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■ Eine Krone von Veilchen
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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2012-03-18 | | Veröffentlicht von miron stefan
Florian Wendelmayer saß auf seinem Platze im Orchester, die Flöte an den Lippen, und sah aufmerksam auf den Kapellmeister hin, der eben zweimal mit dem Taktstocke auf sein Pult geklopft hatte. Im ganzen Hause war es still geworden. Die Ouvertüre begann. Florian Wendelmayer blies die Flöte, wie alle Tage seit siebzehn Jahren. Er sah nicht mehr auf das Notenblatt; hundertmal hatten sie ja schon dasselbe Stück gespielt, er kannte es auswendig. Ganz mechanisch blies er seinen Part. Er hörte eigentlich nicht einmal zu. Seit siebzehn Jahren saß er da, auf demselben Stuhle, vor demselben Pulte. Drei Kollegen hatten schon neben ihm gesessen und geblasen. Einer war gestorben, zwei hatten an andern Theatern Stellungen erhalten. Jetzt saß ein junger Mann neben ihm, der nebenbei auch Privatstunden gab. Florian hatte die seinen verloren, daran dachte er während der Ouvertüre, und er überlegte, ob er wieder ein Inserat ins Wochenblatt geben sollte, um vielleicht eine neue Lektion zu bekommen...
Und jetzt kam eine große Pause für die Flöte. Zweiundvierzig Takte mußte sie schweigen, und Florian guckte über die Orchesterrampe hinüber in das schöne, helle, gefüllte Haus. Die meisten Leute kannte er. Die Stadt war nicht groß, und es waren immer dieselben, die ins Theater kamen. Jetzt ging eine leichte Bewegung durch das Haus, und man wandte die Augen zur Hofloge, wo eben der Fürst an der Seite seines Adjutanten erschienen war. Der Fürst rückte den Sessel zurecht, und zwar ganz leise, fast unhörbar, er war immer sehr rücksichtsvoll. Die zweiundvierzig Takte waren um, und die Flöten setzten wieder ein. Es kam der Schluß der Ouvertüre. Sehr laut, lärmend, alle Instrumente spielten mit. Endlich drei breite, von Trommelschlägen begleitete Akkorde, und der Vorhang ging in die Höhe. Ein altes Lustspiel wurde aufgeführt, dessen erste Aufführung Florian vor zehn Jahren mit angesehen hatte. Die meisten Musiker eilten ins Freie. Es war ein warmer Frühlingsabend, und da pflegten sie hinter dem Theater hin und her zu spazieren oder sich auf die grün angestrichene Bank zu setzen, die draußen stand. Sie plauderten und rauchten Zigaretten. Florian blieb aber im Theater auf seinem Platz sitzen. Was sollte er draußen tun? Wegen der paar Minuten! Es war langweilig und überflüssig. Er legte die Flöte vor sich hin auf das Pult und sah auf die Bühne. Ach ja, das alte Stück! Es kam ihm sonderbar vor, wenn die Leute lachten. Immer wieder dieselben Späße, und immer wieder klatschte man Beifall, lachte, unterhielt sich. Florian wollte, es wäre schon aus. Dann könnte er hinüber ins Wirtshaus gehen, sein Glas Bier trinken und dann nach Hause ins Bett. Er war so abgespannt, er fühlte sich alt. Wie lange, wie viele Jahre saß er nun schon da; er erinnerte sich kaum, daß es je anders war. Und doch, was war er einmal für ein Mensch gewesen. Er hatte komponiert, Lieder, Symphonien; seine Lieder waren sogar in manchem Konzert gesungen worden vor fünfzehn, zwanzig Jahren. Nun gab es für ihn keine Melodien mehr! Seine Liebe für die Musik war nach und nach erstorben. Es war ihm alles nur Geräusch und Lärm, unausstehlich all das Geigen- und Flötenspiel, das die Leute entzückte. Aber es mußte weiter geflötet werden, er lebte davon. Ach, wie liebte er früher seine Kunst! Er hatte seine Schulen nicht beendet, hatte nichts studiert. Stundenlang war er durch den Wald gewandert, Melodien rauschten in ihm, er hörte nur zu. Nur wenig schrieb er auf. Es war nicht möglich, all diesen Überfluß festzuhalten. Das Wehen der Luft, das Säuseln der Bäume, seine knisternden Schritte wurden zu Musik. All das war lange vorüber, auch der Schmerz, daß es entschwunden war, lang vorüber. Nun spielte er seine Flöte und tat seine Pflicht, ruhig und dürftig floß sein Leben hin. Das ganze Haus lachte. Auch Florian lächelte – er lächelte zum hundertsten Mal über dieselben dummen Späße. Der Aktschluß war nahe. Die niedere Orchestertür öffnete sich, und die Musiker erschienen wieder. Alle bückten sich, nicht an den Türpfosten anzustoßen, außer dem kleinen Kontrabassisten, der hocherhobenen Hauptes seinem Platze zuschritt. Auch der Kapellmeister trat ein, setzte sich auf seinen erhöhten Stuhl und nahm den Taktstock zur Hand, um sofort beim Fallen des Vorhangs das Zeichen zum Beginn der Musik zu geben. Der Vorhang senkte sich unter lebhaftem Applaus. Und schon fiel das Orchester ein; das Lachen und Plaudern im Zuschauerraum mischte sich drein. Es war ganz seltsam lärmend heute, so schien es wenigstens dem Florian Wendelmayer. Es war auch heißer als sonst, und als er einen Ton auf der Flöte ziemlich lang aushalten mußte, schwindelte ihm ein wenig. Er setzte wieder ein... wie merkwürdig, die Hände wurden ihm so schwer. Er blies weiter. Wieder überkam ihn ein Schwindel. Es wurde dunkler im Hause... es schwankte... die Lichter verlöschten. Die Flöte entfiel Florians Händen. Welch ein Lärm. Das Haus stürzt ein! Und Florian wollte aufstehen, sich retten, – er sah nichts mehr. Die Füße waren ihm schwer. Er konnte sich nicht rühren. Und da stürzte er vom Sessel herunter vor das Pult hin, und der Sessel fiel nach rückwärts. Es klang dumpf. Die Musikanten wandten sich hin. Der Nachbar Florians sprang erschrocken auf. Im Publikum merkte man die Unruhe, erhob sich von den Sitzen. Der Fürst in seiner Loge beugte sich über die Logenbrüstung, aber der Kapellmeister, dem der Schweiß auf der Stirne stand, hob und senkte den Taktstock und sagte ziemlich vernehmlich: »Weiterspielen!« – »Was ist's, was ist's?« fragten die Leute, und die Direktorin stürzte von der Bühne zur Türe des Orchesters heraus. Man wußte es schon. Einem Flötisten war unwohl geworden. Der Kapellmeister schlug noch immer Takt, aber man spielte nicht mehr. Aller Augen richteten sich nach der Türe des Orchesters. Zwei Theaterdiener waren dort zu sehen, und zwischen Trommler und Posaunisten schritten sie zu dem Platze hin, wo Florian Wendelmayer lag. Sie hoben ihn auf, er hatte die Augen halb offen, seine Unterlippe hing schlaff herab. Sie nahmen ihn bei den Armen, legten ihn auf ihre Schultern, faßten ihn um den Rücken und schleppten ihn so hinaus. Man konnte im Zuschauerraum glauben, er ginge selbst. »Was ist's, was gibt's?« flüsterte man im Publikum. »Es ist nichts, nein, nein, wirklich nichts, ein Musikant ist unwohl, er kann ja selbst gehen.« Und kaum hatte sich die Orchestertüre geschlossen, so tat der Kapellmeister zwei Schläge auf das Pult, und die Musik begann zu spielen. Der andere Flötist hob Florians Stuhl auf und legte die Flöte des Kollegen darauf Die Zuschauer aber wollten sich noch nicht beruhigen. Hinter der Orchestertüre stand die Direktorin. »Gerade heute«, rief sie aus, »gerade heute der Lärm, wenn Seine Durchlaucht zugegen ist! Hat er denn nicht selber gehen können?« Die zwei Männer legten den Flötenspieler in dem schmalen Gange, der zur Straße führte, auf den Boden und blieben ruhig stehen. »Der Schlag hat ihn getroffen«, sagte der eine. Die Frau Direktorin betrachtete den Sterbenden. Bis hierher hörte man das Murmeln des Publikums. Jetzt kamen auch einige Herren herzu, fragten, erkundigten sich sehr besorgt. »Ach«, meinte die Frau Direktorin, »es ist nichts, ich bitte recht sehr, sich nicht weiter zu bemühen, es ist wirklich nichts. Er schlägt schon die Augen auf. Das Nötige ist schon veranlaßt. Ist der Doktor verständigt?« »Der Müller ist um ihn gegangen«, erwiderte ein Arbeiter. Nun kamen auch Leute von der Straße herein. Die Direktorin war verzweifelt. »Ich bitte recht sehr, kein Aufsehen zu machen, es ist ja nichts geschehen. Ich bitte die Herrschaften, sich zu entfernen. Wo nur der Doktor bleibt?« Eben kam er. Man machte ihm Platz. »Aber was ist denn das«, sagte er, »man legt doch einen Kranken nicht auf den Fußboden, das ist ja unglaublich. Trage holen, rasch.« »Trage holen«, wiederholte die Direktorin. Der Doktor beugte sich zu dem Flötisten nieder und fühlte ihm den Puls. Es war ganz still in dem Raum, und vom Zuschauerraum drang ein dumpfes Gemurmel her. »Ich bitte um Licht«, sagte der Doktor, »ich sehe nichts.« Ein Herr nahm das Öllämpchen von der Wand. Ein schwacher Schein fiel auf das Antlitz Florian Wendelmayers. Der Doktor betrachtete es aufmerksam, indem er noch immer den Puls hielt. »Der Mann ist ja tot«, rief er aus. Während alle erschrocken dastanden, trat ein Lakai ein. »Seine Durchlaucht geruhen sich zu erkundigen«, sagte er, »wie sich der erkrankte Musiker befindet.« »Bitte sehr, Seiner Durchlaucht ehrfurchtsvollen Dank zu melden«, entgegnete die Direktorin mit etwas gepreßter Stimme, »dem Musikanten geht es schon besser.« Der Lakai ging ab. Und nun dankte sie für die freundliche Teilnahme und bat höflichste sich aus dem engen Gang, wo es ja ohnehin so unbequem sei, zu entfernen. Die Herren aus dem Publikum waren bewegt. Es war so seltsam, daß sie nun wieder ins Theater zurück sollten zu einem lustigen Stück, und sie fanden darin wieder einmal einen Beweis dafür, was das Leben für ein seltsames und widerspruchsvolles Ding wäre. Und langsam gingen sie. Die Türe gegen die Straße zu war weit offen. Spaziergänger, die die Unruhe und Bewegung in dem Gange bemerkt hatten, blieben davor stehen. Die weiche Luft des Frühlingsabends zog herein. Die Direktorin wandte sich an die Umstehenden aus dem Publikum. »Man braucht es im Hause nicht zu erfahren, nicht wahr?« meinte sie. Nein, nein, sie würden nichts sagen. »Hat er Familie?« fragte der Doktor. »Nein«, erwiderte die Direktorin, »es ist ja der Wendelmayer.« »Ach, richtig, der Wendelmayer«, sagte der Doktor mit einem ganz beruhigten Ausdrucke, als wenn er hätte sagen wollen, »die Wendelmayers mögen nur ruhig sterben, das tut nichts«. Und er stand auf und hing die Öllampe wieder an die Wand. Zwei Arbeiter waren gekommen, draußen stand die Bahre bereit, und sie hoben den Toten auf, um ihn darauf zu legen. Im Theater war es ruhiger geworden. Die Musik spielte. Man erwartete den Anfang des zweiten Aktes. Die Herren, welche den Toten gesehen hatten, waren gefaßt und würdig, und wenn man sie nach dem Befinden des Musikanten fragte, so antworteten sie ernst und beruhigend. Eben ging der Vorhang auf, als die Türe der fürstlichen Loge geöffnet wurde und man einen Lakaien eintreten sah. Der Fürst wandte sich zu ihm um. »Der Musikant befindet sich wohl, Hoheit«, sagte der Bediente. Der Fürst sah wieder hinunter ins Publikum, aus dem einige Köpfe sich zu ihm wandten. Er glaubte eine Frage darin zu lesen und nickte freundlich Antwort. Er teilte seinem getreuen Volke durch ein beruhigendes Lächeln mit, daß sich der Flötenspieler Florian Wendelmayer vollkommen wohl befinde. |
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