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■ Eine Krone von Veilchen
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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2006-10-16 | |
Das ist kein umfangreiches Romanwerk, Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“. Da ist keiner so vermessen, für sich in Anspruch zu nehmen, über ein derart grandioses Unterfangen mit wissenschaftlicher Genauigkeit zu informieren. Es liegt bloß ein sehr gewitzt verfasstes Buch vor uns. Der erst 31 Jahre alte Autor nimmt sich mit jugendlicher Leichtigkeit der übermächtigen deutschen Geistesheroen Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß an, wobei letzterer kein einziges Mal mit vollem Namen, sondern nur als „Professor“ ins Geschehen eingeführt wird. Kehlmann hat genüsslich drauflos erzählt, was die zwei, nun schon älteren Herren in ihrem Leben so alles trieben, der Weitgereiste einerseits und der Bodenständige andererseits. Zu ganz großen Abenteuern im Karl-May-Stil reichte es da bei allen Gefahren, denen Humboldt und sein Begleiter Bonpland – ein sehr sympathischer Geselle – sich aussetzten, nicht. Und trotzdem lässt sich dieses Buch in einem Atemzug lesen. Natürlich sucht man auch nach Ursachen für diese Tatsache.
Zum einen mag sie bei den beiden Haupthelden Humboldt und Gauß liegen, zwei schrullig daherkommende Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts. Das Herausheben dieser menschlichen Merkwürdigkeiten – Stärken und Schwächen – ist das große Verdienst dieses Romans und wohl auch der Grund für sein schnelles Erklimmen der Bestsellerlisten. Dazu gesellt sich die Sprache des Romanciers. Kein einziger Dialog ist zu lesen, wobei das Erzählwerk von der Unterhaltung seiner Protagonisten lebt. Die Bewerkstelligung dieser nach Widerspruch klingenden Technik ist so genial wie einfach: Daniel Kehlmann benutzt für die oft skurrilen, von unfreiwilligem Witz geprägten und meist auf eine Pointe zusteuernden Dialoge den Konjunktiv I. Und er beherrscht dieses Verfahren meisterhaft. Zur Bewerkstelligung gehören kurze „Dialoge“, die den Roman von jeglicher ermüdender Weitschweifigkeit verschonen. Das klingt beim Lesen alles sehr sympathisch und bringt die Romanfiguren dem Leser sehr nahe. Es entsteht sogar eine Art Kumpelgefühl zwischen den Herren im Roman und den Außenstehenden, wenn letztere solche Konjunktiv-Unterhaltungen lesen: „Humboldt forderte ihn auf, an seine Verlobte zu denken. / Habe er nicht, sagte Bonpland und stieg in seine Hose. Er habe niemanden! / Der Mensch sei kein Tier, sagte Humboldt. / Manchmal doch, sagte Bonpland. / Humboldt fragte, ob er nie Kant gelesen habe. / Ein Franzose lese keine Ausländer.“ In diesem Roman ist schon sehr viel Literatur zum Zungenschnalzen verpackt. Die menschlichen Unterschiede zwischen Humboldt und Gauß werden nicht beschrieben, sie ergeben sich aus den Verhaltensweisen der beiden. Beim Thema Sex zum Beispiel heißt es, bezogen auf Humboldt: „Herrje, sagte sie, solches Herzklopfen. Sie zog ihn mit sich auf den Teppich, und aus irgendeinem Grund ließ er zu, dass sie ihn auf den Rücken rollte und ihre Hände an ihm hinabwanderten, bis sie stutzte und lachend feststellte, da tue sich ja nicht viel“ Auf Gauß gemünzt klingt eine ähnliche Szene wesentlich anders: „Im Schlafzimmer zog er die Vorhänge zu, trat zu ihr, spürte wie sie zurückweichen wollte, hielt sie sanft fest und begann, die Bänder ihres Kleides zu öffnen. Ohne Licht war das nicht einfach: Nina hatte immer Sachen getragen, bei denen es leichter gewesen war.“ In diesem Ton geht es eigentlich weiter bis zum Schluss, wo die zwei, Humboldt und Gauß, sich im September 1828, anlässlich des Deutschen Naturforscherkongresses in Berlin, der Stadt mit „dem schmutzigen Himmel“, zum ersten Mal begegnen. Dieses Zusammentreffen hat es natürlich in sich. Pleiten, Pech und Pannen, würde man heute im Fernsehduktus sagen. Auch die letzten Szenen dieses Romans zeigen, dass nicht nur Maßband, Sextant, Theodolit, Barometer, Hypsometer, Inklinatorium, Haarhygrometer und vieles mehr zur Vermessung der Welt nötig sind, sondern vor allem außergewöhnliche Menschen. Zwei so bekannte Namen der Wissenschaft gerade mit ihren Sonderlingseigenschaften in der Belletristik wiederauferstehen zu lassen, und das in einem saloppen, bis zum Schluss mit bolerohafter Rhythmikfestigkeit durchgehaltenen Stil, ohne dabei nur einen Hauch von Klischeehaftigkeit oder gar Lächerlichkeit aufkommen zu lassen, ist zweifellos eine der besten literarischen Leistungen der letzten Jahre. Es kommt nicht von Ungefähr, dass dieses Buch schon über 600.000 Mal verkauft und in 20 Sprachen übersetzt wurde. Auch eine Verfilmung des Stoffes ist im Gespräch und am 19. November 2006 wird Daniel Kehlmann den mit 20.000 Euro dotierten Heinrich-von-Kleist-Preis in Empfang nehmen. Somit steht ein 31jähriger Schriftsteller in der Reihe mit Bertolt Brecht, Robert Musil, Anna Seghers, Heiner Müller, Ernst Jandl, Herta Müller, Judith Hermann, Albert Ostermaier und Emine Sevgi Özdamar. Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt; Rowohlt Verlag, Reinbek, Sept. 2005 (9. Auflage); ISBN: 3498035282; 304 Seiten, gebunden, Euro 19,90 |
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