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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2009-11-29
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Wir sind ein Heldengeschlecht – nein, nein, das ist kein Hymnenzitat (von Tudor* oder einem anderen), oder aus der Anekdote „Irrtümer gab es, Irrtümer gibt es noch immer“* (aktuell, obwohl sie sich auf den Untergang des Kommunismus bezog), sondern Wirklichkeit unserer Familie. Mein Großvater, verlorener Sohn des altväterlichen mazedorumänischen Emigranten aus Skopje (Mazedonien), wurde 1877 eingezogen und im Bulgarienfeldzug eingesetzt. Er war an allen Schlachten „auf dem Felde der Ehre“ von Plevna, Grivița, Smârdan u.s.w. als Sergeant im Regiment des Helden Valter Mărăcineanu beteiligt. Nach dessen heroischem Tod verblieb er als einziger Unteroffizier im Regiment, dessen Führung er für einige Zeit übernahm. Er wurde nicht verwundet, die Kugeln mieden ihn, aber er bekam für seine Tapferkeit alle Orden wie Constantin Ţurcanu genannt Peneş Curcanul, Auszeichnungen die schon von Vasile Alecsandri* besungen wurden und jetzt in meinem Besitz sind. Anbei ein Foto aus dem Jahre 1928 von einem Treffen der letzten noch lebenden Helden in Cernăuți. Der erste von links ist die Alecsandri-Figur und in der Mitte steht mein Großvater. Die runden Orden, bei allen oben an der Brust, sind „Militärische Tüchtigkeit“ und darunter „Kreuz des Heiligen Georg und Rumäniens Fahne“. Auf Grund dieser Auszeichnungen bekam Großvater Tănase Taşcu vom rumänischen Staat, wie von Prinz Carol* versprochen, 50 ha Land, das er nach mazedorumänischer Gepflogenheit in kurzer Zeit zu einem Gut von etwa 3000 ha ausdehnte und so wesendlich zur Wertminderung meines Dossierinhaltes in der kommunistischen Zeit beitrug. Was soll ich sonst noch über mich erzählen? Fast wäre ich Heldenopfer der „Livolution“* vom Dezember 1989 geworden, hätte mich zum Glück nicht eine Dichterin vor den heranfliegenden Kugeln, die mich durchlöchern wollten, weggezogen. (Aber darüber werde ich ausführlich im Kapitel mit den Erinnerungen aus meinem Erwachsenenleben berichten.) Wie auch immer, ich bin Revolutionär mit „außergewöhnlichen Taten“ und berechtigt, mit allen öffentlichen Verkehrsmitteln kostenlos zu fahren, so viel und um nichts mehr, wie die Verleumder annehmen. Ernste Rechte bekamen die, die es natürlich nicht verdienten, nach der Regel, die schon bei den Illegalisten funktionierte: „Wenige waren wir, Viele sind wir geblieben.“
Vater, ein Champion der verpassten Gelegenheiten (siehe meinen Roman Miluta) schaffte es nicht zum Helden; er hat zwei Weltkriege ausgetrickst und eine Kommunistenkarriere verfehlt – wenigstens „Held der sozialistischen Arbeit“ hätte er werden können. Auch Mutter hat den Ruhm einer „Heldenmutter“ verpasst, nicht fähig, mehr als ein Kind zu gebären, also mich. Eine großartige Heldin war aber ihre Mutter, also meine Großmutter, von der ich ausführlich erzählen will. Es war 1963, besser gesagt gegen Ende des Jahres 1962. Die Partei bereitete sich auf die pompöse 30-Jahr-Feier der heldenhaften Kämpfe der Eisenbahner von Grivița vor. Staatschef Gheorghiu-Dej war Eisenbahner gewesen und wollte seine Kollegen ehren. Ein ungarischer Maler aus Cluj, Gavril Miklossi, wurde mit einem Gemälde zu diesem Thema berühmt. Nicht lange danach hat der Nachfolger Dejs, nach kommunistischem Brauch, alle Taten der Vorgänger zu leugnen, selbst wenn diese auch Kommunisten waren, Wissenschaftler mit der Suche in den Archiven beauftragt. Die haben dann auch herausgefunden, dass „Grivița Roşie”* eine Geschichtsfälschung war, dass der berühmte Mann an der Sirene, Vasile Roaită, Agent der Sicherheitspolizei war und den Sirenenalarm just dann auslöste, als die Verhandlungen gut verliefen, so dass die Opfer und der Heroismus der Eisenbahner völlig unnötig war, wie auch der fatale Heldenmut einiger Revolutionäre von 1989 nutzlos war. Also um die Geschichtsseite von 1933 zu füllen, suchte man selbstverständlich Rechtfertigungshelden. So ergab es sich, dass gegen Ende des Jahres 1962 in der Wohnung meiner Großeltern mütterlicherseits, wo wir zu dritt in zwei Zimmern hausten und uns Bad und Küche mit der Familie des gewesenen Fußballers von „Ştiința Cluj“, Suciu, teilten – so war das damals mit der Wohnungsnot aber auch mit der Krise der Mieter, während die Aktivisten der Rumänischen Arbeiterpartei es sich in den enteigneten Villen der Gutsbesitzer gemütlich machten –, zwei Männer vorstellig wurden. Zu jener Zeit fürchtete man sich noch vor geheimnisvollen Besuchen gewisser Genossen, wie der beiden, die mit meinen Großeltern reden wollten. Oft waren die Gastgeber nach einem solchen „Besuch“ aufgeschwollen und wurden in die berühmten GAZ* der Securitat geschoben und weg waren sie. Die Großeltern packte das Zittern, obwohl Großvater, Manövrierchef im Bahnhof Cluj, die Funktion eines Parteisekretärs ausübte, gewählt weil er anständig war und die Mitgliedsbeiträge in schönen Tabellen festhielt, die ich oft selbst ausfüllte. Sogar in dieser Position hatte Großvater nur den zwei großen Ikonen, die über dem Doppelehebett thronten und die auch jetzt noch in der unierten Kirche in der Horia-Straße hängen, Rechenschaft abzugeben, denn die Alten hatten ihr Bekenntnis zur griechisch-katholischen Konfession nie aufgegeben. Also stoppte Großvater den revolutionären Elan der zwei Genossen in Richtung Hinterzimmer der Großeltern und bat sie an den Tisch im Durchgangszimmer, in dem Mutter, Vater und ich wohnten. Daraus ergab sich, dass ich einer wahrlich erstaunlichen Szene beiwohnte, die der Feder eines Kafka oder eher noch eines Caragiale oder Hasek würdig wäre. Die beiden nahmen mit einer geheimnisvollen Miene am Tisch Platz, holten aus ihren proletarischen Mappen einige Dossiers (schon beim Hören dieses Wortes versteinerte man, erst recht bei dem Anblick) hervor und blätterten taktvoll ein wenig hin uns her, bevor einer der beiden mit bedeutungsgeschwängerter Stimme loslegte: „Sie sollen uns sagen, Herr Moraru, was Sie im Februar 1933 gemacht haben. Wir sind informiert, dass Sie beide bei eben diesen Werkstätten tätig waren, die heute „16. Februar“ heißen.“ „Also ich war auch Manövrierchef“, stammelte Großvater schüchtern. „Lass das, Genosse Gheorghe, wir wissen, was du gemacht hast. Aber lass uns Genossin Moraru schildern.“ Eine andere Redensart, die dir das Blut in den Adern gefrieren ließ: „wissen wir“, hier in der versüßten Form „wir wissen“. Großmutter begann zu zittern und stammelte: „Ich war im Lager der Kantine mit der Versorgung beschäftigt.“ „Ja, und was hast du während des Streiks der Eisenbahner gemacht“, runzelte einer der zwei Ermittler die Stirn. „Na, ich habe ihnen Brot gegeben, denn sie haben verlangt, aber ich habe Bons entgegengenommen, wissen Sie ... und am Gehaltstag habe ich ihnen Geld verlangt ...“, rechtfertigte sich die arme Großmutter. Sie, die in Ihrem ganzen Leben nur einige Monate in einem Beschäftigungsverhältnis stand, sah sich jetzt zu einem Vorfall vernommen, der drei Jahrzehnte zurücklag. Die Ausfrager haben noch ein bedrohliches „Hm!“ vernehmen lassen und sind weggegangen, ohne wenigstens „Guten Tag“ zu sagen. Tagelang lebten die Großeltern mit der Angst, ein GAZ könnte vorfahren, um sie abzuholen, bis dann kurz vor dem Gedenktag, dem 16. Februar 1963, die Großmutter zur Parteiregionale gerufen wurde, wo man ihr eine Gedenkmedaille an die Brust heftete und sie mit einer Pension von ca. 600 Lei ausstattete, gutes Geld damals, wenn man bedenkt, dass sie vier Jahre, solang sie noch lebte, davon profitierte, und das für kaum zwei, drei Monate Arbeitszeit, während Großvater nach vier Jahrzehnten Arbeit und politischer Schreiberei eine Rente von knapp 200 Lei hatte. Immer wenn der Postmann mit den „Penzionen“* kam, fluchte Großvater ungehalten. Aber Großmutter verstand nichts, weil sie nach einer zeitweiligen unfallbedingten Erblindung in der Kindheit die Grundschule versäumt hatte und Analphabetin blieb. Sie konnte nur mit Mühe ihren Namen schriftlich „buchstabieren“ und hatte so keine Möglichkeit, etwas über die heroischen Ereignisse aus ihrer „revolutionären“ Jugendzeit zu lesen. Ich begriff sofort, dass die Leute der Partei versuchten, um jeden Preis Helden zu erschaffen, um dem Ereignis Glaubwürdigkeit zu geben. Und wie viele derartige Helden aus dieser Zeit mag es wohl gegeben haben? ... Held zu sein, ohne es gewollt zu haben - siehe eine Errungenschaft jener Zeit! [aus dem Rumänischen von Anton Potche] Anmerkungen*: - Tudor = gemeint ist wahrscheinlich Corneliu Vadim Tudor (*1949), rumänischer Schriftsteller, Politiker, Journalist, einer der einstigen Hofpoeten Ceauºescus, Gründer und Vorsitzender der Partei România Mare (Großrumänien) - „Irrtümer gab es, Irrtümer gibt es noch immer“ = spöttisches Anspielung auf das patriotische Lied „Helden gab es, Helden gibt es noch immer“ – rum. von „eroi au fost, eroi sunt încă“ zu „erori au fost, erori sunt încă“ – (Eroi auf fost, eroi sunt încă = patriotisches Marschlied; Musik: Ionel G. Bratianu, Text: Ioan Neniþescu, Soldat im Unabhängigkeitskrieg gegen die Türken, 1877 – 1878.) - Vasile Alecsandri (1821 – 1890) = rumänischer Dichter, Dramaturg, Volkskundler, Politiker, Minister, Diplomat, Akademiker, Gründungsmitglied der rumänischen Akademie, Schöpfer des rumänischen Theaters - Carol I (1839 – 1914) = Karl Eitel Friedrich Zephyrinus Ludwig von Hohenzollern-Sigmaringen, regierte Rumänien von 1866 bis 1914 - Livolution = gemeint ist Revolution; Anspielung auf das Sprachhandykap Ceauşescus, der schon mal den einen oder anderen Buchstaben verschluckte oder vertauschte (rum.: „loviluția“ statt „revoluția“) - Grivița Roşie = Eisenbahnstützpunkt in Bukarest; hier fand 1933 ein Eisenbahnerstreik statt, der blutig unterdrückt wurde - GAZ – Militärfahrzeuge aus sowjetischer Produktion - Penzionen = gemeint sind Pensionen (siehe auch Livolution) |
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