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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2011-01-05 | |
Wie mag es wohl 1833 um das Dorfleben in Jahrmarkt, heute Giarmata im rumänischen Banat, bestellt gewesen sein? Die wenigen Quellen geben nicht viel her. Etwas besser sieht es für die um ca. 30 Jahre ältere Ortschaft aus. Der Journalist und Heimatforscher Luzian Geier schreibt im ersten Band des Ortssippenbuchs der katholischen Pfarrgemeinde Jahrmarkt/Banat und ihrer Pfarrfilialen, 1730 - 2007 von einer "wertvollen handschriftlich erhaltenen Banater ethnographisch-topographischen Ortsbeschreibung aus den Jahren 1858 – 1866".
Laut diesem Dokument hatte das Dorf im Jahre 1864 „4.032 Seelen, und zwar, 2.116 Seelen männlich und 1.916 Seelen weiblichen Geschlechts“. Einer von diesen 2.116 Männern war auch H. Josef (der Ältere. – A.d.V). Eine geheimnisvolle Gestalt, geben die Kirchenbücher doch wenig, ja fast nichts, über seine Abstammung preis. Er sei „um“ 1833 geboren, heißt es lediglich, und wohnte bei Hausnummer 591. Der Mann hat 1856 F. Eva geheiratet. Die Frau wurde 1836 in Guttenbrunn geboren. Diese Familie hatte sieben Kinder, von denen eins (1) überlebt hat. Von den sechs verstorbenen Kindern wurde nur das erstgeborene älter als ein Jahr. Aber auch dieser Junge musste im zarten Alter von sieben Jahren das Zeitliche segnen. Nur der 1873 als letztes Kind der Familie geborene H. Josef (der Jüngere – A.d.V) hat das Mannesalter erreicht. Was waren das für schreckliche Zeiten im Banat? Laut Pfarrer Franz Demele stand „1863 der Gemeinde der Ruin bevor“ und der Neubeschenowaer Bürger Mathias Siebold begann in seinem Hausbuch den Rückblick auf das Jahr 1864 mit dem Satz: „In Noth und Elend begann dieses Jahr; ja so mußte gekämpft werden, weil fast an allen Orten das Brot und Futter für das Vieh mangelte.“ Not und Tod wohin man sah, und das 120 Jahre nach dem ersten Schwabenzug. H. Josef der Ältere ist 1916 in Jahrmarkt verstorben. Seine Frau war ihm schon 1900 in die Ewigkeit vorausgegangen. Als H. Josef der Jüngere 22 Jahre alt war heiratete er die gleichaltrige K. Barbara. Man schrieb das Jahr 1896. Ihre Ehe war mit zehn Kindern gesegnet. Die Einwohnerzahl Jahrmarkts war auf 4823 angewachsen. Immerhin starben nur drei Kinder der Familie im ersten Lebensjahr. Allerdings muss hinzugefügt werden, dass von weiteren zwei jedwede weiteren Lebensdaten im Kirchenbuch fehlen. Von wegen, die Menschen konnten damals in Jahrmarkt „den ersten großen Nutzen aus dem leidvollen Aufbau ziehen“, wenn die Kindersterblichkeit noch immer so hoch war. Was hilft jeder materielle „Überfluss aus Ackerbau, Weinbau, Viehzucht und Gewerbe“, wie es bei Stefan Stader für diesen Zeitraum heißt, wenn der Tod haushält. Vielleicht haben unsere Ur- und Ururgroßeltern damals eine andere Sensibilität (oder Unsensibilität?) zum Verhältnis Leben und Tod entwickelt, als wir das heute tun. Als achtes Kind dieser Familie kam 1911 das Mädchen H. Barbara zur Welt. Es sollte 96 Jahre alt werden und seine letzte Ruhestätte nicht mehr wie seine 1925 (Vater) und 1951 (Mutter) verstorbenen Eltern in Jahrmarkt bekommen, sondern in Worms, fernab der heimatlichen Scholle. H. Barbaras Kindheit viel in die Zeit des ersten Weltkrieges. Die Familie wohnte bei Hausnummer 591 (laut Franz Demele) und der Vater war im Krieg. Er diente im 8. Husaren Regiment beim Wachdienst. Das und vieles mehr über das Leben jener Zeit in Jahrmarkt erfährt man, wenn man sich Franz Demeles Büchlein Temesgyarmat während der Kriegszeit 1914 – 1918 zu Gemüte führt. H. Barbara heiratete den 1907 in Firiteaz geborenen und 1987 verstorbenen B. Peter. Mehr wollen uns die Kirchenregister von diesem Mann nicht verraten. Auch das Datum der Eheschließung ist nicht vermerkt. Die Familie hatte vier Kinder. Das jüngste, B. Katharina Marianna, kam 1941 in Jahrmarkt zur Welt. Und schon wieder war Krieg. 209 Tote hatte Jahrmarkt zu beklagen. 20 Männer kamen als Invalide nach Hause. 1960 heiratete B. Katharina Marianna den 1936 in Kleinsanktpeter, heute Sânpetru Mic im Kreis Arad, geborenen W. Wilhelm. Rumänien war ein kommunistisches Land und W. Wilhelm sollte den Sturz der Ceauşescu-Diktatur nicht mehr erleben. Er starb im Oktober 1989 in Temeswar. Aus dieser Ehe gingen drei Kinder hervor. Klaus, der Älteste der drei Geschwister und 1961 noch in Jahrmarkt geboren, sagte eines Tages, mehr rhetorisch als wirklich fragend, sinngemäß zu mir: „Wer waren wohl meine Ahnen in diesem Dorf?“ Wir hatten schon zwei, drei Wochen zusammen gearbeitet, als ein Arbeitskollege – einer der wenigen Bayern in unserer rund 30 Mann starken Kostenstelle – zu mir sagte: „Auch einer deiner Landsleute.“ Donnerwetter, das war mir noch gar nicht aufgefallen bei diesem Volksgemisch aus Russlanddeutschen, Banater Schwaben, Türken, Siebenbürger Sachsen, Rumänen, Thüringern, Sachsen und wie gesagt einer Hand voll Bayern. Ich nahm den neuen Kollegen - er war erst aus einer anderen Abteilung, die ihre Produktion eingestellt hatte, zu uns gekommen – natürlich sofort beim Wort. Und wie ein Wort das andere nun mal ergibt, stellte sich schon bald heraus, dass hier tatsächlich zwei Jahrmarkter seit geraumer Zeit miteinander arbeiteten, ohne zu wissen, dass beider Wiegen im Dorf um den Großen Brunnen standen. Der Unterschied, das sollte sich schnell herausstellen, war trotzdem gewaltig. Während ich dort geboren und bis zu meiner Aussiedlung dort gelebt habe, waren seine Eltern noch in seinen Kindheitsjahren nach Temeswar gezogen. Das hieß einerseits lebenslange geistige Bindung und andererseits nicht mehr als ein Eintrag im Geburtsschein. Diese Begegnung muss bei Klaus aber irgendetwas unbewusst in ihm Schlummernde wachgerüttelt haben. Auch dazu, oder nach vielen Jahren vielleicht nur dazu, sind sie da, die Ortssippenbücher. Die drei Bände für Jahrmarkt umfassen zusammen 2255 Seiten. Der Verfasser dieser umfangreichen Datensammlung, Franz Junginger, weiß am besten, was man davon hat, wenn man sich einer solchen titanischen Arbeit annimmt und sie so wie er zu Ende führt: „Wenn man sich Tausende Stunden mit den Jahrmarkter Pfarrbüchern beschäftigt, wird einem bewusst, dass diese alten Zeiten einmal Gegenwart waren, und jede Gegenwart in eine Zukunft führt.“ Jahrmarkt und seine Menschen waren für Klaus und mich in vielen Gesprächen Gegenwart, obwohl wir uns über die Vergangenheit unterhielten. Mehr als Erinnerungen an diese Gespräche aus der Vergangenheit können wir in unsere Zukunft nicht mitnehmen, wenn sich noch in diesem Monat unsere Arbeitswege erneut trennen werden. Die Flexibilisierung der heutigen Arbeitswelt lässt ein lebenslanges gemeinsames Arbeiten an einem Arbeitsplatz nicht mehr zu. Aber wenn Klaus zumindest mit einer vagen Vorstellung von seinen Ahnen in Jahrmarkt – soviel eben erfahrbar war – in eine ungewisse Zukunft schreitet, so kann er das wenigstens mit der Gewissheit tun, dass unser kurzer (etwa drei Jahre) gemeinsamer Arbeitsweg ihm einen, wenn auch nur verschwommenen, Blick in seine, das eigene Leben weit rückwärts umspannende, Vergangenheit ermöglicht hat. Dem Autor der Jahrmarkter Ortssippenbücher und seinen Helfern gebührt dafür unser beider Dank. Franz Junginger: Ortssippenbuch der katholischen Pfarrgemeinde Jahrmarkt/Banat und ihrer Pfarrfilialen, 1730 – 2007, Band I, II, III; Hg.: HOG Jahrmarkt, 2008; Bestellungen bei: Helene Eichinger, Mattenhofweg 7, 79294 Sölden; Tel.: 0761-408663 |
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