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Auch DIE ZEIT geht mit der Zeit
artikel [ Presse ]
Ein Wochenblatt hat seinen 60. Geburtstag gefeiert

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von [Delagiarmata ]

2006-03-12  |     | 



Der Schriftsteller Peter Rühmkorf macht sich aus DER ZEIT „Seitenausrisse“, was ihm „in Vierteljahresabständen nochmals neue Lesegenüsse beziehungsweise Repetitorien verschafft“. Ein Allerweltsleser, der das Blatt nicht regelmäßig, dann aber mit stets wahrnehmbarem Gewinn liest, ist natürlich dankbar für einen Blick in die Vergangenheit dieser Zeitung. Ja, was ist es, das Blatt, denn nun doch? Vom Inhalt her erkennen wir eine den Leser ansprechende, fordernde, aber in seinem Bemühen, die menschliche Gesellschaft mehr als an ihrer Oberfläche kennen zu lernen, auch unterstützende Zeitschrift. Vom Format her halten wir dann aber eine große, vielleicht die größte deutsche Zeitung in der Hand.

Das hat schon die erste Nummer am 21. Februar 1946 zu einem begehrten Artikel gemacht, konnte man im zerbombten Hamburg doch endlich seine zum Verkauf angebotenen Fische und Gemüsebündel preisgünstig einpacken. 25.000 Exemplare zählte die erste Auflage. Diese Zahl ist belegt und stammt nicht aus dem Anekdotenreich.

Auch längst erwiesen ist, dass kein Medium Gegenwart besser konservieren kann, als ein Presseprodukt. Ja, man darf es ruhig als Auftrag eines Printmediums betrachten, die Gegenwart für die Zukunft zu retten und sie nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen. Genau dieses Auftrags waren die Herausgeber und Gestalter DER ZEIT sich immer voll bewusst. Zum Geburtstag haben die heutigen Macher ihre Leser auch in diesem Sinne mit einer vierteiligen Serie unter der Überschrift „60 Jahre DIE ZEIT – 60 Jahre Zeitgeschichte 1946 bis 2006“ beschenkt.

Was tut man mit so einer Serie? Liest man sie von A bis Z, wie Frau Ursula Roeseler dies seit 60 Jahren mit der ZEIT tut? Die Frau war 40 Jahre alt, als sie mit diesem Donnerstagsritual begann. Sie sagt, man müsse für DIE ZEIT dankbar sein „genauso wie für ein Paar Schuhe.“ Oh ja, gehen, mitgehen, begleiten. Das ist auch ein wichtiger Lebenssinn einer Zeitung.

DIE ZEIT hat viele Seiten des Lebens begleitet, auch die Literatur, die sensibelste, subjektivste und so oft unergründbare Seite unseres Alltags. Auch in den vier Geburtstagsbeilagen hat sie ihren Platz gefunden. In der „Chronik der Ereignisse“ (1946-1966) treffen wir sie bereits im September 1984 an, mit Paul Celans „Todesfuge“. Etwas anderes wird wohl auch kaum jemand erwartet haben. Schon am 11. Januar 1949 wurde in Berlin Bertolt Brechts „Mutter Courage“ aufgeführt. Zehn Jahre später sorgen zwei Bücher für ziemliche Unruhe in Deutschland: „Die Blechtrommel“ von Günter Grass und „Billard um halbzehn“. 1965 gründete Hans Magnus Enzensberger das „Kursbuch“, eine Zeitschrift „die sich in den Folgejahren als Sprachrohr der bundesrepublikanischen Intelligenz etabliert“.

Das Feuilleton war schon von Anfang an ein wichtiger Bestandteil der ZEIT. Die Verfasser vieler Beiträge dieser Seiten waren und sind heute noch markierende Namen des deutschen Kulturlebens. Am 27. November 1947 schrieb Josef Müller-Marien über die Inszenierung von Wolfgang Borcherts Heimkehrerdrama „Draußen vor der Tür“. Wer sich versucht jene Zeiten nach dem totalen Chaos mit den unzähligen, nie geschilderten, schrecklichen Einzelschicksalen vorzustellen, wird die Reaktion des Publikums von damals nachvollziehen können: „Fast eine Minute, nachdem der Vorhang gefallen war, blieb es still im Theater, ehe der Beifall losdonnerte.
Marion Gräfin Dönhoffs kurze Reportagen über den deutschen Alltag nach dem Krieg haben ihre Schöpferin längst überlebt und auch kommende Generationen werden auf sie nicht verzichten können, wenn sie ein realitätsnahes und vor allem vorurteilsfreies Bild der deutschen Nachkriegszeit kennen lernen wollen. Ihre „Beobachtungen auf einer herbstlichen Zugfahrt durch Deutschland im Jahr 1947“ führt uns „Menschen im Abteil“ vor Augen, die einem Gefühl Ausdruck verleihen, das auch die Gräfin selbst bis zur bitteren Neige auskosten musste: das Heimweh.
1961 ging es im Feuilleton schon richtig zur Sache. Wie sollte es auch anders sein, schrieb seit zwei Jahren doch schon ein gewisser Marcel Reich-Ranicki für die ZEIT. Das heißt Literaturkritik in klaren, schonungslosen, für jeden verständlichen Worten. Vom Inhalt her natürlich subjektiv, wie auch die beste Literaturkritik nun mal ist, ja anders gar nicht sein kann, solange wir von einer Kunstgattung sprechen. Um „den Fall Koeppen“ nahm Reich-Ranicki sich in der Ausgabe vom 8. September 1961 an. Es ist einwandfrei eine Verteidigungsschrift für den 1906 geborenen Wolfgang Koeppen, für dessen „epische Formulierungen anstößiger Wahrheiten“ die bundesrepublikanische Öffentlichkeit „zunächst wenig und später überhaupt kein Verständnis hatte.“
Einen sehr aufschlussreichen Aufsatz lesen wir über eine Tagung der „Gruppe 47“, deren Modus „etwas ganz Neues und ganz und gar Einmaliges“ war, wie Dieter E. Zimmer schreibt: „Der Schriftsteller liest aus einem «work in progress» und hat schweigend anzuhören, was Kollegen und Kritiker zugunsten oder zuungunsten seines Textes vorzubringen haben. Schonung wird nicht geübt, und auch die ältesten Siebenundvierziger sind vor härtesten Urteilen nicht völlig sicher.“
Bezüglich der überaus ausgeprägten Empfindlichkeiten der Herren aus der schreibenden Zunft erzählt Günter Grass eine Begebenheit mit Paul Celan. Grass fand den einem Plagiatvorwurf ausgesetzten Dichter in dessen Pariser Wohnung auf dem Canapé liegend, mit einer Kompresse auf dem Kopf, in der Hand DIE ZEIT haltend und mit ersterbender Stimme hauchend: „Lies das!“

In der „Chronik der Ereignisse“ (1966-1983) fortfahrend werden wir an den Tod Theodor W. Adornos am 9. August 1969 erinnert. Der Philosoph der Frankfurter Schule hatte seinerzeit einen beträchtlichen Einfluss auf die Studentenbewegung. Am 18. April 1971 haben Wim Wenders und Werner Fassbinder zusammen mit 13 anderen Regisseuren den „Filmverlag der Autoren“ gegründet um unabhängig von der Filmindustrie agieren zu können. Im gleichen Jahr erhielt Marion Gräfin Dönhoff den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Im Herbst 1972 erschien das Buch „Grenzen des Wachstums“ von Dennis L. Meadows. Es wurde ein Bestseller, nur die Verantwortungsträger in Politik und Gesellschaft (von den Wirtschaftbossen wird hier nichts erwartet) scheinen bis heute die Endlichkeit des Wachstums nicht begriffen zu haben. Am 12. Dezember des gleichen Jahres erhielt Heinrich Böll den Literaturnobelpreis. Im Jahr darauf wurde der Schriftsteller und Kritiker Fritz J. Raddatz Feuilletonchef der ZEIT. Die DDR begann unruhig zu werden Am 16 November 1976 wurde Wolf Biermann ausgebürgert und Stefan Heym meinte dazu: „Das Ausbürgern könnte sich einbürgern.“ Im Juni 1977 wird in Klagenfurt zum ersten Mal der Ingeborg-Bachmann-Preis ausgeschrieben und im Oktober erscheint Günter Wallraffs „Der Aufmacher“ über die Praktiken der BILD. Im Februar 1978 erschien in der ZEIT eine Erzählung von Rolf Hochhuth, die den Rücktritt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger (CDU) zur Folge hatte.

Am 26. April 1968 veröffentlichte DIE ZEIT eine Rezension von Marcel Reich-Ranicki zu Dieter Brinkmanns Roman „Keiner weiß mehr“. Der Kritiker nimmt den Autor vor Obszönitätsvorwürfen in Schutz. Ranicki hat die Bedeutung der Sexualität in den zwischenpartnerschaftlichen Beziehungen schon damals, als die Gesellschaft noch weitgehend in dumpfer Prüderie steckte, erkannt. Er schrieb den Deutschen mit seiner unnachahmlichen Art ins Stammbuch: „Wer sich in der Literatur der Wahrheit über das Leben des Individuums in unserer Epoche nähern will, kann auf das Obszöne nicht verzichten.“ Die 68er werden es dankbar vernommen haben.
DIE ZEIT, 18. Mai 1979, „Angst vor dem Wort – Die SED und die Intelektuellen“ von Fritz J Raddatz. Zitat: „Bizeps statt Hirn. Der Bizeps des Staates heißt Polizei. Wo immer sie eingesetzt wird gegen das Wort, verliert sie; auch, wenn sie siegt.“ Kommentar überflüssig.
DIE ZEIT, 26. Oktober 1979, „In den Westen entlassen – Der Schriftsteller Günter Kunert lebt jetzt in der Bundesrepublik“ von Fritz J. Raddatz. Es war wie bei allen großen gesellschaftspolitischen Umbrüchen: zuerst die Intellektuellen, dann die Massen. Dieses Muster hatte Gültigkeit für den gesamten Ostblock.

Die „Chronik der Ereignisse“ (1983-198) führt unweigerlich in die achtziger Jahre. „Männer“ von Doris Dörries wandern über die Leinwand und werden zu Figuren des „stilprägenden“ Konsumphänomens. „Die kulturelle Orientierung hat sich durch die Wiedervereinigung nicht grundlegend gewandelt...“, schreibt der Historker Paul Nolte und Günter Grass gefiel dieses geschichtliche Ereignis gleich gar nicht: „Hässlich sieht diese Einheit aus.“ Ein paar Aufregungen gab es trotzdem. „Hitlers willige Vollstrecker“ schreckten so manchen hierzulande auf. Daniel Jonah Goldhagen, ein junger amerikanischer Geschichtsschreiber, war der Verursacher hitziger Debatten in den Feuilletons. Das ist jetzt gerade mal zehn Jahre her.

Aber muss denn immer gleich so übertrieben werden? Warum nicht? Wenn sie erkannt und gut aufbereitet wird, kann Maßlosigkeit sogar Spaß machen. „Finis“ ist das beste Beispiel dafür. Eine Glosse aus den Anfangstagen dieser Kolumne (seit 1988) klärt auf: „Der Literaturbetrieb, mangels besserer Maßstäbe, benutzt Superlative, die nur eins verraten: daß er
bloß noch Betrieb ist und von Literatur keine Ahnung mehr hat.“ Ganz schön ehrlich!
Ben Witter (1920-1933) war Journalist und Schriftsteller. Für die ZEIT hat er viele Interviews geführt sowie zahlreiche Reportagen und Kolumnen geschrieben. Seine letzte erschien am 17. Dezember 1993. Sie handelt von der Obdachlosigkeit.
Volker Ullrich hat sich Daniel Jonah Goldhagens Buch schon vorgenommen, bevor es in Deutschland im Handel war. Also so ganz stimmt er dem Amerikaner nicht zu. Der neige zu simplifizierender Eindeutigkeit und argumentiere eher wie ein Staatsanwalt denn als Historiker meinte der Deutsche am 12. April 1996 in der ZEIT.

Und nun zur letzten Etappe der „Chronik der Ereignisse“. Sie umfasst den Zeitraum 1998-2006. Wir sind also vom Zeitgefühl her an der Unmittelbarkeit angelangt, stehen so zu sagen unmittelbar nach dieser Zeit (mehr oder weniger) in der Gegenwart. // 11. Oktober 1998 – Martin Walser hält seine Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels. An jenem Sonntag saß ich vor dem Fernseher und hab mir gedacht: Wenn nur da nichts nachkommt. Ein paar Tage später habe ich dann selbst im DONAUKURIER meine Meinung zum Besten gegeben. Man ist halt ein zivilkuragierter Bürger. // 1. August 1999 – Umstellung auf die neue Rechtschreibung. Seither gab es Reformen und Reformen der Reformen der deutschen Rechtsschreibung. Eh, was wäre unser aller Leben ohne tägliche Reformen? So ein reformloses Dasein kann sich in Deutschland schon lange niemand mehr vorstellen. // 10. Dezember 1999 – Literaturnobelpreis für Günter Grass. Mir hat gefallen, wie er in Stockholm getanzt hat, der alte, ewig junge Grass. // 7. Dezember 2004 – Literaturnobelpreis für Elfriede Jelinek. Mama Jelinek soll ja aus dem Banat stammen. Oh weh! Sollte sie gar die alte Dame aus „Die Klavierspielerin“ sein?

Der letzte Kulturbeitrag dieser ZEIT-Sonderausgabe ist ein Interview mit Claus Peymann, dem Regisseur: „In meinem Garten lebe ich übrigens mit fünf Füchsen. Und mindestens 25 Wildschweinen. Wenn die Schweine nachts zu laut werden, gehe ich manchmal raus und rufe: Ich bin der Peymann, der vom BE (Berliner Ensemble, A.d.V.)! Dann grunzen sie und laufen weg.“

„2011 wird DIE ZEIT 65. Zeit für die Rente?“, fragte ein Radiosprecher von DEUTSCHLAND RADIO KULTUR und wünschte ihr alles Gute für die Zukunft. Das Renteneintrittsalter wird bis dann angehoben. Also bleibt uns DIE ZEIT möglicherweise noch eine Zeit lang erhalten! Das zumindest wünsche ich mir.

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