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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2010-11-14 | |
Es gibt hervorragende Schriftsteller, die alles andere als gerne Reden halten, und es gibt solche, die ebenso gerne Reden halten, wie sie Romane schreiben. Zu Letzteren gehört zweifelsohne Günter Grass, der Nobelpreisträger des Jahres 1999. Die besten Anlässe zu solchen Reden sind Preisverleihungszeremonien. Dem 1927 in Danzig geborenen Grass boten sich im Jahr der Jahrtausendwende gleich zwei Gelegenheiten, Reden zu halten. Am 22. Oktober 1999 bekam er den „Prinz von Asturien“-Preis im spanischen Oviedo und am 7. Dezember des gleichen Jahres hielt er seine Dankesrede zum Nobelpreis für Literatur in Stockholm.
Es gibt völlig unpolitische Literaten und es gibt politisch engagierte Autoren. Auch hier gehört Günter Grass zu Letzteren. Natürlich nützen solche Schriftsteller jede Gelegenheit, um ihr politisches Kredo unters Volk zu bringen. Grass’ Auftritte an der Seite Willy Brandts sind deutsche Zeitgeschichte. Über Literatur und Geschichte sprach Günter Grass auch in Oviedo. Und er gestand zurückblickend: „Solange mir das Schreiben als bewußter Prozeß von der Hand geht – mittlerweile während fünf Jahrzehnten- , lag mir die Geschichte, vordringlich die deutsche, quer. Sie war nicht zu umgehen. Selbst die kühnsten artistischen Seitensprünge führten mich immer wieder in ihren mäandernden Verlauf.“ Heute wissen wir mehr. Zumindest seit dem ersten autobiographischen Buch des Nobelpreisträgers Beim Häuten der Zwiebel, können wir nachvollziehen, was er mit dem Querliegen der deutschen Geschichte, auch seiner eigenen pubertären Involviertheit in diese, meinte. Wir brauchen sie, die Literatur, nach wie vor als Sprachrohr der Machtlosen, der Manövriermasse Volk, die so oft von den Machthabern missbraucht wird. „Der Literatur Zeitzeugnisse gründen tiefer. Sie lassen die Verlierer zu Wort kommen: all jene, die nicht Geschichte machen, denen aber gleichwohl Geschichte unentrinnbar widerfährt, indem deren Diktat sie zu Tätern und Opfern, zu Mitläufern und Gejagten macht.“ Das darf man ruhig als Aufruf an alle Menschen verstehen, die das Bedürfnis verspüren, zu schreiben, aufzuschreiben, was sie erleben, was sie bewegt. Auch wenn sie es nicht zur großen Schriftstellerei schaffen, müssten ihre „Zeitzeugnisse“ nicht in irgendwelchen vergessenen Schubladen auf ihre Entsorgung durch die Nachkommen harren. Wozu haben wir denn heute das Internet? * * * In der wohl wichtigsten Literaturrede seines Lebens, Fortsetzung folgt... , gehalten vor der Schwedischen Akademie, anlässlich der Entgegennahme des Literaturnobelpreises 1999, sprach Gras vom Werden und der Daseinsberechtigung der Literatur. Wie könnte es auch anders sein? Die eigene Biographie der Autoren spielt bei guter Literatur stets eine entscheidende Rolle. Denken wir nur an die Werke Herta Müllers, der bisher vorletzten Literaturnobelpreisträgerin. Die würde es ohne die Heimaterlebnisse der Schriftstellerin gar nicht geben. Grass bekennt sich auch in dieser Rede uneingeschränkt zum prägenden Einfluss der Heimat auf sein Werk. Und dabei ist auch wie bei Herta Müller die verlustig gegangene Heimat gemeint. „Zudem komme ich aus einer Flüchtlingsfamilie. Deshalb hat sich zu allem, was einen Schriftsteller von Buch zu Buch antreiben mag – üblicher Ehrgeiz, Furcht vor Langeweile, das Triebwerk der Egozentrik -, die Gewißheit vom unwiederbringlichen Verlust der Heimat als anstiftende Kraft bewiesen.“ Günter Grass konnte es auch in dieser Rede nicht lassen, über zeitgeschichtliche Ereignisse, die damals, 1999, nur knapp zehn Jahre zurücklagen, zu philosophieren. Seine Bilanz klang nicht besonders ermutigend: „Entsetzt sehen wir, daß der Kapitalismus, seitdem sein Bruder, der Sozialismus, für tot erklärt wurde, vom Größenwahn bewegt ist und sich ungehemmt auszutoben begonnen hat.“ So spricht eigentlich nur ein Mensch, der sich klar und deutlich zu der Seite bekennt, auf der er stand und noch immer steht, wenn diese ihm vielleicht auch die eine und andere Enttäuschung beschert hat. Ich spreche von der deutschen Sozialdemokratie. Grass zweifelt an dem Erhörtwerden seines „Stoßseufzers“ und befürchtet, dass sogar erst „der gezüchtete Mensch als geklonte Schöpfung für die Fortsetzung der Humangeschichte zu sorgen befähigt sein“ könnte. Und trotzdem stirbt auch bei ihm die Hoffnung zuletzt. Was anderes könnte man von einem Literaturnobelpreisträger auch gar nicht erwarten. Das Ende seiner Rede ist ein leuchtendes Beispiel für anspruchslosen Literaturoptimismus. „Selbst wenn eines Tages nicht mehr geschrieben und gedruckt werden wird oder darf, wenn Bücher als Überlebensmittel nicht mehr zu haben sind, wird es Erzähler geben, die uns von Mund zu Ohr beatmen, indem sie die alten Geschichten aufs neue zu Fäden spinnen: laut und leise, hechelnd und verzögert, manchmal dem Lachen, manchmal dem Weinen nahe.“ Günter Grass: Fortsetzung folgt... Literatur und Geschichte; Steidl Verlag, Göttingen 1999; 62 Seite, DM 10,--; (Amazon.de bietet ein gebrauchtes Exemplar zu 8 € an) |
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