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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2004-02-25 | | Veröffentlicht von Nume
»Kanon« - klingt das nicht altmodisch? Und herrisch und verstaubt zugleich? Jedenfalls scheint es eine Vokabel aus einer vergangenen Epoche, eine, gegen die schon unsere Väter gelegentlich - meist gelangweilt - protestierten. Kurz: ein alter Zopf. Wirklich?
Ursprünglich handelte es sich um einen Begriff aus dem Bereich der Religion. Nichts anderes war gemeint als eine verbindliche Liste der von der Kirche anerkannten und sanktionierten Schriften. Zuständig sind da also die Theologen, die mögen sich darum kümmern. Aber wie ist es mit einem Kanon für die Literatur? Kann man da eine verbindliche Liste, ob nun kurz oder lang, überhaupt in Erwägung ziehen? Nein, das kann man nicht, denn Literatur, wie wir sie hier verstehen, ist Kunst - und die Kunst ist frei. Wozu brauchen wir da einen Kanon? Müssen wir uns mit dieser leidigen Frage herumschlagen? Wer das Gespräch auf den Kanon bringt, hat damit zu rechnen, daß sein Gegenüber mit den Achseln zuckt. Mehr noch: Wer an einen neuen Kanon für die Literatur denkt oder ihn gar vorlegt, der kommt mit Sicherheit in Teufels Küche. Ich frage mich, ob die in Deutschland weitverbreitete, die grundsätzliche Ablehnung des Kanons mit dem schwierigen, dem gebrochenen Verhältnis zur Tradition zu tun hat, zur deutschen Tradition. Im Lexikon lese ich, Tradition sei »das, was die Generationen verbindet, zwischen Vergangenheit und Zukunft Kontinuität stiftet«. Bereits Nietzsche hat sehr deutlich gesehen: »Was heute am tiefsten angegriffen ist, das ist der Instinkt und der Wille zur Tradition.« Man sei bemüht, den »Sinn für Überlieferung mit den Wurzeln herauszureißen«. Und Ricarda Huch ging in einer 1931 gehaltenen Rede so weit, knapp und streng zu erklären: »Deutschland als Gesamtheit hat keine allen faßliche, alle beherrschende Tradition.« Eben von der Tradition will man bei uns nicht viel wissen. Man fängt gern von neuem an. Das ist verständlich und noch keineswegs verwerflich. Bedenklich wird es erst da, wo man von neuem anfängt, weil man das Alte nicht hinreichend kennt oder gar nicht kennen will; und wo man nur so tut, als würde man von neuem anfangen. Die so häufig verwendete Bezeichnung »die Stunde Null« läßt ja mehr als die Sehnsucht nach einem Neubeginn erkennen; hier wird auch das Bedürfnis spürbar, das Geschehene zu verdrängen, die Vergangenheit zu vergessen. Oft nimmt man die Tradition als Fatalität, mit der man sich wohl oder übel abfindet. Übertreibt man, wenn man sagt, Deutschland sei das exemplarische Land der kontinuierlichen Traditionsbrüche und der traditionellen Diskontinuität? Anders als in England oder Frankreich, Spanien oder Italien gerieten in Deutschland immer wieder große deutsche Schriftsteller und bisweilen sogar ganze Epochen der deutschen Literatur in Vergessenheit und mußten erst neu entdeckt werden. So entdeckten die Romantiker die mittelhochdeutsche Dichtung, von der man um 1800 so gut wie nichts mehr wußte. Aber sie selber, die Romantiker, waren in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts schon fast unbekannt, niemand glaubte, es lohne sich, ihre Werke zu lesen. Erst Ricarda Huch, die sich um die Anschauungen und Konventionen der zünftigen Germanisten nicht kümmerte, gab mit ihrem um 1900 publizierten Werk über die Romantik den entscheidenden Anstoß zur Wiederentdeckung dieses einzigartigen Zeitalters der Kunst und der Literatur. Die Expressionisten erkannten die Größe Hölderlins und Büchners, die man bis dahin sträflich vernachlässigt hatte. Erst im zwanzigsten Jahrhundert tauchte man eine gewaltige Epoche der deutschen Dichtung wieder auf, für die es bis dahin nicht mal eine Bezeichnung gegeben hatte - die Barockliteratur. Und noch ein Beispiel aus der Musikgeschichte: Bach war in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nahezu gänzlich vergessen, erst Mendelssohn mußte die musikalische Welt mit seinen Werken bekannt machen. Aber wenn auch kaum jemand heutzutage an einen Kanon glauben will, haben erstaunlich viele Zeitgenossen eine mehr oder weniger deutliche Vorstellung davon, wie er, wenn wir uns überwinden und ihn eventuell doch wollten, aussehen sollte. Ich habe sogar den Verdacht, daß es in Österreich, in der Schweiz und erst recht in Deutschland mehr Kandidaten für die Verfertigung eines neuen Kanons gibt als tatsächliche Literaturfreunde. Also Schwamm drüber? Nein, noch nicht, einen Spaß wird man uns wohl noch gönnen. Also wollen wir uns erst einmal in Teufels Küche umsehen. Was ein Kanon für die Literatur nicht ist und nicht sein soll, läßt sich leicht sagen. Er ist weder ein Gesetzbuch noch ein Katalog, weder eine Anordnung oder Anweisung noch eine Vorschrift. »Ein jeder zählt nur sicher auf sich selbst« - läßt Schiller seinen wackeren Schützen Tell verkünden. Sein Weimarer Kollege von nebenan macht es noch knapper. Im Faust heißt es: »Selbst ist der Mann!« Und wir fügen, um nur ja keine Unannehmlichkeiten zu haben, rasch hinzu: Selbst ist auch die Frau. Mit anderen Worten: Jede und jeder kann und soll lesen, was sie oder er will. Autoritäre Anleitungen sind unerwünscht, aufdringliche Besserwisser unwillkommen. Wir sind ja heutzutage ohnehin gut und umfassend informiert, das ist schon sicher. Nur darf man fragen, ob wir nicht vielleicht überinformiert sind; mit anderen Worten: überinformiert und dennoch und zugleich unwissend. Viele befürchten dies, manche erschrecken angesichts der wachsenden Bücherflut. Sollten sie ganz allein gelassen werden? Je schneller und leichter sich Bücher herstellen lassen, desto mehr erinnert die Welt der Bücher an ein Labyrinth. Ist da einer überflüssig, der den Weg zeigt, nicht immer und unbedingt den kürzesten, aber vielleicht den schönsten? Brauchen wir nicht auch und gerade in unserem dritten Jahrtausend eine Auswahl der literarischen Werke, die ein gebildeter Mensch kennen sollte? Niemand muß sich an diese Auswahl halten, niemand ist verpflichtet, von ihr Gebrauch zu machen. Aber jene, die eine solche Auswahl von vornherein empört ablehnen, mißfallen mir sehr, ich mißtraue ihnen. Und das hat einen persönlichen Grund, und ich will ihn nicht verschweigen. Ich bin, wenn ich mich der französischen oder spanischen oder italienischen Literatur zuwende, sehr dankbar, wenn mir jemand hilft. Ich bin auf ihn angewiesen, auf den Kanon. Mit anderen Worten: »Ich bin ein Lahmer, den eine Schmähschrift auf die Krücke unmöglich erbauen kann.« Dieser Satz stammt von Lessing. Und er hat gleich hinzugefügt, daß eine Krücke dem Lahmen zwar helfe, sich von einem Ort zum anderen zu bewegen, aber zu einem Läufer könne sie ihn nicht machen. Damit meinte er die Kritik, um deren Anerkennung als ständige Institution des literarischen Lebens er noch kämpfen mußte. Daß wir aber sein Wort auch für den Kanon in Anspruch nehmen - er hätte, dessen bin ich sicher, nichts dagegen. Denn so gewiß Kritik und Kanon nicht das gleiche wollen und anstreben, so erfüllen sie doch nicht ganz unähnliche Funktionen. Soviel die Kritik auch im Sinn hat, auf jeden Fall will sie vermitteln: zwischen der Kunst und dem Alltag, zwischen der Literatur und dem Leser, zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Nichts banaler als die Erkenntnis: »Tempora mutantur, et nos mutamur in illis.« Doch wenn sich die Zeiten ändern und wir uns in ihnen, dann ändert sich zugleich unsere Wahrnehmung der Kunstwerke der Vergangenheit. Goethe wußte es. Er schrieb 1822 an Zelter: »Lese ich heute den Homer, so sieht er anders aus als vor zehen Jahren; würde man dreihundert Jahre alt, so würde er immer anders aussehen.« Doch Goethe warnte auch vor dem unkritischen oder einseitigen Verhältnis zum Überlieferten - so 1820: »Wer bloß mit dem Vergangenen sich beschäftigt, kommt zuletzt in Gefahr, das Entschlafene, für uns mumienhaft Vertrocknete an sein Herz zu schließen.« Gerade da, wo es ein starkes und tief verwurzeltes Traditionsbewußtsein gibt - so in England - ist es selbstverständlich, stets aufs neue die Frage nach dem Wert gerade der am meisten gefeierten Werke zu stellen, also die überlieferten Urteile anzuzweifeln. Ob Shakespeare oder Milton, Byron oder Shelley - keinem bleibt der immer wieder aufgenommene Revisionsprozeß erspart. Die Frage »How good is Hamlet?« ist längst zur Standardfrage der englischen Literaturbetrachtung geworden. Wie man weiß, hat diese Frage dem Weltruhm Shakespeares nicht geschadet. Der Rückgriff auf das Vergangene erfolgt stets um der Gegenwart willen - und nur von ihr kann er seine Rechtfertigung beziehen. Nicht die Asche suchen wir, sondern die Glut, das Feuer. Nicht das Alte wollen wir erhalten, sondern im Alten das Gute und Lebendige ausfindig machen und bewahren. Rudolf Borchardt hat seine 1926 erschienene Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie betitelt. Eine von Ludwig Reiners herausgegebene und dereinst sehr populäre Sammlung nennt sich Der ewige Brunnen. Aber die Dichtung kennt keinen ewigen Vorrat, keinen ewigen Brunnen. Jede Generation muß sich ihre Anthologien und Lesebücher, ihre Spielpläne neu zusammenstellen - und natürlich auch ihren Kanon. Also doch und trotz allem eine Liste, die man Literaturkanon nennen mag? Ich glaube: unbedingt. Aber dieser Kanon sollte letztlich nichts anderes enthalten als freundliche Hinweise, Vorschläge und Empfehlungen. Es ist nur ein höfliches Angebot, in dem sich eine eher schüchterne Anleitung verbirgt, ein eher diskreter Fingerzeig. Und damit ist wohl endlich gesagt, wozu wir den Kanon brauchen. Aber wozu brauchen wir eigentlich die Literatur? Ganz unter uns, darüber habe ich nie ernsthaft nachgedacht - vielleicht deshalb, weil ich ein Leben ohne Literatur nie kannte. Ich bitte also um Entschuldigung, ich kann da mit keiner zuverlässigen Auskunft dienen. Sehr wohl kann ich mich aber zu einer anderen Frage äußern: Ich kann sagen, wozu ich, ich ganz persönlich, von meiner Jugend, ja, von meiner Kindheit an und später ein Leben lang, in schlechten und in guten Zeiten, die Literatur benötigt habe und wozu ich sie immer noch benötige, was ich von ihr heute wie eh und je erwarte und verlange. Allerdings sollte die Antwort in diesem Fall kurz und knapp sein, womöglich aus einem einzigen Wort bestehen. Nur ist die Sache leider nicht so einfach, denn es drängen sich mir sofort viele Wörter auf, alle zugleich. Hier sind sie: Unterhaltung, Spaß, Vergnügen, Freude, Entzücken, Begeisterung, Wonne, Glück. Und keine Belehrung, keine Erbauung? War da nicht irgendwie und irgendwann auch die große Sehnsucht nach Bildung im Spiel? Nein. Für Belehrung und Erbauung sind, dachte ich mir, doch viele andere Bücher da - wissenschaftliche, philosophische, religiöse. Und aus der Literatur, läßt sich ihr in dieser Hinsicht nichts abgewinnen? Doch und sogar sehr viel. Nur hängt das vor allem vom Leser ab. Jeder Roman hat einen Autor, das ist selbstverständlich. Aber es gibt stets noch einen zweiten, wenn auch von ganz anderer Art. »Der wahre Leser muß der erweiterte Autor sein« - forderte einst Novalis. Was immer geschrieben wird und wie gelungen es auch sein mag, es bedarf doch, wenn es leben soll, der Ergänzung durch jene, an die sich der Autor wendet. So ist jeder Roman wenigstens zu einem Teil des Lesers Werk - und jede Erzählung und jedes Gedicht ebenfalls. Es ist immer das, was er sich aus dem Gelesenen macht und was es ihm bedeutet - wobei wir uns erlauben, ganz leise an den Umstand zu erinnern, daß diese beiden deutschen Redewendungen einen doppelten Sinn haben, gewissermaßen einen doppelten Boden. Also wie war das eigentlich? Wollte ich, als ich in meiner Jugend anfing, Literatur zu lesen, als sie mich bezauberte und fast auch verzauberte, wollte ich da nicht wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält? Mit Verlaub, das wollte ich gar nicht wissen - und ganz unter uns, ich weiß es immer noch nicht. Aber Stunden und Tage und Wochen des Glücks habe ich sehr wohl erlebt. An diesem Glück wollte ich auch andere teilnehmen lassen - und ich will es ein langes Leben lang, ich will es auch hier und heute. Damit wären wir wieder beim Kanon, genauer: bei unserem Kanon. Noch genauer: bei unserer Kanon-Bibliothek. Sie besteht aus fünf Teilen. Diese enthalten Romane, Dramen, Gedichte, Erzählungen und Essays. Was wurde ausgewählt? In der Brockhaus-Enzyklopädie heißt es, der Kanon könne, zumal im Bereich der Literatur, dem Zeitgeschmack unterworfen sein. Das möchte ich lieber umgekehrt sagen: Einen Kanon, der ihn bewußt oder unbewußt ignoriert, der also von der Gegenwart absieht - einen solchen Kanon kann und sollte es gar nicht geben, jedenfalls benötigen wir ihn nicht. So ist jeder Kanon, wenn er denn etwas taugt, ein Produkt seiner Epoche, jeder entsteht aus der unbedingt notwendigen Revision der früher gebräuchlichen Kanones. Diese Revision ist aus verschiedenen Gründen unvermeidbar - und der wichtigste ist auch der simpelste: der Umfang. Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte kommen viele literarische Werke hinzu, die aufgenommen werden sollten. Aber ein Kanon kann nicht unentwegt wachsen - und dies gilt erst recht für eine auf ihm basierte Bibliothek. Daher müssen wir auf nicht wenige literarische Werke, die früher zum Kanon gehörten (und zwar durchaus zu Recht) und die uns in unserer Jugend vertraut und lieb waren, jetzt verzichten. Sie müssen unbarmherzig entfernt werden, um Platz für Neues zu schaffen. Geboten wird nicht mehr und nicht weniger als die eiserne Ration. Was aber unsere heutige Kanon-Bibliothek von allen vergleichbaren Entwürfen aus der Vergangenheit unterscheidet, ist ihr Adressat. Dies ist ein Kanon für Leser. Selbstverständlich hoffe ich, daß auch Lehrer und Bibliothekare, Studenten und Schüler, daß alle, die sich mit der Literatur in erster Linie aus beruflichen Gründen beschäftigen und also Romane oder Erzählungen oder Gedichte nicht immer und nicht ganz freiwillig zur Kenntnis nehmen, aus dieser Bibliothek Nutzen ziehen werden. Vielleicht wird sie die Geschichte von den Leiden des jungen Werthers, die sie nur deshalb zu lesen begonnen haben, weil es eben erforderlich war, plötzlich interessieren und vielleicht auch erschüttern und schließlich auf überraschende Weise beglücken. Mit dem Werther eröffnen wir den Kanonteil, der dem Roman gewidmet ist. Warum gerade mit diesem Buch aus der Feder eines Anfängers? Weil mit dem Werther passiert ist, was alle (und nicht zuletzt den jungen Autor selber) verblüfft hat, weil der Werther, kaum veröffentlicht, der erste deutsche Weltbestseller wurde? Weil der Werther, so viele Erfolge Goethe auch beschieden waren, sein größter und sensationellster Triumph geblieben ist? Das trifft schon alles zu. Aber da gibt es noch einen ganz anderen Grund. Die Leiden des jungen Werthers, geschrieben vor beinahe 230 Jahren, ist der früheste deutsche Roman, der noch heute ohne Bearbeitung oder gar Übersetzung und ohne Erläuterungen gelesen und genossen werden kann, gelesen ganz einfach als, wir fürchten dieses Substantiv nicht, Unterhaltung, gehobene, versteht sich, und geniale. So eben sind die zwanzig Romane ausgewählt, die diesen Teil unseres Kanons bilden: Sie sollen, wie es eine beliebte, wohl auf Horaz zurückgehende deutsche Redensart empfiehlt, das Angenehme (dulce) mit dem Nützlichen (utile) verbinden. Einen großen internationalen Romanerfolg erzielt die deutsche Literatur erst viel später, am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, mit der umfangreichen Darstellung des Verfalls einer Lübecker Familie. Wiederum ist es ein Anfänger und einer, der, als sein Roman erschien, kaum älter war als der Autor des Werther. Und dazwischen? Was gab es und was gibt es in unserem Kanon zwischen Goethes Werther und Thomas Manns Buddenbrooks? Fünf Romane. Nur fünf? Ja, denn in der Zeit, die diese beiden Romane trennt, blühten in deutscher Sprache andere Gattungen der Literatur, vor allem die Geschichtsschreibung, bisweilen in fast romanhafter Form. Kleist, Grabbe und Büchner, Heine, Hebbel und Grillparzer dagegen schrieben keine Romane. Auch im Werk jener, die gegen Ende des Jahrhunderts bekannt und rasch berühmt wurden, im Werk Schnitzlers und Hofmannsthals, Hauptmanns und Wedekinds, spielte der Roman überhaupt keine Rolle oder bloß eine untergeordnete. Fünf Romane also, die frei sind vom Duft und Staub des Museums, die man lesen kann, als seien sie neu, als seien sie noch nie Gegenstand gelehrter Abhandlungen gewesen. Von den Wahlverwandtschaften, dem reifsten und reichsten Roman Goethes, erstreckt sich unsere Auswahl über die Elixiere des Teufels des wunderbaren und in Deutschland oft unterschätzten Erzählers E.T.A. Hoffmann, dessen Werke - so Heine - »ein entsetzlicher Angstschrei in zwanzig Bänden« seien, über den Bildungsroman Der grüne Heinrich, in dem Gottfried Keller von einem erzählt, der auf dem Weg zu sich selbst ist, bis zu Theodor Fontane, von dem, ebenso wie von Goethe und Thomas Mann, in unserem Kanon zwei Romane berücksichtigt werden, Frau Jenny Treibel und Effi Briest, Romane, die erst viele Jahre nach Fontanes Tod wirklich populär wurden - und die gar nicht populär genug sein können. Es sind sehr verschiedene Elemente, die den Erfolg eines Romans ausmachen, gar einen solchen, der, selten genug, längere Zeit anhält. Aber beinahe immer gehört dazu, heute ebenso wie vor hundert oder zweihundert Jahren, ein unaufdringliches, doch unmißverständliches Angebot besonderer Art. Für Goethe war das von Anfang an klar. »Der Autor ist mir der liebste« - heißt es im Werther -, »in dem ich meine Welt wiederfinde.« Thomas Mann bemerkte in einem Brief aus dem Jahre 1917, spöttisch überspitzend und nachdenklich zugleich: »Wir finden in Büchern immer nur uns selbst. Komisch, daß dann allemal die Freude groß ist und wir den Autor für ein Genie erklären.« Junge Menschen, Schüler vor allem, lasen und lesen noch heute mit roten Backen Hermann Hesses Unterm Rad und Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß - auch wenn sie nie ein schwäbisches Klosterseminar oder ein österreichisches Militärinternat besucht haben. Aber sie identifizieren sich, häufiger unbewußt als bewußt, mit dem Protest der Jugendlichen gegen Engstirnigkeit und Herzlosigkeit, gegen die Welt der Erwachsenen, ob nun Väter oder Lehrer. In den Mittelpunkt seines Romans Berlin Alexanderplatz stellte Alfred Döblin einen Lumpenproletarier, einen Dieb, Hehler und Zuhälter. Seine Leser waren und sind weder Diebe noch Verbrecher, gleichwohl konnten und können sie sich in dem unglücklichen Berliner Transportarbeiter wiedererkennen - in seiner Entschlossenheit, anständig zu sein, in seinem Bedürfnis, mehr vom Leben zu bekommen als ein Butterbrot, und schließlich in seinem Scheitern. Anders ausgedrückt: Sie erkennen ihre eigene Schwäche wieder, ihre Ohnmacht, ihre Leiden. Ähnliches gilt für Josef K., den unheroischen Helden des Romans Der Proceß von Franz Kafka. »Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.« Die Geschichten vom Schicksal der Ausgestoßenen und Angeklagten, die in Prag spielen und in der Welt Kafkas, wurden Jahrzehnte nach seinem Tod als klassische Parabeln von der Heimatlosigkeit und der Entfremdung erkannt und als Extrembeispiele der menschlichen Existenz. Ein Ausgestoßener ist auch Heinrich Manns Professor Raat, der Unrat genannt wird: Er ist ein bösartiger und sadistischer Lehrer, aber auch ein unglücklicher und einsamer Mann, mit dem niemand zu tun haben will. Professor Unrat, ein gegen die wilhelminische Gesellschaft gerichteter Roman, erweist sich zugleich als die Geschichte eines älteren Mannes, der in die Abhängigkeit von einer jungen Frau gerät - eine erotische und sexuelle Abhängigkeit. In dem Augenblick, in dem der bornierte Gymnasiallehrer zum Opfer der Liebe wird, hört er auf, lächerlich zu sein, er erweckt Mitleid. Die Liebe wird im deutschen Roman des zwanzigsten Jahrhunderts keineswegs vernachlässigt, sie ist das zentrale Thema im Werk Max Frischs, am zartesten und am traurigsten vielleicht in seinem persönlichsten Buch, Montauk. Eine flüchtige elegische Idylle wird zum Ausgangspunkt für Rückblicke und Reminiszenzen, für eine poetische Bilanz. Montauk ist ein Buch der Liebe, geschrieben von einem Dichter der Angst. An der Angst, der schrecklichen Krankheit des zwanzigsten Jahrhunderts, leiden die Helden in Wolfgang Koeppens Roman Tauben im Gras. Auf der Flucht vor sich selber, sind sie nicht imstande, ihre Einsamkeit zu durchbrechen. Sie bleiben sich fremd, sie leben nicht miteinander, sie existieren nur nebeneinander - in der Nachkriegswelt, in der nicht genannten, doch immer erkennbaren, von den Amerikanern besetzten Stadt München. »Furcht, das ist, wenn eine bestimmte Vorstellung anfängt, alles andere zu überwuchern« - heißt es im Roman Das siebte Kreuz der Anna Seghers, der Geschichte eines Arbeiters, der 1937 aus einem Konzentrationslager flieht und auf seinem Leidensweg durch die Städte und Dörfer am Rhein und Main viele Menschen trifft. Die meisten überwinden ihre Angst und helfen dem Mann in Not. Ist es vielleicht ein Kriminalroman? Ja, aber mit umgekehrten Vorzeichen: Verbrecher in den Uniformen der SS und der SA verfolgen einen Unschuldigen. Im Innersten des Menschen gebe es etwas - glaubt Anna Seghers - »was unangreifbar war und unverletzbar«. Zur Zeit des »Dritten Reichs« spielt auch der größte Teil der Blechtrommel von Günter Grass. Aber sein Held, der die Welt von unten sieht, protestiert nicht gegen eine Gesellschaftsordnung, nicht einmal gegen bestimmte Erscheinungen des Daseins, sondern gegen die Existenz schlechthin. Er bleibt klein, weil er die Welt ablehnt. Er beschuldigt den Menschen unserer Zeit, indem er sich zu seiner Karikatur macht. Auch die Helden Thomas Bernhards verkörpern die permanente Rebellion - sie meutern gegen die Krankheit und den Tod. Es ist ihre Selbstverteidigung, eine aussichtslose natürlich, die sich in dieser Meuterei manifestiert. Darüber hinaus verfolgt Bernhards Roman Holzfällen - ähnlich wie nahezu alle seine Werke - keine Absicht. Die Rebellion ist sich selbst genug. Sie wird vorgetragen in einer Litanei und in einem Lamento, nur ist Bernhard der Erfinder der komischen Litanei, des heiteren Lamentos. Auch der einst so beliebte große Panoramaroman, psychologisch und gesellschaftskritisch, lebt im zwanzigsten Jahrhundert weiter, doch vor allem als Abgesang auf die vergangene Epoche. »Das wahre Österreich sei die ganze Welt« - lesen wir bei Robert Musil. Österreich als pars pro toto - das gilt für Joseph Roths Radetzkymarsch ebenso wie für Heimito von Doderers Strudlhofstiege. Bei allen Unterschieden zwischen den beiden nahezu gleichaltrigen Romanciers darf man sagen, daß sie beide Virtuosen der Beobachtung und der Beschreibung sind, daß ihre Prosa immer noch verblüfft - dank ihrer Anschaulichkeit und dank der Genauigkeit der Darstellung. Und soviel diese beiden Autoren auch trennen mag, es verbindet sie das Herbstliche, das Elegische, die Abschiedsstimmung. Ein Buch des Abschieds, ein Bildungsroman, eine epische Enzyklopädie, ein künstlerischer Nachruf auf eine ganze Epoche, ein Bild der Intellektuellen im zwanzigsten Jahrhundert, ein Buch über das Leben und also über den Tod - das alles ist Thomas Manns Zauberberg. Sollte man mich fragen, welche Romane in deutscher Sprache mich am tiefsten beeindruckt, begeistert und geprägt haben, ich glaube, in meiner Antwort würde, wie wenige Titel ich auch nennen dürfte, Der Zauberberg nie fehlen. Ich bin sicher, daß es vielen Literaturfreunden nicht ganz leicht fallen wird, sich mit dem Romanteil unseres Kanons abzufinden. Dabei denke ich in erster Linie nicht an diejenigen, die vielleicht diesen oder jenen Titel gegen einen anderen desselben Autors austauschen würden. Vielmehr rechne ich - und das scheint mir wichtiger - mit Lesern, die bedauern werden, daß sie manche Schriftsteller der älteren Generation, die erfolgreiche Romane geschrieben haben, hier vergeblich suchen. Diese Leser bitte ich, sich die von ihnen vermißten Romane jetzt, nach zwanzig oder dreißig Jahren, noch einmal anzusehen. Im übrigen darf man nicht vergessen, daß manch ein Prosaautor, den man sich hier gewünscht hätte, sehr wohl in den Kanon aufgenommen wird - in den Teil mit Erzählungen oder in jenen mit Essays. Wer aber unsere Kanon-Bibliothek für fragwürdig hält, der findet mich auf seiner Seite. Ich meine das ernst. Nur bin ich überzeugt, daß der Verzicht auf einen Kanon in einer zivilisierten Gesellschaft verhängnisvoll, ja unvorstellbar ist. Er wäre ein Rückfall in Willkür und Beliebigkeit, in Chaos und Ratlosigkeit, ein Rückfall in die Barbarei. |
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