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■ Eine Krone von Veilchen
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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2007-11-16 | |
In einem Interview mit der FAZ vom 17. April 2007 sagt die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek über sich selbst, dass sie „die Öffentlichkeit in keiner Form ertragen kann, was sicher pathologisch“ bei ihr sei und dass sie mit „ihren Büchern (außer mit Lust) nie viel verdient“ habe.
Eine tragende Säule ihres bisherigen Gesamtwerkes ist zweifellos der Roman Die Klavierspielerin. 1983 im Rowohlt Verlag erschienen, erreichte das Buch bis Januar 2005 immerhin 34 Auflagen. Also muss es doch von einigen Leuten gelesen worden sein. Verfilmt wurde der Stoff auch. Hier scheinen Öffentlichkeitsscheu und Wohlstandsgejammer in krankhafter Abhängigkeit dahinzuvegetieren. Genau diese unglückliche Symbiose feiert auch im Leben der Klavierlehrerin Erika Kohut, die es zu einer berühmten Klavierspielerin nie geschafft hat, fröhliche Urstände. Dieser Roman erzählt in zum Teil schockierenden Bildern vom Nichtloslassen und Sichnichtlösenkönnen. Man stelle sich nur eine 36-jährige Frau vor, die noch mit ihrer Mutter im Bett schläft. Das Resultat ist eindeutig. Da müssen sich Aktiv und Passiv im Genus Verbi wie Hund und Katze vertragen. „Schon hier, in diesem Schweinestall, der langsam verfällt, hat Erika ein eigenes Reich, wo sie schaltet und verwaltet wird.“ Dieser Satz lässt bereits klar erkennen, dass der Passiv nicht von ungefähr als Leideform gilt. Und er deutet an, dass die Autorin kaum freundliche Worte für ihre traurigen Heldinnen finden wird. So wie Erika Kohut wird jemand, der „aus einer Familie von einzeln in der Landschaft stehenden Signalmasten stammt“. Schonungslos sucht und findet Elfriede Jelinek Erklärungen für die Abnormalität ihrer Klavierspielerin. „Erika ist erst nach zwanzigjähriger Ehe auf die Welt gestiegen, an der ihr Vater irr wurde, in einer Anstalt verwahrt, damit er keine Gefahr für die Welt würde.“ Diese Abweichungen von einem normalen Verhalten treten in ganz verschiedenen Formen zum Vorschein: Arroganz, Realitätsverlust, Denunziantenmanie, Kleptomanie, Doppelmoral, omnipräsentes Schuldgefühl, Spannertum, ewige Wunschträumereien, Selbstverstümmelung und nicht zuletzt Masochismus. Und das alles soll im Herzen Österreichs, in Wien, möglich sein, der Stadt der Musik. Der Österreicher Sacher-Masoch (1836-1895) hätte seinerzeit bestimmt seine helle Freude an diesem Roman gehabt, wie ihn heutzutage übrigens auch Leser genießen werden, die pornographischer Literatur nicht abhold sind. Das Verhältnis der Klavierlehrerin Erika Kohut zu ihrem um 10 Jahre jüngeren Schüler Walter Klemmer, „einem hübschen blonden Burschen“ steuert in ein besonders für den Jungen persönlichkeitszerstörendes Chaos. Diese Frau ist biografiebedingt überhaupt nicht liebesfähig und der orientierungslose Jüngling wandelt sich zum Sadisten. Wie schon gesagt, sind wir in Österreich. Man erkennt das schon am Wortschatz: greinen, Guglhupf, Tramway, Faschiermaschine, Handtascherl, Sitz nehmen, Rindfleisch mit Fisolen, repetieren, alte Weiberln, altes Muatterl, Schalerl Kaffee, Hausbankerl, Burschi, kleine Eckbeiseln, einen echten G'spritzten, Schinderassa... Das klingt doch alles locker, eben wienerisch. Ist es leider aber nicht. Alles ist gequält. Selbst das Wiener Musikleben, ja die Musik selbst, ist vernichtenden Zwängen unterworfen. Die Kunst wird zur Fessel und die Musikszene sackt bei Jelinek ab ins Vorstadtmilieuhafte. „Konservatorien und Musikschulen, auch der private Musiklehrbereich, nehmen in Geduld vieles in sich auf, was eigentlich auf eine Müllkippe oder bestenfalls ein Fußballfeld gehört.“ Die Musik in diesem Roman bricht aus, der Bach kommt zur Ruhe, Bruckner ist ein oberösterreichischer Handwerker, die Programmheftschmierer der Philharmonischen Konzerte sind widerwärtige Konformisten, Musik ist eine Blutsaugerin, Erika ist auf ihren Klavierhocker gespießt, ein tobsüchtiger exilungarischer Dirigent geifert die Schülerschar mit starkem Akzent an, das Ensemble geigt, bratscht, brummt und haut in die Tasten, eine Mauer des Schalls schließt sich, ein Bach-Katarakt donnert, die Musik bohrt auf empfindlichen Nervenenden herum und noch vieles mehr. Es sind oft nur wie belanglos eingestreute Sätze, fast versteckt im komplizierten Beziehungsgeflecht Mutter-Erika-Walter, die aus diesem Charakterroman auch einen Gesellschaftsroman – und was für einen – machen. Für so manchen heimatverbundenen biederen Österreicher, „diese sattgegessenen Barbaren in einem Land, in dem kulturell überhaupt Barbarei herrscht“, waren solche Sätze nach Erscheinen des Buches einfach zu viel des Guten. Böse, böse und dann wieder voller Witz, natürlich nicht ohne die jelineksche Portion Sarkasmus, klingt es, wenn der alpenländische Mann in der vollen Pracht seiner Primitivität daherkommt, nein, in der Schießbude steht. Sprachgewaltig und ganz ohne Dialoge kommt dieser Roman daher, sehr dicht geschrieben. Es gibt ganze Seiten ohne Absätze. Und trotzdem drängt man vorwärts, will wissen, wie’s weiter geht, auch wenn so mancher Satz zwei oder auch mehrmals gelesen werden will. Wen wundert’s? Da eckt’s an, an allen Ecken und Enden. Aber sind wir mal ehrlich. Schauen zumindest unsere Gedankenwelten – bei dem einen oder anderen vielleicht auch die Realität – nicht ähnlich aus? Für den Georg-Büchner-Preis (1998) und den Nobelpreis (2004) war diese Art Literatur immerhin ausreichend. Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin, Roman; Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2005; ISBN 3 499 15812 4; € 7.90 (D) |
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