die Straße betrat, glaubte er, die Welt wäre neu angestrichen und renoviert, und er fühlte sich nicht mehr in ihr zu Hause; wie man fremd ist in einem Zimmer, in das man wiederkehrt, nachdem seine Wände eine neue Farbe erhalten haben. Fremd und unverständlich waren die Bewegungen der Menschen, der Gefährte und der Hunde. Sehr merkwürdig nahmen sich in dem Gewimmel eines belebten Platzes die Radfahrer aus, wie helle Grasmücken zwischen den großen Autobussen und Bahnen, den Lastwagen und den schwarzen gedeckten Droschken. Ein knallgelbes Automobil schlenkerte, rasselte, wütete über den Platz. An seinen Wänden brannte lichterloh die rote Reklame: »Raucht nur Jota.« Es war der Wagen des Wahnsinns. Der saß im Innern zwischen vier knallgelben und rotbemalten Wänden, und sein Atem wehte verderblich aus dem kleinen Gitterfenster. Wie merkwürdig, daß ich jetzt erst die Zusammenhänge sehe, denkt Andreas. Aus diesem Wagen breitet sich die Verrücktheit über die Welt. Tausendmal ist der Wagen an mir vorbeigefahren. Wie dumm war ich! Das kann kein Postwagen sein! Was hätte die Post mit roten Jotazigaretten zu tun? Was geht das die Post an, was die Menschen rauchen?
Tausend wunderbare Dinge entdeckt Andreas. An der Spitze einer Litfaßsäule befindet sich eine Windfahne. Sie vollführt kleine Drehungen, als könnte sie sich nicht für eine bestimmte Richtung entscheiden. Wenn man nahe vor ihr steht und sie ansieht, hört man auch ihr leises Knattern mitten durch den Lärm der Straße. Was macht eine Windfahne auf einer Litfaßsäule? Zeichen des allgemeinen Wahnsinns? Was ist es denn sonst? Ist es die Aufgabe einer Litfaßsäule, die Richtung des Windes anzuzeigen? Oder Vorträge, Theatervorstellungen und Konzerte?
Andreas schickte sein Auge verzweifelt zum Himmel empor, weil er dem Wahnsinn der Erde entrinnen wollte. Denn der Himmel ist von einer unsterblichen klaren Bläue, und seine Farbe ist rein wie Gottes Weisheit, und ewige Wolken ziehen über sie hin. Heute aber verbanden sich Wolkenfetzen zu verzerrten Gesichtern, Fratzen wehten über den Himmel, und Gott schnitt Grimassen.
Da die Welt sich also verändert hatte, beschloß Andreas, sich mehr um sie zu kümmern und nicht wieder ins Gefängnis zurückzukehren.
Sein Blick fiel auf seine linke Brust. Er erinnerte sich, daß er kein Kreuz mehr trug. Und als hätte er das Bedürfnis, statt des Ordens, den er sich in seinem alten Leben erworben, einen neuen zu gewinnen, der seiner Wiedergeburt entsprochen hätte, wälzte er in seinem Gehirn das Wort »Heide«, ein trotziges Wort, das plötzlich eine neue Bedeutung erhielt und das er sich, als wäre es ein Orden, selbst verlieh.
Andreas Pum erklärte sich als einen Heiden. Schon zählte er sich mit Übermut der Gilde der Verbrecher zu. Und sein Schritt wurde scheu, und sein Blick wurde lauernd, wenn ein Polizist vorbeiging. Als wäre er ein steckbrieflich verfolgter Mörder, so schlich Andreas durch die Seitenstraßen der Stadt.
So kam er, ohne es gewollt zu haben, vor seine alte Wohnung. Es war, als hätte er sie erst gestern verlassen. Er klopfte, wie er es immer getan hatte und wie es wegen des schwer schlafenden Willi nötig war, mit dem Stock dreimal gegen die Tür. Er hörte Willis verschlafenes Gähnen und das Knacken seiner starken Knochen, das immer vernehmbar wurde, wenn Willi die Arme dehnte.
»Da bist du ja wieder!« sagte Willi. »Wo ist dein Konzertflügel?«
Andreas faßte sehr viel Mut, als er Willi sah. Er hatte das Vertrauen, das man für einen Bruder empfindet. In traulichem Halbdunkel lag das Zimmer. Ein heimischer, liebgewordener Duft saurer Muffigkeit kam von den Wänden und von dem schmutzigen Lager. Und derselbe Rausch, der manche empfindsamen Menschen ergreift, wenn sie nach langer Weltreise die Grenze des Landes überschreiten, in dem sie geboren sind – derselbe Heimatrausch erfüllte Andreas Pum.
Willi deckte mit einem Pappendeckel den Tisch. Hierauf brachte er die Wurst, die er immer noch von seinem alten Lieferanten in der Seitenstraße bezog. Dann goß er Schnaps in das Teeglas.
»Gestern haben wir Geburtstag gefeiert von der Klara!« erläuterte er. Und er saß mit breit aufgestemmten Ellenbogen vor Andreas Pum und hörte diese seltsame, diese merkwürdige Geschichte, aus der er schloß, daß sie nur solchen Idioten wie diesem Krüppel zustoßen konnte.
»Du bleibst hier!« entschied Willi mit der Sicherheit eines Mannes, der Macht besitzt und schnelle Entschlüsse zu fassen weiß. »Wollen sehen, ob sie dich hier finden!« sagte Willi und war wirklich neugierig. Hierauf legte er sich wieder schlafen.
Auch Klara hörte mit großer Verwunderung Andreas Pums Geschichte. »So hast du Weib und Kind und alles auf einmal verloren!« sagte sie. Denn sie hatte ein weiches Herz.
»Wie gewonnen, so zerronnen«, sagte Willi. Dann sang er die erste Strophe eines Gassenhauers.
»Fang dir nicht mit den dummen Gerichten an!« sagte die weichherzige, aber immerhin etwas furchtsame Klara. »Geh hin und sitz deine sechs Wochen ab.«
Aber Willi, der von Nachgiebigkeit nichts hören wollte, stieß sie in den Rücken, so daß sie über den Tisch fiel.
In dieser Nacht schlief Andreas den lächelnden, tiefen, reinen Schlaf eines Kindes.
Aber am Morgen kamen zwei Kriminalbeamte. Sie hatten ihn bei seiner Frau nicht angetroffen und von ihr die alte Wohnung erfahren. Sie holten Andreas ab. Sie fuhren mit ihm zur Vorortbahn und ein gut Stück weiter außerhalb der Stadt.
Die Strafanstalt lag in der Nähe weiter Felder, ein breiter Bau, mit vielen zackigen Türmchen aus braunroten Ziegelsteinen.
So lag das Gefängnis, das Land beherrschend, heilig wie eine Kirche und finster wie ein gemauertes Gesetz.
Das letzte, das Andreas von der Welt sah, war eine junge Katze. Sie mochte einem Gefängniswärter gehören. Sie lief, ein helles Glöckchen an einem roten Band um den Hals, an dem Zaun entlang, der das Haus der Gerechtigkeit von einem Feldweg trennte. Sie erinnerte an ein kleines Mädchen.
XIV
An seine Zelle gewöhnte sich Andreas sehr schnell; an ihre saure Feuchtigkeit, ihre durchdringende Kälte und an das schraffierte Grau, das ihr Tageslicht war. Ja, er lernte die Phasen der Dunkelheit unterscheiden, welche den Morgen, den Abend, die Nacht und die nebelhaften Stunden der Dämmerung kennzeichneten. Er wuchs in die Finsternis der Nächte hinein, sein Auge durchbohrte ihre Undurchdringlichkeit, daß sie durchsichtig wurde wie dunkelgefärbtes Glas am Mittag. Er entlockte den wenigen Gegenständen, unter denen er lebte, ihr eigenes Licht, so daß er sie in der Nacht betrachten konnte und sie ihm selbst ihre Konturen darboten. Er lernte die Stimme der Finsternis kennen und den Gesang der lautlosen Dinge, deren Stummheit zu klingen beginnt, wenn die polternden Tage vergehn. Das Geräusch einer kletternden Mauerassel konnte er vernehmen, sobald sie die glatte Wandfläche verließ und eine Stelle erreichte, die den Mörtel verloren hatte und in ihrer rissigen Ziegelnacktheit lag. Die kümmerlichen Äußerungen der großen Stadt, die bis zum Gefängnis drangen, erkannte er, jede in ihrer Art und einer jeden Herkunft und Abstammung. An den feinsten Unterschieden ihrer Laute erkannte er Wesen und Gestalt und Ausmaß der Dinge. Er wußte, ob ein vornehmer Privatwagen draußen vorbeisauste oder nur eine gutgebaute Droschke; ob ein Pferd die zarten Gelenke adeliger Zucht besaß oder die breiten Hufe des billigen Nützlichkeitsgeschlechts; er kannte den Unterschied zwischen dem flotten Trab des Rosses, das ein leichtes Wägelchen auf stummen Gummirädern führte, und jenem, das auf seinem Rücken den Herrenreiter trug. Er erkannte den schleppenden Schritt des alten Mannes und den schlendernden des jungen Naturliebhabers; das flotte Getrippel des hurtigen Mädchens und den zielbewußten Tritt der geschäftigen Mutter. Er konnte mit dem Ohr einen Spaziergänger von einem Wanderer unterscheiden; den Zartgebauten von dem Vierschrötigen; den Kräftigen von dem Schwachen. Er bekam die zauberhaften Gaben eines Blinden. Sein Ohr wurde sehend.
An den ersten Tagen seiner Haft versuchte er noch, durch das hohe Gitter hinauszusehen.
Er schob die Holzbank zum Fenster und ließ nicht nach, bis er mit seinen beiden Händen den unteren Rand der Mauerbuchtung gefaßt hatte, in der das Gitter saß. Ach – er war nur einbeinig, die stumpfe Krücke fand an der glatten Mauer nicht einmal den kümmerlichen Halt, den sein gesunder Fuß noch mühevoll ertastete, und er hing sekundenlang mit seinem ganzen Gewicht an den krampfdurchzuckten letzten Gliedern seiner Finger. So schwebte sein Körper in der Luft und seine Seele zwischen dem Verlangen, einen kargen Ausschnitt der Welt zu sehen, und der Furcht, hinunterzufallen und den Tod zu finden. Nie hatte er größere Gefahr gekannt. Denn niemals – auch im Felde nicht – hatte er so die Kostbarkeit des Lebens empfunden, dieses kleinen Lebensrestes, den ihm die Zelle gewährte. Ihr entriß er mit List und mit tausend Mühen den kurzen Ausblick in die Welt durch das schmutzige Glas hinter den engen Quadraten und kehrte dennoch erfrischt und bereichert in das ewige Dunkelgrau hinunter, als hätte er alle Schönheiten der Erde genossen. Diese kleinen Ausflüge, die sein Auge unternahm, versöhnten ihn immer wieder mit der Unerbittlichkeit seines Kerkers; bewiesen sie ihm doch, daß nicht einmal die Zelle, die ihn abschloß, außerhalb der Welt war und daß auch er noch dem Leben gehörte. Er war ein Krüppel und nicht unbeschränkter Herr über die Erde wie ein zweibeiniger Mensch. Er konnte nicht lautlos gehen, nicht hüpfen, nicht laufen. Aber er durfte wenigstens hinken und mit einer Sohle die Erde betreten – später, sechs Wochen später, kurze sechs Wochen später.
Manchmal hoffte er, die kleine Katze wiederzusehen, die er beim Eintritt in die Anstalt getroffen. Aber sein Auge erreichte gerade noch den Saum des dunklen Föhrenwaldes in der Ferne und einen schmalen Streifen des Himmels; manchmal ein geflügeltes Tier; eine hurtige Wolke; einmal sogar die schmalen Tragflächen eines Aeroplans, dessen Geräusch er immer hörte – denn ein Flugplatz befand sich in der Nähe. Er aber sehnte sich nach der jungen Katze. Sie hatte er in dem letzten Augenblick seiner Freiheit gesehen. In der Nacht hörte sein geschärftes Ohr ein liebliches, kleines Läuten. Er bildete sich ein, es käme von der Schelle, die um den Hals des Tieres gehängt war.
Bald aber vergaß er es. Er kroch nicht mehr die Wand hinauf. Traulich erschien ihm die Zelle. Tausend Bilder erblühten aus seiner Einsamkeit. Tausend Stimmen erfüllten sie. Er sah ein Schwein, das mit dem Rüssel in die Fuge zwischen Tür und Wand des Stalles geraten war und sich nicht wieder befreien konnte. Er kannte dieses Bild. Als Knabe, bei seinem Onkel, der ein Steuereinnehmer auf dem Lande war und einen Hof besaß, hatte er es gesehen. Er sah ein Schwalbennest im Klosett; einen Papagei an einer Kette, der nach seinem Finger schnappte; den Kompaß und den silbergefaßten Zahn an der Uhrkette des Vaters; die Geburt eines Schmetterlings aus der dünnen, gebrechlichen Hülle der Puppe in einer grasgefütterten Streichholzschachtel; getrocknete Anemonen in einem Herbarium; ein goldgerändertes Gesangbuch und den ersten Schlips aus roter Seide.
Andreas hatte viel zu tun. Er mußte die Bilder einordnen. Wie ein Kind an den Sprossen einer Leiter, so kletterte der neugeborene Andreas an diesen kleinen Erinnerungen zaghaft empor. Es schien ihm, als müßte er noch lange klettern, um zu sich selbst zu gelangen. Er entdeckte sich selbst. Er schloß die Augen und freute sich. Wenn er sie öffnete, hatte er ein neues Stück entdeckt, eine Beziehung, einen Klang, einen Tag und ein Bild. Ihm war, als begänne er zu lernen und Geheimnisse täten sich vor ihm auf. So hatte er also fünfundvierzig Jahre in Blindheit gelebt, ohne sich selbst und die Welt zu kennen.
Das Leben mußte anders sein, als er es gesehen. Eine Frau, die ihn liebte, verriet ihn in der Not. Hätte er sie gekannt, niemals wäre es ihm zugestoßen. Was aber hatte er von ihr gekannt? Nur die Hüften, den Busen, ihr Fleisch, ihr breites Gesicht und den schwülen Hauch, den sie ausströmte. Woran hatte er geglaubt? An Gott, an die Gerechtigkeit, an die Regierung. Im Kriege verlor er sein Bein. Er bekam eine Auszeichnung. Nicht einmal eine Prothese verschafften sie ihm. Jahrelang trug er das Kreuz mit Stolz. Seine Lizenz, die Kurbel eines Leierkastens in den Höfen zu drehen, schien ihm höchste Belohnung. Aber die Welt erwies sich eines Tages nicht so einfach, wie er sie in seiner frommen Einfalt gesehen hatte. Die Regierung war nicht gerecht. Sie verfolgte nicht nur die Raubmörder, die Taschendiebe, die Heiden. Offenbar geschah es, daß sie sogar einen Raubmörder auszeichnete, da sie doch Andreas, den Frommen, ins Gefängnis schloß, obwohl er sie verehrte. So ähnlich handelte Gott: er irrte sich. War Gott noch Gott, wenn er sich irrte?
Jeden Morgen gingen die Insassen dieses Hauses im Hof spazieren. Der Hof war dicht gepflastert, von kleinen Ziegelsteinchen war der Boden bedeckt, und man sah kein Stückchen Staub, kein Stückchen Erde. Ein großes Ereignis war eine Henne, die oft im Hof erschien. Hundertvierundfünfzig Sträflinge wallten, einer hinter dem andern, mit gesenkten Köpfen immer in der Richtung von rechts nach links, immer die vier Wände entlang. In der Mitte gingen die weiß-braun gesprenkelte Henne und der Aufseher, der ein Rohrstäbchen in der Hand schwang und einen Revolver an der Hüfte trug. Am linken Ärmel hatten die Gefangenen ihre schwarze Nummer. Der Zug begann mit Eins und endete mit Einhundertvierundfünfzig. Viermal gingen sie das Quadrat des Hofes ab. Dann war die Stunde um. Sie sprachen nicht miteinander. Sie sahen sehnsüchtig nach der Henne. Einer lächelte manchmal. Der dreiundsiebzigste war Andreas Pum.
Einmal erblickte er im Hof ein Stückchen Zeitungspapier. Der Aufseher sah gerade in die entgegengesetzte Richtung. Andreas hob es auf und barg es in der Hand. Er war sehr neugierig. Es war, als würde in seiner Zelle ein Mensch erscheinen, um mit ihm zu sprechen. Vielleicht, ja wahrscheinlich enthielt dieses Stückchen Papier eine lustige oder eine merkwürdige Geschichte. Er zerknüllte es und hielt es zwischen zwei Fingern. So konnte er vorschriftsmäßig die Hände an der Hosennaht halten. Der Weg erschien ihm lang, die Stunde unendlich, der Hof grausam gewachsen. Endlich ertönte der Pfiff des Aufsehers. Andreas kam in die Zelle und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Dann entfaltete er das Papier, rückte die Bank zum Fenster und setzte sich. Er las:
»Personalien.
Als Verlobte empfehlen sich Fräulein Elsbeth Waldeck, die Tochter von Prof. Leopold Waldeck, und Dr. med. Edwin Aronowsky, Fräulein Hildegard Goldschmidt und Dr. jur. Siegfried Türkel, Fräulein Erna Walter und Herr Willi Reizenbaum. Der Bankdirektor Willibald Rowolsky und Frau Martha Maria, geb. Zadik, zeigen hocherfreut die Geburt eines Sohnes an. Frau Hedwig Kalischer, geb. Goldenring, betrauert das Hinscheiden ihres Gatten Leopold Kalischer, Mitinhaber der Firma König, Schrumm & Kalischer, Vorsitzender des Aufsichtsrates der Gemeinschaft der Chemikalienhändler AG, der nach schwerem Leiden im 62. Lebensjahre gestorben ist. Herr Johann Kotz zeigt das Ableben seiner Gattin Frau Helene Kotz an. Bergwerksdirektor Bergassessor Harald Kreuth gibt Nachricht vom Tod seines Vaters Sigismund Johann Kreuth. Im 77. Lebensjahre verschied nach langem Leiden der Geheime Sanitätsrat Dr. med. Max Treitel.«
Andreas wendete das Papier und las auf der Rückseite:
»Wenn das zutrifft, so versteht man jetzt, warum in den letzten Tagen die Poincaré-Presse den Sachverständigenbericht so geflissentlich als pro-französisch gepriesen hat – um ihren Herrn zu decken. Daily Mail, aus Paris direkt unterrichtet, zählt in bestimmter Form – –«
Hier brach das Papier ab.
Andreas Pum versuchte, sich die Menschen vorzustellen, von deren Leben er die wichtigsten Abschnitte erfahren hatte. Fräulein Elsbeth Waldeck war blond und vornehm, die Tochter eines Professors, die Braut eines Arztes. Der Doktor Siegfried Türkel war vielleicht ein Rechtsanwalt, und es wäre nicht von Schaden, seine Bekanntschaft zu machen. Vielleicht geriet man überhaupt nicht ins Gefängnis, wenn man mit dem Rechtsanwalt Türkel bekannt war. Ja, es war so: alle, deren Namen auf diesem Stückchen Zeitungspapier standen, mußten miteinander befreundet sein. Der Doktor Aronowsky behandelte die Frau Martha Maria, geborene Zadik, und der Bergassessor Harald Kreuth lieh sich Geld vom Bankdirektor Willibald Rowolsky. Diesen vertrat der Rechtsanwalt Türkel bei Gericht, und der Rechtsanwalt Türkel macht dem Herrn Johann Kotz einen Kondolenzbesuch. Die Namen sprangen selbständig aus den Zeilen und verbanden sich wechselweise. Da hüpfte der Sanitätsrat zum Assessor und dieser zum Rechtsanwalt. Die Namen waren lebendig. Sie nahmen menschliche Gestalten an. Andreas Pum blickte auf das bedruckte Papier wie in ein Zimmer, in dem sich alle diese Menschen befanden und herumgingen und miteinander sprachen. Dieses Bild bewegte ihn. Er stellte sich die Gesellschaft sehr glänzend vor. Es schien ihm, daß er hinter das Geheimnis der Welt gekommen war. Er glaubte zu wissen, daß er in der Zelle saß, weil er keinen von diesen Verlobten, Geborenen und Verstorbenen kannte. Weshalb stand es nicht gedruckt, daß Herr Andreas Pum, Lizenzinhaber, nach ungerechter Behandlung und ohne gehört zu werden, zu sechs Wochen verurteilt war?

XV
Das kränkte Andreas Pum. Andreas empfand die Beschämung zurückgesetzter Menschen, die sich auf eine Karriere vorbereitet hatten. Daß man gerade ihn eingesperrt hatte, daß man gerade ihn zum Heidentum zwang, war eine Ungerechtigkeit, grausam, unentschuldbar und verbrecherisch. Wie lange war es denn überhaupt her, daß er, fast mit der Würde eines Beamten, jedenfalls aber mit dem gottesfürchtigen Sinn eines Priesters, die Lizenz in der Tasche, an einer belebten Straßenecke die Nationalhymne spielte und die Leute zur Vaterlandsliebe fast ebensosehr anspornte wie zur Wohltätigkeit? Daß ein Schutzmann auf ihn zuschritt und sich, respektvoll grüßend, wieder entfernte, weil er die Berechtigung Andreas Pums, die Nationalhymne zu spielen, anerkennen mußte?
Was war denn eigentlich geschehen? Wie konnte sich die Welt so schnell geändert haben?
Ach! sie hatte sich gar nicht geändert! Immer war sie so gewesen! Nur, wenn wir ganz besonderes Glück haben, werden wir nicht eingesperrt. Aber unser Schicksal ist es, Anstoß zu erregen und im Gestrüpp der willkürlich wuchernden Gesetze zu stolpern. Wie Spinnen sitzen die Behörden, lauernd in den feinmaschigen Geweben der Verordnungen, und es ist nur eine Frage der Zeit, wann wir ihnen anheimfallen. Und es ist nicht genug daran, daß wir einmal ein Bein verloren haben. Wir müssen unser Leben verlieren. Die Regierung, wie wir sie jetzt erkannt haben, ist nicht mehr etwas Fernes, hoch über uns Befindliches. Sie hat alle irdischen Schwächen und keinen Kontakt mit Gott. Wir haben vor allem gesehen, daß sie durchaus nicht eine einheitliche Macht ist. Sie gliedert sich in Polizei und Gericht und wer weiß noch wie viele Ministerien. Der Kriegsminister mag jemandem eine Auszeichnung verleihen, und die Polizei sperrt ihn dennoch ein. Das Gericht mag ihn vorladen, und der Herr Kommissär tut es auch. So wurde mancher gottlos, ein Heide und ein Anarchist.
Manchmal dachte Andreas, daß es notwendig wäre, sich wieder vernehmen zu lassen. Und einmal, als der Direktor der Strafanstalt, wie er es jede Woche seiner Vorschrift gemäß tat, die Zelle inspizierte, erzählte ihm Andreas seine Geschichte. Der Direktor war ein sehr strenger Mann, aber er glaubte, daß der Bestand des Staates von dem Ausmaß der Gerechtigkeit abhänge, die in seinen Grenzen zur Anwendung gebracht werde. Er ließ ein Protokoll mit Andreas Pum aufnehmen und versprach, »die Sache in die Wege zu leiten«.
Von diesem Tage an erfüllte Andreas Pums Brust eine neue kleine Hoffnung. Zwar wußte er nicht, zu wem er zurückkehren sollte. Zwar hatte er das Wichtigste verloren, das ein Mensch in Freiheit nötig hat, um mit frohem Sinn und Erfolg verheißender Kraft ein neues Leben zu beginnen: den Glauben nämlich, die Heimat der Seele. Und auch sein Körper hatte keine Heimat mehr. Von Katharina wollte er sich scheiden lassen. Wahrscheinlich hatte sie selbst schon die Scheidungsklage eingereicht. Sollte er zu Willi zurückkehren? Ein Straßenbettler werden? Würde er auch die Lizenz wiederkriegen? War es nicht überhaupt besser, er blieb in dieser Zelle, freiwillig, ein Leben lang?
Eines Tages erwachte er sehr früh. Er wußte nicht, wie spät es war, es konnte jedenfalls noch nicht sechs sein. Denn um sechs wurden die Sträflinge geweckt. An der Stelle, an der sein Bein abgesägt war, spürte er Schmerzen. Es mußte sich irgendeine bedeutsame Änderung des Wetters zugetragen haben. Plötzlich wurden leise plinkende Tropfen vernehmbar. Es regnete offenbar.
Andreas stand auf. Er schnallte seine Krücke an und stellte sich unter das Fenster. Jetzt hörte er den Regen ganz deutlich. Wäre das Fenster nicht in so tiefer Mauerbuchtung eingefaßt gewesen, so hätte der Regen sogar an die Scheiben getrommelt. So klatschte nur von Zeit zu Zeit ein einzelner Tropfen gegen eine Gitterstange. Jedenfalls aber stand fest: es regnete.
Auf einmal erwuchs aus verschütteten Jahren ein Tag aus Andreas' Jugend. So war er mitten in der Nacht aufgestanden, von Erwartung und Unruhe getrieben, und hatte festgestellt, daß die Macht des langen Winters gebrochen war. Damals hatte er den Morgen gar nicht erwarten können, und auch jetzt konnte er es kaum. Was erschütterte ihn denn eigentlich so? Jahr um Jahr war er gewohnt, den regelmäßigen Wechsel der Jahreszeiten zu erleben, und seit mehr als dreißig Jahren hatte auf ihn der erste Regen keinen Eindruck gemacht. Er mußte weit zurückgreifen in die verschollene Jugend.
Und er sah die enge Gasse der ganz kleinen Stadt, in der er geboren war, und wie sie den einziehenden Frühling begrüßte, ihm spielende Kinder entgegenschickte und große Wasserbottiche, in denen sich das Regenwasser fangen sollte; wie sie ihre Kanalgitter öffnete, weil sie verstopft waren, und wie der Regen ungehemmt und in rastlos stürzenden, schäumenden, gurgelnden Fluten in die Untergründe der Gasse drang, wie er die schmutzigen winterlichen Schneereste an den Rändern des Bürgersteigs mit vernichtender Wut verschwinden, zerrinnen, Nichts werden ließ.
Ach, es wurde Frühling, und er sah es nicht! Die Welt änderte sich, und er war gefangen.
Jetzt klopfte der Wärter, und Andreas rief »Hier!« so schnell, daß der vorsichtige Beamte die Tür aufschloß und den angekleideten Andreas mit verwundertem Mißtrauen betrachtete. »Schon auf?« fragte der Wärter.
»Mein Knie schmerzt so!« antwortete Andreas.
»Heut ist kein Ausgang!« sagte der Wärter und schloß die Tür.
Oh, warum war heut kein Ausgang?
Die Finsternis lichtete sich, löste sich langsam in das gewohnte Dunkelgrau auf. Es wurde Tag. Der Regen wurde stiller. Auf einmal begann ein Vogel zu zwitschern. Eine ganze Vogelgruppe zwitscherte. Einige Spatzen drängten sich gegen das Gitter. Sie schrien und schlugen mit den Flügeln.
Andreas betrachtete die Vögel und lächelte. Er lächelte mild wie ein Großvater, der seinen spielenden Enkeln zusieht. Niemals hatte er sich um Spatzen sonderlich bekümmert. Jetzt schien es ihm, als hätte er eine alte Schuld an sie abzutragen. Er hätte sie gerne mit Brotkrumen gefüttert.
Er nahm sich vor, den Wärter darum zu bitten.
Als man ihm das Frühstück brachte, bat er den Wärter, einen Augenblick zu bleiben.
»Hören Sie«, sagte er, »bringen Sie eine Leiter! Ich möchte den armen Spatzen ein paar Brotkrumen streuen.«
Wenn Andreas dem Wärter zugemutet hätte, ihm die Schlüssel zu allen Zellen herauszugeben, die Überraschung wäre nicht größer gewesen. Der Beamte versah hier seit sechsundzwanzig Jahren seinen Dienst. Von all den Tausenden Häftlingen, die seiner strengen Obhut anvertraut gewesen, hatte noch keiner einen solch verrückten Wunsch geäußert. Der Wärter dachte, von seinem beruflichen Argwohn gefaßt, der seine zweite Natur geworden war, zuerst an eine List des Häftlings. Er beleuchtete mit seiner Taschenlampe Andreas, um dessen Gesicht zu erforschen.
»Wie kommen Sie darauf?« sagte der Wärter.
»Sie tun mir sehr leid, die armen Vögelchen!« sagte Andreas mit einer solch erschütterten Stimme, daß der Wärter zu glauben anfing, Andreas sei verrückt.
»Lassen Sie sich nicht auslachen!« sagte er. »Der Herr sorgt für die Vögel. Essen Sie lieber das teure Brot allein!«
»Meinen Sie?« sagte Andreas. »Ist es so sicher, daß Gott für die Vögel sorgt?«
»Das ist nicht Ihre Sache!« erwiderte der Beamte. »Und meine auch nicht. Wozu hat man denn die Gesetze? Ich kenne meine Vorschriften. Es ist verboten, Leitern in die Zellen zu bringen. Wenn Sie krank im Gehirn sind, müssen Sie sich beim Herrn Doktor melden! Ich kann Sie ja aufschreiben, dann kommen Sie zur Marodenvisite. Wenn Ihnen der Herr Direktor es erlaubt, dann können Sie ja auch die Vögel füttern. Aber ein Gesuch müssen Sie machen.«
»Ich will ein Gesuch machen!« sagte Andreas.
Der Beamte notierte den Wunsch in sein Dienstbuch. Nach einer Stunde brachte er Papier, Tinte und ein Pult. »Schreiben Sie Ihr Gesuch«, sagte er, »der Herr Direktor hat es erlaubt.«
Andreas bat den Beamten um Hilfe. Dieser entzündete eine Kerze und zog seine Brille an. Dann diktierte er:
»An die hochwohllöbliche Direktion!
Endesgefertigter ersucht um die Bewilligung, einmal täglich den Spatzen sowie Vögeln anderer Art an den Fenstern seiner Zelle Brot und Speisereste auslegen zu dürfen.
Unterschrift: Andreas Pum, derzeit Häftling.«
Dieses Gesuch steckte der Beamte ein.
Am Nachmittag kam der Doktor. Er hegte Zweifel an der geistigen Gesundheit Andreas Pums. Er begann, sich mit dem Häftling zu unterhalten. Andreas ergriff die Gelegenheit, auch dem Arzt seine Geschichte zu erzählen.
Der Doktor tröstete. Der Direktor, sagte er, würde schon die Sache in die Wege leiten. Andreas möge nur Vertrauen haben.
»Aber die Spatzen zu füttern, wird man Ihnen nicht erlauben! Es ist so was einfach zu umständlich. Man kann Ihnen doch nicht eine Leiter in die Zelle bringen!«
»Wozu hab ich dann ein Gesuch geschrieben?«
»Das ist Vorschrift. Wenn Sie einen Wunsch haben, müssen Sie ihn schriftlich äußern. Aber erfüllt wird er Ihnen nicht.« Der Doktor lächelte. Er war ein alter, beleibter Herr mit grauen Stoppeln auf Wangen und Doppelkinn. Er trug eine unmoderne, goldgeränderte Brille. »Überlassen Sie doch dem lieben Gott die Sorge um seine Vögel!«
»Ach, Herr Doktor!« sagte Andreas traurig. »Manche sagen: Überlassen wir Gott die Sorge um diesen Menschen! Dann sorgt Gott nicht!«
Der Doktor lächelte wieder: »Es ist nicht gesund, ein Philosoph zu sein. Dazu reicht Ihre Kraft nicht. Man muß glauben, lieber Freund!« Der Doktor wußte bereits, daß er es mit einem Narren zu tun hatte; aber auch, daß dieser Narr ungefährlich war. Im übrigen hatte er noch im ganzen drei Wochen abzubüßen. Also beschloß er, Andreas sich selbst und seinen philosophischen Gedanken zu überlassen. Außerdem erwartete der Doktor heute seine Nichte. Er mußte zur Bahn und vorher noch einmal nach Hause. Und da er ein Menschenfreund war, reichte er Andreas die Hand.
Spät am Tage, es mochte vor Anbruch der Dämmerung sein, sah Andreas, wie draußen der Himmel sich lichtete. Ein Stückchen strahlenden Blaus war sogar durch die schmutzige kleine Scheibe zu sehen. Und wieder lärmten die Spatzen.
Dann vernahm er den leichten Trab eines Wägelchens, das regelmäßig jeden Tag hörbar wurde.
Obwohl es erst Februar war, nahm er an, daß die Knospen an den Weiden und Kastanien schon ziemlich groß sein müßten. Er dachte an sie mit derselben Zärtlichkeit, die er für die Vögel übrig hatte. Er nahm sich vor, einen weiten Spaziergang zu unternehmen, wenn man ihn freiließe.
In dieser Nacht schlief er spät ein. Er hatte Schmerzen im Knie. Der Wind wütete draußen und in den langen Gängen der Anstalt.
Am nächsten Tage war wieder Inspektion. Der Direktor sagte, die Sache laufe gut. In zwei Wochen könnte sie erledigt sein. Andreas würde also eine Woche früher freikommen. Man würde ein neues Verfahren einleiten. Dann könnte Andreas sich vor Gericht beschweren. Dann würde man ja das Unrecht einsehen und Andreas freisprechen. Er, der Direktor, wolle jedenfalls ein hervorragendes Zeugnis schreiben. So ein Zeugnis hätte er noch niemandem geschrieben. Und was die Fütterung der Spatzen anbelange, so sei dergleichen nicht üblich. Die Anstalt sei schließlich kein Tierschutzverein.
In diesem Augenblick entdeckte der Herr Direktor, daß der Kübel, in dem Andreas seine Bedürfnisse zu verrichten hatte, nicht neben dem Fenster, sondern in der Nähe der Bank stand, und weil der Herr Direktor die Ordnung fast genauso liebte wie die Menschlichkeit, sagte er streng: »Ihre Pflichten aber dürfen Sie nicht vernachlässigen!« Und genauso wie Willi fügte er hinzu: »Ordnung muß sein!«
Er ging, und hinter ihm klirrte der Säbel des Wärters.
VI
Ein Tag war schöner als der andere.
Man merkte es nicht nur im Hof, wenn man den vorschriftsmäßigen Spaziergang absolvierte. Man merkte es sogar im Hof weniger. Denn seine Luft war muffig, und obwohl über seinen hohen Wänden der Himmel sich wölbte, schien es, als läge eine unsichtbare Decke über ihn gespannt. Nie kam die Sonne in diesen Hof. Deshalb war sein Pflaster immer feucht, als sonderte es Schweiß ab. Es war wie eine Krankheit der Pflastersteine.
Übrigens kamen jeden Tag die Spatzen in ganzen Massen vor das Zellenfenster, als wollten sie Andreas an sein Versprechen erinnern. Das tat ihm weh. Er sah hinauf und betrachtete schmerzlich die lärmenden kleinen Wesen. Er hielt stumme Ansprachen, und sein Herz redete zu den Tieren, ohne daß sich seine Lippen bewegten. Meine kleinen, lieben Vögel, lange Jahrzehnte war ich euch fremd, und ihr wart mir gleichgültig wie der gelbe Pferdekot in der Straßenmitte, von dem ihr euch nährt. Wohl hörte ich euch zwitschern, aber mir war es gleich wie das Summen der Hummeln. Ich wußte nicht, daß ihr Hunger haben könntet. Ich wußte kaum, daß Menschen, also meinesgleichen, Hunger haben. Ich wußte kaum, was der Schmerz ist, obwohl ich im Krieg war und ein Bein verlor, aus dem Kniegelenk fallen ließ. Ich war vielleicht kein Mensch. Oder ich war krank am schlafenden Herzen. Denn so etwas gibt es. Das Herz hält einen langen Schlaf, es tickt und tackt, aber es ist sonst wie tot. Eigene Gedanken dachte mein armer Kopf nicht. Denn ich bin von der Natur nicht mit scharfer Einsicht gesegnet, und mein schwacher Verstand wurde betrogen von meinen Eltern, von der Schule, von meinen Lehrern, vom Herrn Feldwebel und vom Herrn Hauptmann und von den Zeitungen, die man mir zu lesen gab. Kleine Vögel, seid nicht böse! Ich beugte mich den Gesetzen meines Landes, weil ich glaubte, eine größere Vernunft als die meinige hätte sie ersonnen und eine große Gerechtigkeit führte sie aus, im Namen des Herrn, der die Welt erschaffen. Ach! daß ich länger als vier Jahrzehnte leben mußte, um einzusehen, daß ich blind gewesen war im Lichte der Freiheit, und daß ich erst sehen lernte in der Dunkelheit des Kerkers! Ich wollte euch füttern, aber man verbietet es mir. Weshalb? Weil noch niemals ein Häftling diesen Wunsch hatte. Ach! jene wären vielleicht jünger, beweglicher und schneller, und sie dachten, wenn sie euch sahen, nicht an eure Nöte, sondern an ihre Freiheit, meine Vögel, und ich weiß schon, weshalb ich euch liebe. Ich weiß auch, weshalb ich euch nicht kannte, als ich selbst noch frei war. Denn damals war ich, obwohl einbeinig, dumm und alt, selbst wie ihr und ahnte nicht, daß tausend Gefängnisse auf mich warten, lauernd in den verschiedenen Teilen des Landes. Seht! ich möchte euch von meinem Brot geben, aber die Ordnung verbietet es. So nennen die Menschen den Kerker. Wißt ihr, was Ordnung ist, kleine Vögel?
Die Nacht heftete sich an den Tag und zerrann wieder im siegreichen Grau des Morgens. Andreas hörte auf, die Tage zu zählen. Jahre trennten ihn von seinem früheren Leben. Jahre trennten ihn von der kommenden Freiheit. Und obwohl er sich nach ihr sehnte, tat es ihm doch wohl, zu glauben, daß er niemals seine Sehnsucht erfüllt sehen würde. Er tauchte in seinen Schmerz tief hinab und beweinte sich wie einen teuren Toten. Er liebte seine Qualen wie treue Feinde. Er haßte seine verlebten Jahre wie verräterische Freunde.
Eines Tages wurde er entlassen.
Obwohl er dem Direktor der Anstalt bescheiden und demütig dankte und seine Hand in dessen dargebotene legte, fühlte er doch noch später stundenlang den Druck der mächtigen Direktorshand wie eine feindliche Macht und wie den Willen des Staates und der Behörden, ihr Opfer nicht wieder freizulassen. Andreas faßte einen tiefen Argwohn gegen das Gesetz und seine Vertreter, und schon begann er, sich vor dem neuen Verfahren zu fürchten. Hatte man ihn nicht zum erstenmal ungerecht behandelt? Würde man ihn nicht noch einmal einsperren? Er wollte am liebsten fliehen. Die ganze Unermeßlichkeit der Welt war plötzlich vor ihm aufgetan, er sah Amerika, Australien und die fremden Gestade der Erde, und als wäre seine neugewonnene Freiheit noch ein Kerker, so empfand er das Land, in dem er lebte und in dem ihm Leid angetan war, als einen Gefängnishof, in dem er provisorisch frei spazieren durfte, um wieder in die Zelle zurückzukehren.
Indessen begab er sich zur Vorortbahn und löste, in einem kindischen Trotz, eine Karte zweiter Klasse. So saß er zum erstenmal auf grünen Polstern, breit in eine Ecke am Fenster gelehnt und den Ellenbogen stützend auf weiches, schwellendes Leder, und freute sich, daß er hier saß, wo nicht sein Platz war, daß er ein Unrecht beging und daß er sich anmaßte, was ihm nicht zukam. Er rebellierte gegen die ungeschriebenen und dennoch heiligen Gesetze der irdischen und der Bahnordnung, und sein trotziger Blick verriet den stillen und gutgekleideten Passagieren, daß er ein Rebell war. Sie rückten zur Seite, und Andreas freute sich. Er stand auf, es fiel ihm ein, daß er sämtliche Einrichtungen der zweiten Klasse sehen und genießen müsse, und er machte sich auf die Suche nach der Toilette im Korridor des Wagens. Sie war verschlossen. Er rief den Schaffner, der zufrieden in seinem Dienstabteil schlummerte, und er befahl mit der Stimme eines aufgeregten Herrn dem Beamten, das Klosett zu öffnen. Der Schaffner fand sogar ein Wort der Entschuldigung.
Andreas trat ein und prallte sofort zurück. Aus dem schmalen Spiegel gegenüber der Tür blickte ihm ein weißbärtiger Greis entgegen, mit einem gelben Gesicht und unzähligen Runzeln. Dieser Greis erinnerte an einen bösen Zauberer aus den Märchen, der Ehrfurcht und Furcht erweckt und dessen weißer Großvaterbart wie das Abzeichen einer verräterischen Liebe ist, einer heuchlerischen Güte und einer falschen Ehrlichkeit. Andreas glaubte, sich an die Farbe seiner Augen zu erinnern: waren sie nicht einmal blau gewesen? Jetzt schillerten sie in grünlicher Bosheit. Änderte sich auch die Farbe der Augen in der Luft der Zelle? Weshalb sollten die Augen bleiben, wie sie gewesen, wenn das braune Haar in kurzen Wochen weiß geworden war? In kurzen Wochen? Bewies ihm nicht gerade diese ehrwürdige Haarfarbe, daß er lange Jahre in der Zelle zugebracht hatte?
Jetzt war er ein Greis, unfähig, ein neues Leben zu beginnen, und dem Tode nah. Nun, er wollte sich nicht fürchten. Er wollte freiwillig wieder ins Gefängnis zurückkehren und sterben. Sein Leben war nur noch kurz.
Er kehrte an seinen Platz zurück. Die Leute rückten auseinander. Es schien, daß sie sich über ihn unterhalten hatten; so plötzlich und unwahrscheinlich war ihr Schweigen. Andreas sah zum Fenster hinaus wie einer, der seinem Tod entgegenfährt und Abschied nimmt von den bunten Bildern der Erde. Ein bißchen traurig war Andreas. Er sah selbst die häßlichen Bretterzäune und die Reklamebilder mit dem Schmerz eines Abschieds für ewige Zeiten.
Und dennoch erwachte eine neue Hoffnung in seiner Seele, als er den Bahnhof verließ. Er sah wieder den freudigen Wirbel der lebendigen großen Stadt. Er sah über dem Gewirr der Wagen und Pferde und Menschen die neue Sonne des kommenden Frühlings. Und obwohl er ein weißhaariger Krüppel war, gab er seinen Trotz nicht auf. Todgeweiht, blieb er am Leben, um zu rebellieren: gegen die Welt, die Behörden, gegen die Regierung und gegen Gott.
XVII
Willi schlief nicht, obwohl es Mittagszeit war und die Stunde des besten und tiefsten Schlafs. Andreas brauchte nicht an die Tür zu klopfen. Willi hatte das Aufschlagen der Krücke im Hausflur gehört. Er öffnete und erschrak vor dem weißen Haar.
Aber mit der frechen Heiterkeit, die ihm eigen war und die Andreas freundlich entgegenschlug wie ein gutgemeinter, freundschaftlicher Stoß vor die Brust, fand Willi ein wohltätiges und lautes Scherzwort. Er traktierte Andreas mit Wurst und Witzen. Er holte eine große Schere, band ein Handtuch um Andreas und begann mit den Bewegungen eines Barbiers, den weißen Bart zu stutzen. Er machte ihn viereckig und ehrwürdig. Andreas sah sich im Spiegel und empfand Ehrfurcht vor seinem eigenen Angesicht. »Du siehst aus wie ein Waisenvater!« sagte Willi.
Hierauf begann Willi sich anzuziehen. Sehr erstaunt sah Andreas einen hellkarierten Anzug aus dem Dunkel des Kleiderkastens ans Licht kommen; einen hellbraunen, steifen Hut mit einem breiten gerippten Seidenband und eine seidene sonnengelbe Krawatte. Bald stand Willi da wie ein Modell aus einer Schneiderzeitung. Seine übermäßig großen Hände steckten in braunen Lederhandschuhen, deren Nähte leise krachten. Unter dem Arm hielt er ein schlankes, bewegliches, gelbes Baumbusstöckchen mit einem goldenen Knopf. Dann sagte Willi: »Leb wohl! Ich geh jetzt kontrollieren! Schlaf dich aus indessen! Nur keine Sorge!« Er grüßte mit dem Hut und schloß die Tür ab. Dann, ging er »kontrollieren«.
In den fünf Wochen hatte sich nämlich eine große Änderung in Willis Leben vollzogen. Manchmal geschieht es, daß uns plötzlich die Lust packt, tätig zu sein und Geld zu verdienen, auch wenn wir von Natur den Müßiggang lieben. Sei es, daß der Frühling den neuen Tatendrang in uns weckt oder daß unsere Natur, der Faulheit müde, nach Abwechselung verlangt, ohne jede Rücksicht auf die Wandlung der Jahreszeiten – eines Tages treibt uns ein Zufall aus unserer Gleichgültigkeit, wir betreten die Straße, wir kehren in die Welt zurück, um uns in ihr zu tummeln, mit aufgeweckten, frischen und ausgeruhten Sinnen.
Ein Zufall rüttelte Willi auf. Er hatte immer Unternehmungsgeist besessen. Er war sich seiner Gaben bewußt. Er hatte schon oft daran gedacht, die Konjunktur dieser Zeit auszunützen. Er sah, wie junge Leute mit stumpfen Hirnen und nur mit dem Willen, Geld zu verdienen, eine gleichgültige Sache anfingen, einen Handel mit Streichhölzern oder Toiletteseife zum Beispiel, und wie sie es zu einem Vermögen brachten. Er hatte es nicht nötig, sich wegen seiner alten Sünden vor der Polizei ewig verborgen zu halten. Er besaß die Fähigkeit, Pässe zu fälschen, und er sah längst nicht mehr so aus wie vor vier Jahren, als er in der Basteistraße eingebrochen war. Heute klebte übrigens sein Bild nicht mehr an den Litfaßsäulen der Stadt. Er brauchte nichts mehr zu fürchten.
Diese Gedanken kamen ihm in einer Nacht, als Klara heimkehrte und ihm erzählte, der Alte aus der Herrentoilette des Cafés Excelsior wäre gestorben. Klara schlug ihm schüchtern vor, vielleicht vorläufig, für einige Wochen nur, in der Herrentoilette den Dienst zu übernehmen. Das lehnte Willi ab. Der Frühling kam. Die Rennsaison begann. Da gab es viel zu verdienen. Im Frühling setzte sich ein Mann von seinen Fähigkeiten nicht freiwillig in die Scheißbude.
Aber ein Einfall erleuchtete ihn plötzlich.
Drei Tage blieb Willi unterwegs. Zuerst besorgte er sich in einem Laden, in dem eine schwerhörige Witwe Kaffeebohnen und Malz verkaufte, Betriebskapital. Das verursachte weiter keine Mühe. Er trat ein, neigte sich über den Ladentisch, gab sich verliebt, bediente auch ein paar Kunden, ohne daß ihn die Witwe dazu aufgefordert hätte. Dann half er ihr den Laden schließen, knipste das Licht aus und nestelte mit der Linken an dem Rock der Frau, während er mit der Rechten die Schubladen öffnete. Dann begab er sich in die großen Kaffeehäuser der Stadt, sprach mit den Wirten und Direktoren und entdeckte überall Mißstände: Die Toiletten waren nicht gut oder überhaupt nicht verwaltet, er war entsetzt über eine solch gefährliche Vernachlässigung der Hygiene und versprach, sich der Sache anzunehmen. Am nächsten Morgen klaubte er Invaliden und Nichtstuer von den Straßen auf und wählte unter ihnen die zuverlässigsten mit kundigem Blick und unerbittlicher Strenge. Da er nur wenig geeignetes Material fand, scheute er den weiten Weg zum Altersversorgungsheim auch nicht. Dort lebten die anständigsten Greise und Greisinnen. Er schrieb Zettel aus, gab jedem ein geringes Angeld, lief in die Toilettegeschäfte, bestellte Seifen, Nagelfeilen, Zahnpulver, Schwämme und Bürsten für die großen Kaffeehäuser und entdeckte, als er draußen war, daß er, fast ohne es zu wissen, ein paar Flaschen Kölnisch Wasser mitgenommen hatte. Diese brachte er zuerst in Sicherheit und nach Hause und stellte sie in Pyramidenform auf dem Brett über seinem Lager auf. Dann teilte er den Kaffeehausverwaltungen mit, daß er die »Organisation sämtlicher Garderoben, Herren- und Damentoiletten« übernommen habe. Und nach drei Tagen sammelte er seine ersten Einkünfte. In jedem Kaffeehaus saßen seine Leute. Hatte er die Toiletten schon besetzt gefunden, so errichtete er Garderoben. Er ging in seinem hellkarierten Anzug zur Behörde, fuchtelte mit dem Stöckchen, lud Wachtmeister zu einem Glas Bier und ließ Schnaps folgen und bekam eine Konzession auf den schönen Namen: Wilhelm Klinckowström, der eigentlich einem gefallenen Soldaten gehörte, dessen Militärpapiere sich Willi gesichert hatte. Von nun an hieß er: Herr Klinckowström, und manchmal setzte er noch ein bescheidenes »von« vor diesen ohnehin sehr anmutigen und noblen Namen. Er mietete ein »herrschaftlich möbliertes Zimmer« im vornehmsten Viertel der Stadt, kaufte eine Schreibmaschine, und Klara wurde seine »Sekretärin«. Sie kam jeden Tag aus ihrer alten Wohnung in die neue und lernte mühsam Maschine schreiben. Willi diktierte gleichgültige Briefe mit erhobener Stimme und schrie von Zeit zu Zeit. Seine Wirtin bezahlte er pünktlich, dafür verlangte er äußerste Sauberkeit unter der Devise: Ordnung muß sein. Klara gab ihre Stellung und ihren nächtlichen Beruf auf. Willi erwies sich als ein treuer und sorgfältiger Kavalier. Sie wollten im Mai heiraten. Willi kaufte Kleider, Sommerhüte, Goldkäferschuhe und seidene Strümpfe, Pyjamas und Busenhalter aus den feinsten Geweben. In jedem »seiner« Lokale war Willi ein gerngesehener und freigiebig bedienter Stammgast. Er war sehr nützlich. Mit der Polizei wußte er zu reden, Musikanten und Kapellmeister billig zu verschaffen. Nachdem ihm eines Tages der Gedanke gekommen war, nach Südamerika auszuwandern, begann er überall zu erzählen, daß er fünfzehn Jahre in Brasilien gewesen sei. Er schilderte haarklein das Leben in Brasilien und malte das Land so wunderbar, daß er immer stärkere Sehnsucht verspürte auszuwandern. Diesen Plan teilte er Klara mit. Sie war seit einigen Wochen sehr glücklich und mit allem einverstanden. Sie entsann sich sogar einer alten Tante und machte ihr einen Besuch mit Willi, den sie als ihren Gemahl, Herrn Klinckowström, vorstellte. Die Tante bekam regelmäßige kleine Unterstützungen. Die Geschäfte florierten. Willi kaufte Puppen aus Stoff und Seide für die Damentoiletten. Sie fanden guten Absatz. Man beobachtete, daß seit kurzer Zeit alle Frauen, gesetzten und jüngeren Alters, aus den Toiletten mit großen Puppen zurückkehrten. Es gab viel zu tun. Gelegentlich starb ein Greis, der, mitten aus seiner trägen Altersstille herausgeholt, das geräuschvolle Nachtleben nicht vertrug. Ersatz mußte man schaffen. Einige waren unehrlich. Willi übergab sie der Polizei und kannte kein Mitleid. Ordnung mußte sein.
So wunderbar hatte das Schicksal Willis Leben verändert. Er wurde ein wohlhabender Mann. Nur sehr selten stahl er noch, um seine Geschicklichkeit zu erproben. Meist kaufte er, ohne lange zu überlegen, »das Beste an Qualität«. Er liebte Südfrüchte. Er rauchte Brasilzigarren. Aus alter Gewohnheit trug er noch seinen Schlagring in der Tasche, mit dem er viele Abenteuer gemeinsam bestanden hatte. Er war sehr sorgfältig rasiert und gewann mit der Zeit Vergnügen an gutgeschnittenen und dunklen Anzügen von sanfter und vornehmer Unauffälligkeit. Der teuerste Schneider nähte für ihn. Manchmal trug Willi auch ein Monokel und, wenn er schrieb, eine braungefaßte Hornbrille, die seinem Angesicht den Ausdruck unleugbarer Intelligenz verlieh. Weil ihm die Brille gefiel, schrieb er oft in Kaffeehäusern überflüssige Briefe und Rechnungen. Schließlich kam er auf die Idee, Artikel für Zeitungen zu schreiben. Er schrieb »Erlebnisse in Verbrecherkreisen«, die den Stempel der Aufrichtigkeit und der Sachkenntnis trugen und deren stilistische Unvollkommenheit in den Redaktionen korrigiert wurde. Willi besuchte die Redakteure. Als ein alter Brasilianer und Allerweltskerl brauchte er keinen fehlerlosen Stil zu schreiben. Das war ohne weiteres verständlich.
Willi beschloß, Andreas im Café Halali einzustellen. Dieses Lokal war gerade dabei, seiner ursprünglichen Bestimmung untreu zu werden und das Geschäft auf eine neue Basis zu stellen. Früher war es ein Stammlokal der alten Jäger von Beruf und Jagdliebhaber gewesen. Jetzt führte Willi eine Salonkapelle ein. Die alten Jäger wanderten allmählich in die ewigen Jagdgründe ab. Eine neue Kundschaft junge Leute und frischgeschminkte Mädchen, begann, der Alten Plätze einzunehmen. Der Inhaber ließ eine Wand durchstoßen und machte aus zwei stillen Zimmern ein lautes. Willi kam auf die Idee, eine Estrade in halber Wandhöhe für die Musik einzurichten. Dazu bedurfte es einer Genehmigung der Baupolizei. Baupolizei? Es war für Willi eine Kleinigkeit. Er bekam die Erlaubnis, einen ganzen Balkon zu bauen. Auch das Geld verschaffte er zu guten Zinsen, er verdiente Provision von beiden Seiten. Für die Garderobe gewann er eine ältere Dame aus einer städtischen Bedürfnisanstalt, die bereits fünf Jahre ihrem traurigen Beruf oblag und gerade in jenes Alter gekommen war, in dem die weibliche Seele einen späten Frühling feiert und nach Abwechselung verlangt. Nun fehlte nur noch ein Greis für die Herrentoilette. Andreas Pum besaß, nach Willis Ansicht, für diesen Beruf hervorragende Qualitäten.
Am Abend holte Willi Andreas in die neue Wohnung. Er ließ den Alten schwören, daß er nie etwas von der Vergangenheit verraten würde. Willi war von diesem Tage an als Herr von Klinckowström anzusprechen. Andreas staunte über diese großartigen Veränderungen. Erschüttert von der neuen Herrlichkeit, begann er fast zu glauben, daß Willi ein wirklicher Herr von Klinckowström war. So nannte er ihn bei diesem Namen, von dessen Glanz auch etwas auf denjenigen fiel, der ihn aussprach. Zu Klara sagte er: gnädige Frau Klinckowström. Willi leitete die geschäftliche Diskussion ein. »Wo ist deine neue Uniform?« fragte er. »Zu Hause, bei – ihr«, sagte Andreas. »Hol sie«, befahl Willi. Aber Andreas hatte Furcht. Also beschloß Willi, auf der Stelle zu Frau Katharina im Auto zu fahren.
Der Unterinspektor Vinzenz Topp öffnete. Daraus schloß Willi, daß Andreas eigentlich diesem jungen Mann sein ganzes Unglück zu verdanken hatte. Er stellte sich als Herr von Klinckowström vor und bemerkte freudig, daß ein kurzes Zucken durch die sehnige Gestalt des Unterwachtmeisters lief und daß seine Brust sich leise wölbte. Hierauf forderte er die Kleider für Andreas und »überhaupt dessen Besitz«. Es stellte sich heraus, daß Katharina den Leierkasten längst verkauft hatte. Die neue Uniform war noch vorhanden. Willi drohte mit einer Anzeige wegen des verkauften Leierkastens und erreichte, daß man ihm die Uniform sofort übergab. Er pfiff, und der Chauffeur, mit dem er dieses Zeichen verabredet hatte, kam. Willi überreichte ihm den Anzug, sagte drohend »Guten Abend« und ging. Der Unterinspektor war gewiß, soeben den Besuch eines großen Mannes erhalten zu haben.
Die Uniform allein genügte noch nicht. Andreas erzählte, daß er sein Kreuz nicht mehr besitze. Willi behauptete, ohne Orden könne man keinen Dienst in der Toilette versehen. Er kannte die geheimen Zusammenhänge zwischen Bedürfnisanstalten und Patriotismus und wußte die ornamentale Wirkung eines dekorierten Invaliden im Klosett zu schätzen. Am nächsten Morgen kaufte er in einem Ordenladen fünf Auszeichnungen, darunter einen Stern aus Gold und Silberflitter an blauroten, rot-weiß gestreiften und knallroten Bändern. Das mußte Andreas an die Brust nähen.
Zwei Tage später trat er seinen Dienst in der Toilette des Cafés Halali an.
XVIII
Zwischen blanken Kachelwänden und wandhohen Spiegeln, neben einer blauen Personenwaage, saß Andreas Pum. Von den Wasserhähnen über den drei Porzellanbecken tropfte es in regelmäßigen Abständen, das plinkende Geräusch unterbrach die weiße, unendlich saubere Stille, und es war, als fielen Tropfen der Zeit in den Raum der Ewigkeit. Auf einem Tischchen lagen Handtücher, flachgebügelt, übereinandergeschichtet, und Seifenwürfel bildeten eine kunstvolle, sehr hohe und dennoch sichergegründete Pyramide. In einem gläsernen Wandkasten sah man Parfümflaschen, Würfelspiele, Trendel aus Messing und Stahl, ein Dominospiel für die Tasche und kleine Zauberspielkarten. Das alles bekam Willi »in Kommission«. Andreas verkaufte es. Um die »Toilette« interessanter zu machen, hatte der Cafetier einen Papagei angeschafft. Er hieß Ignatz und besaß einen grünen Rücken, der violett schimmerte, eine rötliche Mütze und eine weiße Halskrause. Der Papagei sagte »Guten Tag« und »Guten Abend«, sooft ein Herr die Toilette betrat. In den Pausen, besonders an Nachmittagen, wenn keine Gäste kamen, unterhielt sich Andreas mit dem intelligenten Vogel. Sie hatten sich allerhand anzuvertrauen, Andreas und Ignatz. Der Papagei saß im Käfig, dessen Tür offenstand, aber es fiel ihm nicht ein, etwa weitere Ausflüge zu unternehmen als bis zum Wandkasten, der oben in der Mitte einen dreieckigen Giebel hatte.
Auf der Spitze saß der Papagei oft und rieb mit einer Kralle kunstvoll seinen Schnabel.
Andreas dachte an die Zeit, in der er sich zu seinem Leierkasten einen solchen Vogel gewünscht hatte. Er stellte fest, daß viele Wünsche spät in Erfüllung gehen, wenn der Mensch bereits alt und fast wunschlos geworden ist. Dieser Papagei war sehr musikalisch. Wenn die Musikkapelle im Café spielte, begann Ignatz zu pfeifen. Es gab Melodien, die er besonders liebte, und andere, die ihn aufregten. Erklang eine, die ihm unsympathisch war, so sträubte sich sein Gefieder, es bauschte sich sein rotes Samtkäppchen, und er begann, mit den Flügeln so wild um sich zu schlagen, daß seine bunten Federn flogen und die Seifenpyramide leise zitterte. Das ereignete sich bei den Klängen der Nationalhymne in einem ganz erstaunlichen Maße und bei einigen kriegerischen Märschen. Es schien, daß Ignatz ein Pazifist war und unpatriotisch bis zu einem sträflichen Grade. Darüber freute sich Andreas im stillen. Denn auch er liebte die patriotische Musik nicht mehr, und er dachte mit bitterem Hohn an jene Zeit zurück, in der er selbst noch durch seinen Leierkasten diese Melodien verbreitet hatte.
Ja, ja, Ignatz, wir sind Rebellen, wir beide. Leider kann es uns nichts nützen. Denn ich bin ein alter Krüppel, und du bist ein ohnmächtiger Vogel, und wir können die Welt nicht ändern. Wenn ich dir erzählen wollte, wieviel ich im Leben gelitten, was ich im Krieg durchgemacht habe und im Gefängnis, wie mir in der Zelle die Augen aufzugehen begannen und wie ich endlich entschlossen war, ein kräftiger, tätiger Heide zu werden, bis ich im Spiegel des Vorortzuges einsehen mußte, daß ich zu alt geworden war! Alle meine Freunde leben noch und sind kräftig und jung. Ich aber bin dem Tode verfallen, und wenn du mit deinen Flügeln so wild um dich schlägst, so glaube ich schon, sein Rauschen hinter meinem Rücken zu hören.
Der Papagei sah versonnen und träumerisch und vollkommen ruhig Andreas an. Dann begann er zu pfeifen, als wollte er den alten Mann erheitern. Er pfiff ganz willkürlich, nach eigenen Tongesetzen, als würfe er die Sprossen der Tonleiter durcheinander, und besonders schrille Laute wiederholte er schnell und ohne Pause. Dann sprang er mit einem leisen Schrei Andreas auf die Schulter und bat um Zucker, den Andreas in viele kleine Stückchen teilte.
Es ging abwärts mit Andreas. Er sah aus wie ein Siebzigjähriger. Sein weißer Bart reichte knapp bis zu den bunten Ordensbändern auf seiner Brust, die ihm das Ansehen eines alten Schlachtenlenkers verliehen. Weißes Moos wucherte in seinen Ohren. Er hustete laut und trocken und war nach jedem Hustenanfall matt wie ein fieberkrankes Kind und einer Ohnmacht nahe. Er mußte ein paar Minuten sitzen, und um ihn kreisten die Spiegel, die blanken Kacheln und die Lichter, zuerst schnell, dann immer langsamer, bis sie endlich an ihrem gewohnten Ort stehenblieben. Diese seltsamen Bewegungen erinnerten Andreas an die letzten Drehungen eines Karussells, das aus den verschütteten Tagen seiner Kindheit auftauchte. Dazu kam die Musik aus dem Café, gedämpft, wie aus einem Jenseits, und nur anschwellend, sooft ein Gast die Tür öffnete. Sehr oft schlief Andreas ein. Er träumte viel und sehr deutlich, und alle Bilder des Traumes behielt er scharf im Gedächtnis, wenn er erwachte. Er wußte bald nicht mehr zu unterscheiden zwischen Wachheit und Traum, und er nahm geträumte Bilder für wirkliche Ereignisse und diese für Träume. Er sah die Gesichter seiner Gäste gar nicht, er putzte ihre Kleider, reichte ihnen Seifen, Bürsten und Handtücher und hörte nicht, wenn sie ihm etwas sagten, dankte nicht für ihre Trinkgelder und zählte nicht seine Einnahmen. Er verkaufte auch nicht viel von Willis Waren, er pries nichts an, er »interessierte« nicht, wie Willi sagte, wenn er »kontrollieren« kam. Nur der alten Freundschaft hatte er es zu verdanken, daß er auf seinem Posten bleiben durfte.
Das schmale Fenster der Toilette ging in einen Hof, in dessen Mitte ein Kastanienbaum stand und der Andreas an die Höfe erinnerte, in denen er musiziert hatte. Jetzt wurden die Knospen immer größer, sie wuchsen zusehends, wurden fett und knallig, die Vögel hingen in den Zweigen, paarten sich und stritten, Andreas streute ihnen Krumen und sah in den Frühling hinaus, der verborgen, kümmerlich und dennoch reich, so viel Pracht entfaltete, als es die Bedingungen des gepflasterten Hofes zuließen und die Sonnenstrahlen, die nur am Nachmittag hierherkamen. Wenn ein Gast eintrat, mußte Andreas aus Gründen des Anstandes das Fenster schließen, denn gegenüber waren Küchenfenster und weibliches Hauspersonal, das neugierig hinüberzusehen schien.
Die Stelle am Knie schmerzte, die Polsterung der Krücke hätte längst erneuert werden müssen. Auch der Rücken tat aus unerklärlichen Gründen weh, die Feuchtigkeit verstärkte alte rheumatische Schmerzen, Gichtknoten bildeten sich an den Fingern, und ein drückendes Weh lastete auf der Brust, das Herz schien sekundenlang stillzustehen, und Andreas glaubte, er wäre bereits tot. Dann erwachte er, erschrak, daß er noch lebte, und glaubte bald wieder, er wäre nicht mehr auf Erden. Erst ein neuer Schmerz bewies ihm, daß er noch ein Lebender war. Er wußte nämlich, daß Verstorbene keine Schmerzen kannten, weil sie keinen Leib hatten, sondern nur aus Seelenstoff bestanden. Über derlei Fragen grübelte er lange, einsame Stunden, er suchte eine Erklärung für die sichtliche Ungerechtigkeit Gottes und seine Irrtümer, er dachte über die Möglichkeit einer Wiedergeburt nach und begann, verschiedene Wünsche zu äußern, als stünde er vor dem Ewigen und der Wahl, in welcher Gestalt er wieder ins Leben zurückkehren wolle. Er entschied sich für die Existenz eines Revolutionärs, der kühne Reden führt und mit Mord und Brand das Land überzieht, um die verletzte Gerechtigkeit zu sühnen. Von derlei Dingen las er in den Zeitungen, die er vom Café bekam. Sie waren meist schon zwei Tage alt, und er erfuhr alle Neuigkeiten, die nicht mehr wahr sein konnten, ehe er die Zeitungen in Rechtecke zerschnitt und sie in gleichmäßigen Päckchen an die Nägel hing. Denn Willi hatte ihm eingeschärft, das teure Klosettpapier zu sparen.
Spät in der Nacht kehrte er heim. Jetzt bewohnte er allein das alte Zimmer Willis, aber er blieb nicht gerne ohne Gesellschaft zu Hause. So bat er um die Erlaubnis, seinen Papagei aus dem Café mitnehmen zu dürfen. Er trug den Vogel im Käfig, über den er warme Decken stülpte, wenn es regnete und die Nächte kühl waren. Der Papagei schlief unterwegs und erwachte erst im Zimmer, wenn er Licht durch die dicken Hüllen verspürte. Dann sprach er ein paar Worte, wie ein Mensch im Schlaf oder im Halbschlummer zu sprechen pflegt, und Andreas besänftigte ihn mit guter, liebevoller Rede.
Einmal sah Andreas Einbrecher in der Nacht, aber er sagte nichts dem Polizisten, den er an der nächsten Ecke traf. Die Einbrecher arbeiteten an der Tür eines Ladens. Andreas freute sich im stillen. Es schien ihm, daß die Einbrecher den geheimen Zweck haben, die Gerechtigkeit in der Welt auf eine gewaltsame Weise wiederherzustellen. Las er in der Zeitung von Mord und Einbruch und Diebstahl, so freute er sich. Die Verbrecher, die »Heiden«, waren seine stillen Freunde geworden. Sie wußten es nicht. Er aber war ihr Freund, ihr Gönner. Manchmal träumte er, ein verfolgter Verbrecher flüchte sich zu ihm in die Toilette. Dann half er ihm freudig durchs Fenster in den Hof und in die Freiheit.
Indessen wurden die Apriltage warm, regenschwanger und wie süße Versprechungen. In den Nächten fühlte Andreas einen fernen Duft mit dem Winde daherkommen, seine Glieder wurden mehr müde als sonst. Er verlor das Interesse für viele Dinge. Sogar die Wiederaufnahme seines Verfahrens bekümmerte ihn nicht mehr. Er war alt, er war älter, als er selbst wußte. Schon ragte er hinüber ins andere Leben, während er noch die Pflastersteine dieser Erde trat. Seine Seele träumte sich ins Jenseits, wo sie heimisch war. Fremd kehrte sie in den Tag zurück.
Seine Schmerzen verstärkten sich, sein Husten wurde noch trockener, die Anfälle dauerten länger. Er vergaß heute, was gestern geschehen war. Er sprach mit sich selbst. Er vergaß manchmal den Papagei und schrak auf, wenn dessen Stimme unvermutet krächzte. Der Tod warf einen großen blauen Schatten über Andreas.
Da kam eines Tages eine gerichtliche Vorladung. Sie war genau wie die erste mit einem würdigen Amtssiegel versehen, ein weißer Adler erhob seine Schwingen auf blutrotem Grunde, und obwohl die Adresse von flüchtiger Hand geschrieben war und der Gerichte vielbeschäftigte Eile bewies, strömte das Schriftstück doch jene Würde aus, welche den portofreien und amtlichen Briefen innewohnt. Andreas las. Er wurde noch einmal für zehn Uhr vormittags bestellt.
Er erinnerte sich wieder an seine Leiden, er arbeitete an einer Rede, er bereitete sich zu einer großen Anklage vor. »Hoher Gerichtshof«, wollte er sagen. »Ich bin ein Opfer dieser Verhältnisse, die Sie selbst geschaffen haben. Verurteilen Sie mich. Ich gestehe, daß ich ein Rebell bin. Ich bin alt, ich habe nicht lange mehr zu leben. Ich aber würde mich auch nicht fürchten, selbst, wenn ich jung wäre.« Noch viele tausend schöne und mutige Worte fielen Andreas ein. Er saß auf seinem Stuhl neben der blauen Personenwaage und flüsterte vor sich hin. Ein Herr verlangte Seife, und er hörte es nicht. Ignatz flatterte auf seine Schulter und bat um Zucker. Andreas fühlte ihn nicht.
XIX
Von einer Turmuhr schlug die zehnte Vormittagsstunde. Eine zweite Uhr wiederholte die zehn Schläge. Mit langgezogenen, wehklagenden Tönen fiel eine dritte ein. Viele Türme, alle Türme der großen Stadt warfen Glockenschläge hinunter auf die kupfernen Dächer.
Andreas stand vor dem Richter. Die Vorladung hatte er soeben dem Gerichtsdiener übergeben. Der trug sie mit weihevoller Gebärde zum Schreiber, er schritt auf den Zehenspitzen, um die andächtige Stille des Gerichtssaals nicht durch den schweren Tritt seiner offenbar genagelten Stiefel zu unterbrechen, und dennoch war in seinem Gang etwas Gewichtiges, wie in dem Parademarsch eines lautlosen Gespenstes. Der Schreiber war uralt und hatte eine schiefe Schulter. Auch kurzsichtig schien er zu sein. Denn seine Nase berührte fast den Tisch, auf dem er schrieb, und die Spitze seines Federhalters ragte dünn und drohend, wie ein geschliffener Speer, über den Rand seines Kopfes. Noch hatte die Verhandlung nicht begonnen, und dennoch lief die Feder mit schnellen, raschelnden Lauten über das Papier, als gälte es, die Aussagen der Jahrhunderte abzuschreiben.
Der Richter saß in der Mitte zwischen zwei blonden, wohlgenährten Männern mit blanken Glatzen. Andreas hätte gerne gewußt, was die beiden Männer dachten. Sie sahen aus wie Zwillinge und unterschieden sich lediglich dadurch, daß der eine die Enden seines Schnurrbarts emporgezwirbelt, der andere sie nach beiden Seiten, links und rechts, waagrecht ausgezogen hatte. Der Richter war bartlos. Er hatte ein unbewegliches Antlitz voll steinerner Majestät wie ein toter Kaiser. Seine Gesichtsfarbe war grau wie verwitterter Sandstein. Seine großen grauen Augen waren alt wie die Welt und schienen durch die Wände in ferne Jahrtausende zu blicken. Nicht bogenförmig gekrümmt, wie bei anderen Menschen, sondern waagrecht, wie zwei lange, schwarze Kohlenstriche standen die Brauen am unteren Rande der scharfen, kantigen Stirn. Die dünnen Lippen waren fest geschlossen, breit und blutigrot. So hätte dieses Angesicht wohl den Eindruck einer herzlosen Unerbittlichkeit hervorgerufen, wenn in der Mitte des männlichen starken Kinns nicht eine versöhnende, fast kindliche Mulde gewesen wäre. Der Richter trug einen schwarzen Talar mit einem kleinen, noch schwärzeren Samtkragen.
Auf dem erhöhten Tisch, zwischen zwei weißen und dicken, aber nicht gleich großen Kerzen stand ein Kreuz, gelb und wuchtig, wie aus Würfeln aufgebaut. Es schien Andreas, daß dieses Kreuz aus den Seifenwürfeln bestand, die ihm Willi zum Verkauf übergeben hatte. Aber das war nur der Irrtum eines Augenblicks. Andreas sah ein, daß ein Kreuz niemals aus Seife sein könne und daß es sündhaft wäre, so etwas zu denken.
Er war gespannt auf den Gang der Verhandlung. Manchmal ging die Tür auf. Dann sah Andreas auf einer Bank im Korridor seine Frau Katharina, die kleine Anni, den Herrn von der Plattform der Straßenbahn und seltsamerweise auch den rotbackigen Händler, der den Esel gekauft hatte. Das waren die Zeugen. Wo aber blieben der Polizist und der Schaffner?
Der Richter verlas den Namen: Andreas Pum, er murmelte die Daten, die Konfession, den Geburtsort, den Beruf. Dann erhob er seine Stimme, die tief und weich war, und sagte ein paar Worte, die wie in Samt gehüllt waren. Andreas hatte nur den Klang der Stimme gehört und nicht, was der Richter sagte. Dennoch wußte er, daß man ihn aufforderte zu erzählen.
Plötzlich entsann er sich, daß er noch die bunten Orden an seiner Brust trug, die ihm Willi gekauft hatte. Er riß sie schnell herunter und behielt sie in der Faust. Gleichzeitig bemerkte er, daß die Wände des Gerichtssaales aus blaßblauen Kacheln bestanden, nämlich denen der Toilette im Café Halali. Von der Decke, die unendlich hoch sein mußte, zu der er aber nicht emporzublicken wagte, wehte es kühl und duftend, wie im Sommer aus einem verdunkelten Friseurladen.
Er hustete einmal kurz und begann zu sprechen. Er fing mit der Schilderung der Szene auf der Plattform an. Aber der Richter streckte seine lange, schöne Hand aus, die aus den weiten Ärmeln der Toga weiß und edel herauswuchs, und machte eine abwehrende Bewegung. Zugleich ertönte seine Stimme, weich und dunkel, obwohl er die Lippen gar nicht bewegte. Das schien Andreas sehr wunderbar. Er hatte einmal als Knabe einen Bauchredner gehört. Aber dessen Stimme hatte grölend geklungen. Außerdem war ein Richter bestimmt kein Bauchredner. Wie aber war es dennoch möglich, daß er mit geschlossenen Lippen klar und rein die Worte sprach:
»Andreas, was hast du auf dem Herzen?«
Andreas wunderte sich noch mehr über das »Du«. Aber plötzlich fiel ihm ein, daß er ja ein kleiner Junge war. Er trug kurze Hosen. Er hatte beide Beine und war barfuß. Seine Knie waren vom letzten Fall auf die Kieselsteine des Schotterhaufens am Flußufer zerschunden, rot und brennend.
Er dachte gerade über diese seltsame Verwandlung nach, als Musik ertönte. Im ersten Augenblick erinnerte sie an den Leierkasten. Dann aber schwollen die Klänge an, sie rauschten, fluteten, sanken wieder in sich zusammen, begannen zu flüstern, entfernten sich und kehrten zurück. Viele Menschen waren im Saal. Sie knieten nieder. Die Kerzen zu beiden Seiten des Kreuzes brannten golden und verbreiteten einen Duft von Weihrauch und Stearin.
Da begriff Andreas, daß er tot war und vor dem himmlischen Richter. Auch war er kein Knabe mehr. Er allein stand im ganzen Saal unter tausend Knienden. Er trat einen Schritt vor und stieß die Krücke auf, aber sie verursachte kein Geräusch. Andreas merkte, daß er auf weichen Wolken stand. Er erinnerte sich an die Rede, die er für die irdische Gerichtsverhandlung präpariert hatte. Ein starker Zorn wuchs in ihm, sein Angesicht flammte, und seine Seele gebar Worte, zornige, purpurne Worte, tausend, zehntausend, Millionen Worte. Nie hatte er sie gehört, gedacht oder gelesen. Tief in ihm hatten sie geschlafen, gebändigt von dem armseligen Verstand, verkümmert unter der grausamen Hülle des Lebens. Jetzt sprossen sie auf und fielen von ihm ab wie Blüten von einem Baum. Im Hintergrund klang leise und in feierlicher Wehmut die Musik. Andreas hörte sie zugleich mit dem Rauschen seiner eigenen Rede:
Aus meiner frommen Demut bin ich erwacht zu rotem, rebellischem Trotz. Ich möchte Dich leugnen, Gott, wenn ich lebendig wäre und nicht vor Dir stünde. Da ich Dich aber mit meinen Augen sehe und mit meinen Ohren höre, muß ich Böseres tun als Dich leugnen: ich muß Dich schmähen! Millionen meinesgleichen zeugst Du in Deiner fruchtbaren Sinnlosigkeit, sie wachsen auf, gläubig und geduckt, sie leiden Schläge in Deinem Namen, sie grüßen Kaiser, Könige und Regierungen in Deinem Namen, sie lassen sich von Kugeln eiternde Wunden in die Leiber bohren und von dreikantigen Bajonetten in die Herzen stechen, oder sie schleichen unter dem Joch Deiner arbeitsreichen Tage, sonntägliche, saure Feste umrahmen mit billigem Glanz ihre grausamen Wochen, sie hungern und schweigen, ihre Kinder verdorren, ihre Weiber werden falsch und häßlich, Gesetze wuchern wie tückische Schlingpflanzen auf ihren Wegen, ihre Füße verwickeln sich im Gestrüpp Deiner Gebote, sie fallen und flehen zu Dir, und Du hebst sie nicht auf. Deine weißen Hände müßten rot sein, Dein steinernes Angesicht verzerrt, Dein gerader Leib gekrümmt, wie die Leiber meiner Kameraden mit Rückenmarkschüssen. Andere, die Du liebst und nährst, dürfen uns züchtigen und müssen Dich nicht einmal preisen. Ihnen erläßt Du Gebete und Opfer, Rechtschaffenheit und Demut, damit sie uns betrügen. Wir schleppen die Lasten ihres Reichtums und ihrer Körper, ihrer Sünden und ihrer Strafen, wir nehmen ihnen den Schmerz und die Sühne ab, ihre Schuld und ihre Verbrechen, wir morden uns selbst, sie brauchen es nur zu wünschen; sie wollen Krüppel sehen, und wir gehen hin und verlieren unsere Beine aus den Gelenken; sie wollen Blinde sehen, und wir lassen uns blenden; sie wollen nicht gehört werden, also werden wir taub; sie allein wollen schmecken und riechen, und wir schleudern Granaten gegen unsere Nasen und Münder; sie allein wollen essen, und wir mahlen das Mehl. Du aber bist vorhanden und rührst Dich nicht? Gegen Dich rebelliere ich, nicht gegen jene. Du bist schuldig, nicht Deine Schergen. Hast Du Millionen Welten und weißt Dir keinen Rat? Wie ohnmächtig ist Deine Allmacht! Hast Du Milliarden Geschäfte und irrst Dich in den einzelnen? Was bist Du für ein Gott! Ist Deine Grausamkeit Weisheit, die wir nicht verstehen – wie mangelhaft hast Du uns geschaffen! Müssen wir leiden, weshalb leiden wir nicht alle gleich? Hast Du nicht genug Segen für alle, so verteile ihn gerecht! Bin ich ein Sünder – ich wollte Gutes tun! Weshalb ließest Du mich die kleinen Vögel nicht füttern? Nährst Du sie selbst, dann nährst Du sie schlecht. Ach, ich wollte, ich könnte Dich noch leugnen. Du aber bist da. Einzig, allmächtig, unerbittlich, die höchste Instanz, ewig – und es ist keine Hoffnung, daß Dich Strafe trifft, daß Dich der Tod zu einer Wolke zerbläst, daß Dein Herz erwacht. Ich will Deine Gnade nicht! Schick mich in die Hölle!
Die letzten Sätze hatte Andreas nach einer unbekannten fremden, wunderbaren Melodie gesungen. Immer noch klang die Musik wie ein Orchester aus tausend Seufzern.
Da hob der Richter die Hand, und seine Stimme tönte: »Willst du ein Diener im Museum sein oder Wächter in einem grünen Park oder einen kleinen Tabakverschleiß an der Straßenecke haben?«
»Ich will in die Hölle!« antwortete Andreas.
Da war auf einmal Muli, der kleine Esel, neben Andreas und führte den Leierkasten, aus dem Töne drangen, obwohl die Kurbel nicht bewegt wurde. Der Papagei Ignatz stand auf Andreas' Schulter. Der Richter erhob sich, er wurde groß und größer, sein graues Angesicht begann weiß zu leuchten, seine roten Lippen öffneten sich und lächelten. Andreas begann zu weinen. Er wußte nicht, ob er im Himmel oder in der Hölle war.
Man sperrte die Herrentoilette im Café Halali und ließ die Herren in die Damenabteilung für diesen Abend. Nachdem sich alle Gäste entfernt hatten, schaffte man die Leiche Andreas Pums weg. Sie kam nach einigen Tagen, weil gerade Leichenmangel war und obwohl sie nur ein Bein hatte, ins Anatomische Institut und erhielt, dank einem geheimnisvollen Zufall, die Nummer 73, dieselbe, die der Häftling Andreas getragen hatte. Ehe man die Leiche in den Seziersaal trug, kam Willi, um Abschied zu nehmen. Er wollte gerade anfangen zu weinen. Da fiel ihm schnell das Lied ein, das er immer zu pfeifen pflegte.
Und pfeifend ging er, einen Greis für die Toilette suchen.

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