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Untergang einer Lebensform
artikel [ Bücher ]
Verloren in Amerika – Rückschau von Isaac B. Singer

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von [Delagiarmata ]

2007-10-07  |     | 



Da geht einer absolut schonungslos mit sich um: Isaac Bashevis Singer. Man fragt sich am Ende des Buches, was so ein Mensch mit dem monetären Wert eines Nobelpreises anfängt. Isaac B. Singer hat diesen Preis 1978 für sein literarisches Werk bekommen und erst wenn man sich dieses Aktes höchster Anerkennung erinnert, stellt man sich auch die Frage, ob man soeben eine Autobiographie zugeklappt hat oder einen autobiographischen Roman. Das ist nämlich ein gewaltiger Unterschied, obzwar man bei Autobiographen natürlich auch nie sicher ist, wie viel Romanhaftes sich in ihre Erinnerungen eingeschlichen hat – selbstverständlich unbewusst.

In der Einführung zu diesem Buch äußert sich der Autor allerdings ziemlich unmissverständlich: „Diese Betrachtung möchte versuchen, die Erfahrungen eines Menschen, der sich selbst, sowohl in seinem Leben wie in seinen literarischen Arbeiten, für einen Mystiker hält, zu erzählen.“ Also reden wir von einer Betrachtung, einer Rückschau auf ein von „Einmaligkeiten“ und „Seltsamkeiten“ reich gesegnetes Leben, in dem zwischen Segen und Fluch oft nur ein Wimpernschlag lag.

„Vom Schtetl in die Neue Welt“ ist dieses Buch untertitelt und sinngemäß in drei ähnlich umfangreiche Teile gegliedert: „Ein kleiner Junge auf der Suche nach Gott“, „Ein junger Mann auf der Suche nach Liebe“ und eben „Verloren in Amerika“. Das wären eigentlich grob betrachtet zwei Welten: eine europäische und eine amerikanische, oder konkreter: eine Warschauer und eine New Yorker. Es ist aber beileibe nicht so. Ein Stetl bleibt die autarke Welt der Juden, unabhängig von seiner geographischen Lage und selbst von den religiösen Veränderungen, denen es ausgeliefert ist.

Der Bube Isaac wächst in einer strenggläubigen Rabbinerfamilie auf, mit vielen kabbalistischen Büchern, die man „nicht lesen dürfe, ehe man nicht das Alter von dreißig Jahren erreicht habe“. Er begibt sich auf unsicheren Beinen in eine von Regeln und Verboten und vor allem vom Verzicht auf jegliche Fortschrittserrungenschaften geprägte Welt. Der Reiz des Verbotenen fördert bei dem zweifelnden Kind den Drang nach der Wahrheitsfindung, ein früh einsetzender und ihn ein Leben lang begleitender Prozess. Er liest unaufhörlich, und nicht nur religiöse Literatur, sondern auch verschiedene Philosophen, vor allem Spinoza.

Dem Buben folgt der Jüngling. Auch der bleibt in dem engmaschigen Stetlnetz hängen. Er wandelt oft orientierungslos auf ausgetretenen Mystikpfaden und seine gelegentlichen Ausflüge in die Wirklichkeit führen ihn stets ins Bett einer Frau. Das Buch lebt aber gerade von den vielen unbeantworteten Fragen, die dem Autor regelrecht physische Schmerzen bereiten und ihn jedweder Chance zum Führen eines normalen Lebens berauben. Aber wie jedes menschliche Wesen hat auch Isaac eine stärker ausgeprägte Begabung, also ein Talent. Er kann schreiben. Sein Bruder war Schriftsteller und ebnete ihm den Weg in den jüdischen Schriftstellerklub Warschaus. Aber auch hier dominieren seine pessimistischen Wahrnehmungen: „Damals wurde mir klar, was ich schon lange vermutet hatte, dass schlechte Schriftsteller oft scharfsinnige Kritiker anderer Schriftsteller sind.“ Wie wahr das auch sein mag, die Fokussierung des jungen Schriftstellers auf solche und ähnliche Aspekte des Klublebens sind seiner pessimistischen Lebenseinstellung keineswegs förderlich.

Der so unvermeidliche Rückzug ins eigene Ich beginnt schon sehr früh bei Isaac B. Singer: „So wie andere immer Gesellschaft brauchten, so brauchte ich Zurückgezogenheit.“ Dieses Kokondasein muss zum Scheitern seiner „Suche nach Liebe“ ebenso führen, wie er auf seiner „Suche nach Gott“ erfolglos bleibt. Obwohl seine Beziehungen zu Frauen in der Regel mit ausgiebigem Sex untermauert sind, bringen sie ihm keine glücklichen, beruhigenden Lebensfasen. „Sobald ich über eine Phobie oder Neurose las, diagnostizierte ich sie bereits bei mir“, schreibt er im Rückblick auf diese Zeit. Diese übertriebene, aus der Kontrolle geratene Beschäftigung mit sich selbst, lässt ihn der gesellschaftlichen Bedrohung, der die Juden von Seiten Stalins und Hitlers immer stärker ausgesetzt sind, tatenlos gegenüberstehen.

Es dauert lange, bis er sich endlich zur Ausreise aus Polen überzeugen lässt; und es ist höchste Zeit, denn „alle Gesichter verrieten die Müdigkeit der Diaspora, die Furcht vor dem Morgen.“ Der Weg führt durch Deutschland, Hitlers Deutschland anno 1935.

Amerika. Es bringt keine Besserung für den zunehmend an Lebensmüdigkeit leidenden jüdischen Schriftsteller Isaac B. Singer. Sein geistiger Abstieg mündet in körperlichen Verfall. Das alles beherrschende Motiv wird für ihn in dieser Lebensfase der Selbstmord. Das Thema wird variiert wie in einer Partitur: „Vielleicht sollte ich einfach in das Meer hineingehen und dem ganzen Elend ein Ende bereiten? ... Sollten die Schecks einmal nicht mehr kommen, konnte ich immer noch Selbstmord begehen.“ ... u.s.w.

Bei Lesern, die zur Zeit des eisernen Vorhangs von Ost- nach Westeuropa ausgewandert sind, werden so manche Situationen in diesem Buch Erinnerungen an die Besorgung ihrer eigenen Ausreisegenehmigungen erwecken. Wenn es um Bestechung geht, sind sich die Methoden systemübergreifend sehr ähnlich. Und auch was einer Ausreise folgt, hat viel Ähnlichkeit aufzuweisen. Das Buch zeigt, wie schwer es ist, sich als fremdsprachige Minderheit in einem Land zu etablieren. Entweder man wird gnadenlos assimiliert oder man bleibt ein Außenseiter.

Isaac Bashevis Singer hat dieses Buch 1976 fertiggeschrieben. Zwei Jahre später wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen, bestimmt nicht allein für „Verloren in Amerika“, aber bestimmt auch für dieses erschütternde Dokument des Untergangs einer heute weitgehend verschwundenen Lebensform, des „Stetls der jüdischen Diaspora“.


[Isaac Bashevis Singer: Verloren in Amerika; Deutscher Taschenbuch Verlag, 7. Auflage November 1998, 402 Seiten, ISBN 3-423-10395-7; 11,- Euro]

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