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Ich lasse mir meine Kinderphantasie nicht wegnehmen
prosa [ ]
Kolumne 90

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von [Delagiarmata ]

2013-02-01  |     | 



Keine Frage, die Deutschen sind ein debattierfreudiges Volk. Das könnte etwas mit ihrer Vereinskultur und Fußballbesessenheit zu tun haben. Und sie sind gar nicht so politikverdrossen, wie man gelegentlich hört. Sie schimpfen ganz schön drauflos, nur sie engagieren sich halt nicht mit besonderem Eifer in den Parteien. Die Debatten beginnen, so gesehen, im nachbarschaftlichen Umfeld, führen durch die Stadien und umkreisen die Rathäuser, Landtage und Landesregierungen, wie die Berliner Machtzentralen. Etwas abseits von diesen Massendebatten entstehen oft auch, meist künstlich generierte, Diskussionen in den Feuilletons der deutschen Presse.

Zurzeit weiß man eigentlich gar nicht, welcher Debatte man folgen soll, und läuft Gefahr, die Notionen durcheinanderzubringen. Ist es nun Antisemitismus, oder Sexismus, oder Rassismus, oder gleich alles zusammen? Dass der FREITAG-Herausgeber Jakob Augstein mit seinen israelkritischen Thesen bei einigen zart besaiteten Zeitgenossen ein mulmiges Gefühl auslöst und die Aktivisten vom Simon Wiesenthal Center in Los Angeles überreagieren, ist nicht das größte Übel. Da hat sein Ziehvater Rudolf Augstein in den 1960er Jahren ganz andere Margen gesetzt. Der ließ die deutsche Republik (nicht die demokratische) mit seinem SPIEGEL regelrecht beben. Diese gegenwärtige Antisemitismusdebatte ist überflüssig wie ein Kropf.

Nicht weniger geistreich ist das Geplapper um den FDP-Politiker Rainer Brüderle und ein vor einem Jahr durch seinen Alkoholblick gesehenes Mädel im Dirndl. Oder nicht im Dirndl, das hätte dem Mädel nach seiner damaligen spätabendlichen Meinung bloß gut zu Gesicht gestanden. So etwas nennt man heutzutage in Deutschland Sexismus. Ein ganz schlimmer Vorwurf. Man denke nur an Kommunismus, Nationalsozialismus und andere Ismen. Alles Dinge, die gar keine Diskussionen zulassen, weil sie von ihren Befürwortern noch nie zur Debatte standen. Eben Ismen. Schreckliche Zeiten. Und jetzt noch Sexismus. Unglaublich, was über dieses bedauernswerte Volk alles hereinstürzt. Die Moderatoren haben quer durch die Talkshows der vielen Fernsehsender merklich Mühe, diese Debatte in einigermaßen seriösen Bahnen zu halten.

Und doch gibt es bei aller Lächerlichkeit ab und zu eine Debatte, die einen traurig stimmen kann. Ja, nur traurig, denn mehr kann man über soviel Hahnebücherei wohl kaum sagen. Es geht um Rassismus. Nein, nicht in den Fabriken, Fußballstadien, Schulen und wo überall sich Menschen verschiedener Hautfarben und Kulturen begegnen. Es geht um Kinderbücher. Jawohl: um Kinderbücher! Keine zeitgenössischen Kinderbücher, sondern solche, die vor Jahren verfasst wurden und mittlerweile von Millionen von Kindern gelesen, ja, genossen wurden. Pippi Langstrumpf ist plötzlich kein ewiger Kinderbuchhit mehr, sondern ein mit rassistischen Begriffen durchwachsenes Schriftstück. Gemeingefährlich! Achtung Neger! In dem Buch soll das Wort „Neger“ vorkommen. Um die Zukunft der deutschen Seele besorgte Verleger haben bereits begonnen, alle rassismusdurchwobenen Kinderbücher umzuschreiben.

Ich erinnere mich an meine Kindheit in den 1950er und 60er Jahre hinter dem Eisernen Vorhang. In unserem Haus gab es fast keine Bücher. Es gab kein Fernsehgerät, nur ein kleines Radio. Großvater war früh gestorben, die Eltern weilten tagsüber in der Stadt auf der Baustelle und die Oma hatte genug zu tun in Haus und Hof. Und dann tauchte eines Tages ein Buch auf, kein Kinderbuch, ein Buch für Große, mit Bildern aus Afrika und Asien. Es muss ein Reisebuch gewesen sein. Ich sah auf den Schwarzweißbildern zum ersten Mal schwarze Menschen. Das wären Neger, erklärte man mir. Sie leben in Afrika im Urwald. Wie schön. Ich träumte monatelang von ihnen, ihren glänzenden wohlgeformten Körpern, ihren Lanzen und Bogen und ihrem abenteuerlichen Leben. Meine Kinderphantasie war erweckt. Später kamen Indianer dazu, Rothäute, wie die bösen Bleichgesichter bei Karl May sie nannten, und Schritt für Schritt andere Völker: Chinesen, Japaner, Inder, Mongolenstämme usw. Eines Tages fiel mir auch Onkel Toms Hütte in die Hand. Das Leid und die gewaltlose Heldenhaftigkeit afroamerikanischer Sklaven in Amerika. Unter allen diesen Völkern gab es gute und böse Menschen - wie bei den Weißen eben auch. Menschen. Nur Menschen. Und die sollen jetzt aus Kinderbüchern verschwinden. Die Menschen meiner bis heute nicht vergessenen Kinderphantasie sollen verschwinden, überschrieben werde. Keine Neger mehr, keine Zigeuner, keine Rothäute, keine... Welch ein schrecklicher Tod!

Das heißt natürlich noch lange nicht, dass mein Erwachsenenumfeld unbefleckt war. Im Gegenteil: Schon die Liebe zu einem rumänischen Mädchen war für einen Jugendlichen meines Dorfes ein Kapitalverbrechen. Wie sollte es in Häusern ohne Bücher auch anders sein? Und davon gab es viele, sehr viele. Aber diese Erwachsenenwelt konnte meiner Kindheitsphantasie nichts mehr anhaben, selbst dann nicht, als sie wie ein unbändiges Gewitter über meine postpubertäre Gefühlswelt hereinbrach. Und so leben sie heute als gute Gestalten meiner Kindheit in mir fort: Neger, Türken, Zigeuner, Indianer und viele andere mehr

Ich bin traurig. Schlicht und einfach nur traurig. Ach ja, die ersten Neger sah ich, als ich in die Stadt ging, einen Beruf zu erlernen. Da war ich schon fünfzehn. Es waren Studenten aus afrikanischen Staaten. Sie waren wirklich so, wie ich sie mir vorgestellt hatte, nur eben ohne Pfeil und Bogen. Das rumänische „negru“ heißt „Neger“, es heißt aber auch „Schwarzer“. Wie gut die deutschen Political-Correctness–Fans es wieder mal haben. Sie haben eine Alternative auch für diesen Schwachsinn gefunden. Die Rumänen müssen bei ihrem „negru“ bleiben, denn der wird bei noch soviel Überpinselei nur ein „Neger“ bleiben, einer der vielen guten Menschen aus meiner Kinderphantasie.

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