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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2009-12-30
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Schon als Kind hörte ich den rein proletarischen Spruch: „Wir tun so, als ob wir arbeiten würden / sie tun so, als ob sie uns zahlen würden / Hurra, hurra und ... zur Bahn!“ Die Volksweisheit war wie sie war, aber die proletarische Weisheit übertraf alle Lehren, wie uns die Klassiker Marx und Engels lehrten. So ungefähr war es, ohne Diskussionen. Und dann noch: „Wer nicht arbeitet, macht keine Fehler. Und wer keine Fehler macht, wird für die Prämien vorgemerkt.“ Natürlich kamen all diese Sprüche in einen flagranten Konflikt mit den offiziellen Losungen, die mit weißen Buchstaben auf rotes Tuch geschrieben und in öffentlichen Räumen ausgehängt oder mit großem Stolz bei Kundgebungen zum 1. Mai, 23. August und eine Zeit lang auch am 7. November getragen wurden. Der letzte Termin verschwand aber aus kalendarischen Gründen, als man irgendwann nicht mehr wusste, ob die Große Oktoberrevolution im Oktober oder November stattfand. Und wenn dann Axiome auftauchten wie „Die Arbeit hat den Menschen geschaffen!“, dann ergänzten die Geschliffenen sofort: „Aber auch die Faulheit hat ihn nicht umgebracht!“ (dei nati stanchi – die müde Geborenen).
Worte, Worte, Worte – sagte der seit Jüngerem imperialistische Kollege William Shakespeare. In Wirklichkeit, war die Wirklichkeit irgendwo nirgendwo, also alle arbeiteten oberflächlich und Geld verdienten vor allem die Nichtstuer, die nur ihre Mäuler in Partei- und Gewerkschaftssitzungen (Übersetzungsriemen) wetzten. Entscheidend war in jener Zeit , dass du dich durchschlugst, also dass du dich mit Worten durchschlängeltest und dein Leben irgendwie meistertest, mit Gottes Hilfe oder besser gesagt, mit Hilfe des Teufels, denn der Herrgott hat in jenen Zeiten ziemlich geschlafen, erschöpft vom hartnäckigen Kampf gegen den Mystizismus, den wissenschaftlich-atheistischen. Ein Vorfall trug dazu bei, dass ich mir ein eigenes Lebensprinzip zulegte, das ich zugegebenermaßen mit Heiligkeit und Sturheit eingehalten habe: „das Gratisleben“, wie im Lomonosov-Lavoisier-Gesetz, also „Nichts geht verloren, nicht entsteht“. Hier halten wir kurz inne, um die Geschichte zu erzählen. Der Franzose zahlte mit seinem Kopf, guillotiniert im Jahre 1794, seinen Platz für die Russen freimachend, die nach Lenin den Arbeiterdichter Lomonosov entdeckten und ihn in die Schulbücher auf den freigewordenen Platz des armen Edelmannes von der Seine eintrugen, mit Kopf und allem. In einem Physikbuch für die 7. Klasse, so um 1957, stand mit der gleichen Frechheit, dass die Lokomotive von Polzunov und nicht von James Watt erfunden wurde, dass die Glühbirne eine Erfindung Ladîghins und nicht Edisons sei und das Radio von Popov und nicht von Marconi stammt. So waren die Russen. Sie nahmen nicht nur die Uhr und den Mantel, „davai Uhr, davai Mantel“, wie Tănase* trompetete und woher sich auch sein Ende ableitete, sondern haufenweise auch Physiker, Chemiker, Nuklearwissenschaftler. Das gleiche Verfahren hatte schon der Klassenfeind Emil Cioran*, der sein Leben lang „Stipendiant“ war, entdeckt. Aber natürlich wurde das „Gesetz“ mir zugeschrieben, eigentlich habe ich es mir selbst zugeschrieben, war ich doch kaum zum „Feind des Volkes avanciert“, während Cioran damals ein sehr unerwünschter Name war, der heute sehr gefragt ist, den aber viele nicht mehr lesen, natürlich außer Liiceanu*. Aber der Vorfall: Ich war Student im ersten Jahr in Cluj, während meine Eltern noch in Alba Iulea wohnten, wo auch meine Geliebte geblieben war, das Popenmädchen, das an keiner Fakultät der damaligen rumänischen Welt aufgenommen wurde und auch nie aufgenommen worden wäre. Am Anfang hauste ich zusammen mit Vater, der seinen berufsbedingten Umzug nach Cluj, Mutters Heimatstadt, vorbereitete, in einer Eisenbahnerbaracke im Dâmbul-Rotund-Viertel. Das Ganze ähnelte einem Zirkuszelt mit einem Gasofen aus Blech in der Mitte (Zentralheizung würden die Oltenier sagen), um den sich sonnenstrahlähnlich fünf oder sechs Betten reihten, in denen außer uns beiden noch drei Eisenbahnangestellte wohnten. Es war ein lächerlicher Komfort, aber er war „gratis“. Meinem Großvater war aufgefallen, dass ich das Bedürfnis hatte, öfter nach Alba Iulia zu fahren – wegen Mutter und der Geliebten – und verschaffte mir, der Kuckuck weiß wie, ein Gratisabonnement für die I. Klasse von Cluj nach Alba und retour. So fuhr ich unentgeltlich wöchentlich erstklassig nach Hause, während meine Kollegen zwar kleine, aber immerhin zu bezahlende Geldsummen für ihre spärlichen Heimreisen berappen mussten. Natürlich aß ich auch „gratis“. Auf ein Stipendium hatte ich kein Recht. Das gewährte man mir erst wegen guten Lernergebnissen im dritten Jahr, als ein Teil der Einschränkungen für Intellektuelle aufgehoben wurden (1963). Ich hatte aber die Inspiration, mich beim Unterhaltungsmusikorchester der Universität zu bewerben. Da musste ich zwar arbeiten, aber mit Freude: Proben bis spät in die Nacht, Veranstaltungen für die Kollegen, Tourneen in andere Universitätszentren. Das ging die ganze Studentenzeit so und statt einer Entlohnung bekamen alle Orchestermitglieder Gratisessmarken für die Studentenkantine. Dort war Victor Ciorbea, der spätere Ministerpräsident, eine Zeit lang Administrator. Ich bin mir sicher, dass auch er dort gegessen hat, hatte er doch das Recht, nach Dienstschluss aufzutauchen, zum so genannten „Supplement“, wohl mit dem Gedanke, wenn etwas bleibt, ist es gut, wenn nicht ... der Hunger. Zum Glück war von einer Lebensmittelkrise noch nichts zu spüren und Essen blieb immer ausreichend übrig, sehr gutes, so dass wir uns sowohl mittags als auch abends regelrecht überfraßen. Neben uns gab es auch noch ab und zu etwas für andere Kostenscheue, aber wir aßen offiziell „gratis“. Es war also 1961/62. Zum Ende des ersten Studienjahres zogen auch meine Eltern mit Sack und Pack nach Cluj, zu Beginn in eine andere Eisenbahnerbaracke irgendwo auf dem Hügel hinter der Philologie, Zaun an Zaun mit dem Friedhof in der Crişan-Straße - mit Begräbnissen bin ich gesättigt -, eine Art Junggesellenwohnung mit Bad und Küche, aber in einer Behausung mit Wänden, durch die der Wind pfiff. Dort hielten sie es allerdings nicht lange aus und zogen zu einer bekannten Familie mit einer Zweizimmerwohnung. Mit dieser Familie hatten sie eigentlich alle Nationalbaustellen des Landes abgeklopft. So dass ich also ganz allein in einer akzeptablen Wohnung zurückblieb, die nur den Nachteil hatte, dass ich den ganzen Winter über den Gasofen brennen lassen musste, sonst wäre es im Nu bitterkalt geworden. Es bestand Erstickungs- und Explosionsgefahr. Aber was zählte das damals schon? Es war „gratis“. Ich zahlte weder Strom noch Miete, während meine Kommilitonen von außerhalb Clujs schweres Geld an Vermieter zahlten oder einen Großteil ihres Bafögs für Studentenheim und Kantine ausgaben. Was soll ich mehr dazu sagen, als dass mich alle jugendlichen Liebhaber für meine echte „Bude“, die auch noch zentral lag, beneideten. Das „Gratisleben” wurde so zu einer Gewohnheit, die ich ein Leben lang nicht los wurde. Ich wurde „gratis“ auf Ausflüge und in Studentenlager – mit dem Studentenorchester – geschickt, kam auf Tourneen nach Timişoara, Satu Mare, Baia Mare, Sibiu, Braşov, Târgu-Mureş, Bucureşti und in andere Städte, immer getreu der Losung „Lernen wir unser Land musizierend kennen“. Dazu gehört noch, dass wir uns einen gewissen Namen gemacht hatten und auch auf Hochzeiten spielten, wo wir aßen und tranken, doch nicht „gratis“, denn dort bekamen wir sogar noch etwas Geld für unsere Musik. Die Politik ermöglichte solche Situationen, die von den anderen neidisch betrachtet wurden. Wir waren in eine gewisse „Nomenklatur“ eingetreten, ohne Macht, aber mit kleinen Vorteilen, Krümel, aber konsistente, die von den Tischen der Potentaten fielen. Später, als ich in drei Kulturkreisen engagiert war, bei den Schriftstellern, Malern und Theaterleuten, „schlemmte“ ich, natürlich „gratis“, auf Festivals, Vernissagen, Buchvorstellungen, Lesungen. „Der Monat des Buches auf den Dörfern“, zum Beispiel, im Februar, bot eine Gelegenheit, 28 oder 29 Tage lang zu essen und zu trinken, in Dörfern, die uns weniger wegen unserer literarischen Qualität einluden, als vielmehr um von den obligatorischen Gelagen „danach“ profitieren zu können. Der verstorbene Valentin Silvestru*, mit dem ich mich sehr gut verstand, konnte uns in einem ununterbrochenen Theaterfestival halten, 40 Veranstaltungen à 10 Tage, mehr als ein Jahr Tage hatte. Ich konnte gar nicht alle mitnehmen, aber allzu viele habe ich nicht verpasst – Reisen, Hotel, Essen und Trinken „gratis“, geschweige denn die nach guten Chroniken schmachtenden Schauspielerinnen, auch sie „gratis“. Wenn Sie das nicht glauben, fragen Sie doch Cocora*. Ich hatte auch Glück, über die BTT*-Schiene des Nicuşor* gelangte ich in die Gruppe der Hofnarrenkünstler um Theodor Stolojan*, Mircea Ursache*, Mohora*, Adrian Severin*, Adrian Năstase*, Ion Cristoiu* und anderer jugendlicher Macher, die bis heute Macher blieben, obwohl sie schon etwas gealtert sind. Wir waren jemand mit „Namen“, wie etwa Ion Sălişteanu*, Iosif Sava*, Ernest Maşek*, Al. Mironov*, grupul „Divertis”*, Loredana Groza, und fuhren nach Costineşti oder Izvorul Mureşului, Pârâul Rece, Câmpulung Moldovenesc, Slănic Moldova, und das sowohl im Sommer als auch an Silvester, wo wir indiskutabel aßen und tranken, „gratis. Weder die Politischen noch wir anderen hatten besonders viel zu tun. Nicuşor strapazierte uns nicht politisch, im Gegenteil, wir zeigten uns bloß den Studenten, den Jugendlichen aus den Bergen am Meer, wie „gescheit“ wir waren. Und das waren wir wirklich, denn wir lebten sehr gut „gratis“. Auch sie, die Studenten, damals „junge Menschen der Arbeit“ genannt, zahlten nicht allzu viel, aber sie zahlten und hatten es sowieso schwer einen Platz am Meer zu bekommen. Dass Sie aber jetzt nicht denken, der Übergang zum Kapitalismus hätte meine Lebenseinstellung geändert. Als Involvierter in die „Livolution“ – wie, das werde ich Ihnen später erzählen – bekam ich zwar keine Landflächen, Geld und Vorzüge wie Dan Iosif* oder Bebe Ivanovici*, auch Minister wurde ich nicht wie Ion Caramitru*, darf aber „gratis“ mit Bus, Straßenbahn, Zug und sogar Schiff fahren. Das ist alles, denn anscheinend war ich nicht so revolutionär wie andere, die 1989 während der Unruhen am Fernseher saßen. Aber darüber später, wenn ich dem Kinderverstand anheim falle, völlig unnötig auf die Straße gehen und mein Leben absolut „gratis“ an den Nagel hängen werde. Vorläufig schlussfolgere ich, dass das “Gratisleben” eine grenzenlose Genugtuung ist, denn ich bin zur Überzeugung gelangt, dass, besonders heute, jeder Dummerjan oder Dieb mit Geld leben kann, aber seltener auch ohne Geld „gut“ über die Runden kommt, also „gratis“. Anmerkungen*: - Constantin Tănase (1880 – 1945) = markante Figur des rumänischen Revuetheaters - Emil Cioran (1911 – 1995) = Philosoph und Schriftsteller - Gabriel Liiceanu (*1942) = Philosoph und Schriftsteller - Valentin Silvestru (1924 – 1996) = rumänischer Schriftsteller mit reicher publizistischer Tätigkeit, Engagements in Theater und Film. - Cocora = wahrscheinlich ist der Dichter und Literaturkritiker Ion Cocora (*1938) gemeint - BTT (Biroul de Turism pentru Tineret) = Jugendtourismusbüro - Nicuşor Năstase = Geschäftsmann mit zweifelhaftem Leumund, war ein Privilegierter der Ceauşescu-Diktatur, ab 1982 Chef der Diskotek Vox Maris in Costineşti an der Schwarzmeerküste, verließ 1988 fluchtartig eine rumänische Reisegruppe in Spanien und hielt sich bis 1990 in Deutschland auf, betrieb in Aachen ein Restaurant - Theodor Stolojan (*1943) = Ökonom & Politiker - Mircea Ursache = Geschäftsmann & Politiker - Tudor Mohora (*1950) = Politiker - Adrian Severin (*1954) = Politiker & Diplomat - Adrian Năstase (*1950) = Jurist & Politiker - Ion Cristoiu (*1948) = Journalist & Schriftsteller - Ion Sălişteanu (*1929) = Maler & Universitätsprofessor - Iosif Sava (*1933) = Musikwissenschaftler - Victor Ernest Maşek = Kunstkritiker - Alexandru Mironov (*1942) = Schriftsteller, Journalist, Politiker - Divertis = Kabarettgruppe - Loredana Groza (*1970) = Sängerin - Dan Iosif (1950 – 2007) = Politiker - Bebe Ivanovici = Politiker, in der rumänischen Presse als „Baron“ apostrophiert - Ion Caramitru (*1942) = Schauspieler, Regisseur, Politiker |
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