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artikel [ Kultur ]
Kolumne 81

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von [Delagiarmata ]

2010-10-30  |     | 



Das war so nicht geplant. Ich ging gestern Morgen in den Keller zum Verrichten irgendeiner häuslichen Tätigkeit. Da stand er übergroß vor mir, wie ich ihn noch nie empfunden hatte: mein Notenständer. Auf seiner Ablage stand noch die Elementarschule für Posaune und Bariton (Trombone and Euphonium) von Richard Stegmann. Vom Tisch schienen mich noch einige vergessene Noten, die niemand vermissen wird, an ein Ereignis zu gemahnen: Heute Abend spielt die Audi Bläserphilharmonie im Festsaal des Theaters.

Und sofort begann ein Film abzulaufen, den ich weder stoppen konnte noch wollte. Es muss wohl 1965 gewesen sein, als Kapellmeister Hans Kaszner (1927 – 2008) mir das Akkordeonspielen beibrachte, keine einfache Aufgabe, wurde mir doch wahrlich musikalisches Talent nur in bescheidenem Maße in die Wiege gelegt. Dann folgte eines Tages das Euphonium, ein „Stowasser-Instrument“.

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Hans Kaszner mit seiner Blaskapelle im Jahre 1972

Mit dem Euphonium machte ich dann auch die ersten Schritte hinaus aus der Dorfenge in die große Stadt und das weite Land. Das erforderte allerdings einiges an Begeisterung. Oder soll man Opfer sagen? Die Proben im Kinder- und Jugendblasorchester des Temeswarer Pionierhauses fanden jeden Sonntagmorgen von 9:00 bis 11:00 Uhr statt. Das hieß für uns pubertierende Jungs aus Jahrmarkt/Giarmata, schon mit dem 7-Uhr-Zug nach Temeswar fahren und mit dem 11:45-Uhr-Zug zurück. Es hat sich gelohnt. Das zusammen Musizieren mit angehenden Amateurmusikern und recht vielen späteren Profimusikern aus dem ganzen Banat unter der bewährten Stabführung Anton Renyés † war ein unvergessliches Erlebnis. Dazu kommen Erinnerungen an wunderschöne Auftritte – nicht nur in Temeswar/Timişoara.

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Das Kinder- und Jugendblasorchester des Temeswarer Pionierhauses beim „Fest des Meeres“ im Schwarzmeerhafen Constanța am 1. August 1971, rechts: Anton Renyé

Wir sind in den ausgehenden 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Längst ward dem Namen Hans Kaszner das klärende Kürzel „sen.“ beigefügt worden (von der Presse), reisten doch zu jener Zeit bereits seine Söhne Hans & Helmut mit kleineren Besetzungen durch die Banater Lande und spielten sich in die Herzen der Menschen, was natürlich auch dem Sprachadditiv „jun.“ einen gewissen Bekanntheitsgrad verschaffte. Wir spielten und spielten und die Banater Schwaben tanzten und tanzten... hinaus aus ihrer Geschichte und hinein ins ethnische Nichts, das sie im Mutterland erwartete und dem sie in der uns folgenden Generation ihre Identität vollständig geopfert haben werden.

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Kirchweihfest in Wiseschdia (Hans Kaszner jun., 1. R. 3. v. l. & Helmut Kaszner, 2. R. 3. v. l.) im Jahre 1977

Aus dem Volksstamm gefallen sind natürlich auch wir Musikanten. Der eine und andere hat vielleicht wieder ein neues ethnisches Selbstbewusstsein gefunden – zumindest in der Tracht -, die meisten der Banater Schwaben tragen ihre ethnischen Merkmale aber nur noch in der Erinnerung und ab und zu in nostalgischen Treffen. So unerbittlich kann Integration sein. Dabei hatten die Musikanten es noch am einfachsten, Anschluss zu finden.

Schubert & Salzer hieß die erste Firma in der ich in Deutschland arbeitete. Wir sind schon im Jahre 1985. Und dort gab es eine Blaskapelle. Hermann Rappel (1917 - 2001) leitete sie. Ich durfte mitspielen und empfand es als eine besondere Ehre, von einem Mann dirigiert zu werden, dessen Namen ich auf Notenblättern aus dem Banat kannte, ein Komponist und Arrangeur also. Firma und Blaskapelle gibt es heute nicht mehr. Sie sind der Neuordnung Europas nach 1989 zum Opfer gefallen. Mir haben sie noch entscheidend zu einem neuen Heimatgefühl verholfen. Danke.

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Hermann Rappel (rechts) und die Werkskapelle Schubert & Salzer im Jahre 1985

Fall aus der Ethnie hin oder her, deine Landsleute wirst du zum Glück nie los. Auch in dieser Kapelle musizierten Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben wie der Hermannstädter (wenn ich mich gut erinnere) Wilhelm Schatz und der Bentscheker Michael Mitsch. Ersterer hatte eine Siebenbürger-Banater-Blaskapelle in Ingolstadt gegründet und ließ mich mitspielen. Diese Kapelle hatte zahlreiche Auftritte, blieb doch die Erlebnisgeneration der rumäniendeutschen Aussiedler weitgehend unter sich. Besonders die Auftritte in Dinkelsbühl habe ich noch in lebhafter Erinnerung. Die Kapelle existiert auch heute noch.

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Wilhelm Schatz (rechts) und die Siebenbürger-Banater-Blaskapelle im Jahre 1986

Michael Mitsch nahm mich mit nach Schierling in die Bierzeltkapelle des Josef, genannt Joe, Watzke, ein bayerisches Original par excellence. Wir tingelten quer durch die deutschen Lande von Niederbayern bis auf den Hamburger Dom. Dort logierten wir zehn Tage, Pardon, Nächte lang in einem Hotel auf der Reeperbahn, was dazu führte, dass wir um Einiges mehr ausgaben, als wir verdienten. Als mich dort eines Tages meine Frau anrief und mir erzählte, dass mein sechsjähriger Sohn tags zuvor auf der Autobahnbrücke über die A9 bei Ingolstadt auf der Suche nach seinem Vater aufgegriffen wurde, machte es zum ersten Mal bei mir so richtig Klick. Es sei nur beiläufig erwähnt, dass ich in jenem Jahr 1987 genau 77 Einsätze absolviert habe - in der Freizeit, wohlgemerkt. Welche Freizeit? Meine natürlich, die Familie schien diese ja nicht benötigt zu haben, zumindest nicht in meiner damaligen Wahrnehmung. Musik ist eine Droge. Das wurde mir in jenem Jahr zum ersten Mal so richtig bewusst.

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Joe Watzke und seine Musiker auf dem Volksfest „Hamburger Dom“ im August 1987

Mittlerweile hatte ich die Firma gewechselt und arbeitete bei Audi, wo es ebenfalls ein Werkorchester gab. Ich habe mich beworben und wurde genommen, ohne allerdings alle anderen Engagements aufzugeben. Das hieß in der Praxis Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag Probe und in der Regel Samstag und Sonntag Einsatz mit einer der vier Kapellen. Ich kann meine Frau bis heute nicht verstehen. Was wollte die nur? Ich war doch freitags daheim, zumindest ab und zu. Auf jeden Fall, ob normal oder abnormal, meine Physis begann zu rebellieren. Woher diese Rebellion stammt, will ich nur an einem Beispiel festmachen, in Stichworten: Samstag, 4.30 Uhr: Aufstehen / 6.00 Uhr: Start der Maschine bei Audi / 14.30 Uhr: Feierabend, mit Walter Rosner (Klarinette) ins Auto (natürlich Audi) und ab auf die Autobahn / 20:00 Uhr: Wir spielen mit Joe Watzke und seinen Mannen den ersten Marsch eines langen, sehr langen Abends auf einer Bühne in Longkamp. Wo das ist? Man sagt, das Dorf wäre „das Tor vom Hunsrück zur Mosel“. // Sonntag, 8:00 Uhr, Moselrundfahrt mit Weinproben / 14:00 Uhr: Blasmusik bis Mitternacht. // Montag, 2:00 Uhr Heimfahrt, aber über Regensburg, weil wir dort einen Kollegen lassen sollten / ca. 11:00 zu Hause, 13.30 ab in die Spätschicht, bis 22.30, dann nach Hause. Ach ja, wir waren ja schon wieder in einer neuen Woche. Hat keiner angerufen, wegen Terminen und so? Zu all dem gibt es wohl nur eine Titulierung: Wahnsinn, der totale Wahnsinn.

Das führte dazu, dass mein Körper zu streiken begann – geschwollene Knie, Kopfschmerzen, Gereiztheit, Lustlosigkeit, Konzentrationsprobleme beim Bedienen von nicht gerade einfachen Maschinensteuerungen etc. – und ich nur mehr einen Ausweg sah (mit tatkräftiger Unterstützung meiner Angetrauten): den schrittweisen aber konsequenten Rückzug. Zum Schluss blieb das Audi Werkorchester und damit begann die spannendste und aufregendste Zeit – für mich und für Europa. Der DONAUKURIER, Ingolstadts Tageszeitung, titelte in der Wochenendausgabe vom 3./4. Februar 1990: Audi schickt Werkorchester als Botschafter in die DDR – Auftritte in Zwickau und Chemniz – Konzerte in Lichterfelde live im DDR-Rundfunk.

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Stadthalle Chemnitz – damals, 1990, noch Karl-Marx-Stadt

Bernd Maltry dirigierte in jener Zeit das Orchester. Er war ein detailbesessener Dirigent. Ich fand heute Morgen beim Aufräumen zwei Zettel, auf denen ich mir irgendwann Notizen in einer Probe gemacht hatte. Warum ich die Worte Maltrys festhielt, weiß ich heute nicht mehr, vielleicht hat es etwas mit meiner Schreibneigung zu tun. Ich schreibe einfach von einem der Zettel ab. Wie gesagt, es sind sinngemäß die Worte meines damaligen Dirigenten:
- Walter, heb das hervor. Das ist wieder eine Erinnerung an das Thema.
- Also immer etwas hervor bis zur zweiten Achtel, dann habt ihr schon Begleitung. (zu den Tuben).
- Als Musiker sollte man natürlich auch ein bissl rechnen können.
- So ein Lauf ohne Zielnote ist immer sehr gefährlich. (zu den Klarinetten).
- Auch im schnellen Tempo alle Noten ausspielen.
- Den letzten Ton ein bissl vorziehen. Ihr spielt auf 1, müsst aber schon auf 4 und da sein.
- Frasierung: zwei gebunden, zwei gestoßen.
- Ein metrischer Auftakt gibt immer das folgende Tempo an.
- Nicht nur einzelne Motive, sondern immer Frasen spielen.
- Eine Triole besteht immer aus „vier“ Noten, die vierte ist die Zielnote.
- Reprise ist die Wiederholung eines Themas.
Damit will ich nicht mehr sagen, als dass, trotz aller aufregenden und hoch interessanten Geschichten und Erlebnissen, doch die Musik, das Erlebnis, Musik mitzugestalten, am nachhaltigsten wirkt.

Und dann war da gestern Morgen noch der zweite Zettel. Er trägt unverkennbar meine Handschrift und ist sogar datiert: 22. Januar 2004. Er liegt vor mir und ich werde ihn auch jetzt nicht den für mich unbrauchbar gewordenen Noten hinterher schmeißen. Das steht auf dem Blatt: „Wenn ein Amateurmusiker die Orchesterproben nicht mehr herbeisehnt, sondern sie im Gegenteil fürchtet, weil er spürt, dass er den an ihn gestellten Anforderungen nicht mehr gewachsen ist, wird es für ihn Zeit ans Aufhören zu denken.“ Dieses Notat hat sich damals nicht auf irgendeinen Kollegen im Orchester bezogen, sondern auf mich, ausschließlich auf mich. Daran erinnere ich mich noch genau. Was war passiert? Ich merkte, dass mein Ton bei Unisonostellen verhängnisvoll zu flattern begann. Das war mir zwar nicht neu, löste an jenem Abend aber einen Klick aus, wie damals bei dem Anruf meiner Frau.

Heute ist der 30. Oktober 2010. Die Audi Bläserphilharmonie spielte gestern Abend ihr traditionelles Wohltätigkeitskonzert und ich war nicht mehr dabei. Zum dritten und entscheidenden Mal machte es heuer Klick beim Sommerkonzert. Immerhin sechs Jahre später. Und obwohl es keine besonders schöne Zeit für mich persönlich mehr war, bin ich froh und dankbar dabei gewesen zu sein. Ich durfte noch mal einen neuen Dirigenten erleben: Christian Lombardi, auch ein guter Mann, doch mehr mit Blick fürs Ganze und weniger fürs Detail. Auch die Umtaufe in Bläserphilharmonie konnte ich noch als Orchestermitglied erleben. Es waren Jahre, die mir vor allem Klarheit über das verschafften, was da überhaupt mit mir geschah.

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Musiker der Audi Bläserphilharmonie laden in Innsbruck ein zu einem folgenden Promenaden Konzert in den Hof der kaiserlichen Hofburg, 17. Juli 2009


Ich bekam immer größere Probleme beim Spielen. Mein Ansatz wurde von Tag zu Tag schlechter. Schon das klingende F in der Oktave wurde zum Problem. Auch die Geläufigkeit begann zu bröckeln. Sechzehntel wurden zur unüberwindbaren Hürde. Getragene Melodien mit vielen halben und ganzen Noten entpuppten sich als Schleudersitze. Ich begann wie besessen zu üben. Meine ganze Freizeit vor der Spätschicht und nach der Frühschicht verbrachte ich nur noch im Hobbyraum beim Üben. „Welche Freizeit? Meine natürlich, die Familie schien diese ja nicht benötigt zu haben, zumindest nicht in meiner damaligen Wahrnehmung. Musik ist eine Droge. Das wurde mir in jenem Jahr zum ersten Mal so richtig bewusst.“ Ich habe mich hier absichtlich wiederholt. Es gibt nur einen kleinen Unterschied. Wo vorher der Körper streikte, setzte jetzt eine Bewusstseinsphase ein, zu der mir allerdings ein Kollege des Orchesters mit seiner Erkenntnis verhalf.

Dieser Kollege, um etliche Jahre jünger als ich, ist von Beruf Arzt und war immer ein sehr guter und zuverlässiger Posaunist im Werkorchester. Eines Tages blieb er einfach weg. Das ist in einem so großen Klangkörper nichts Außergewöhnliches. Da ist die Fluktuation natürlich der Größe entsprechend. Bis eines Tages eine Sammelmail in meinem Postfach lag. Ich kann mich nicht entsinnen, je eine Information mit mehr Gewinn, wenn auch schmerzlichem, gelesen zu haben. Der Kollege schrieb, dass sein Fernbleiben „nicht im Geringsten daran“ läge, dass er „keine Freude mehr“ am Musizieren habe oder gar Arzt wäre. Nein, sein Ansatz verweigerte ihm schlicht und einfach den Gehorsam. Und als Arzt fand er dann auch nach langem Leiden die Erklärung, die so klingt: „Für meine Psyche hat es etwas geholfen, dass ich dem Kind nach einigen Jahren wenigstens einen Namen geben konnte. Der einzige Professor für Medizin und Musik, Herr Altenmüller in Hannover, publizierte in einer mir zugänglichen Fachzeitschrift und beschrieb quasi meinen Fall. Der technische Terminus lautet „fokale funktionsspezifische Ansatzdystonie“, was übersetzt etwa eine Fehlfunktion der muskulären Steuerung beim Musizieren bedeutet, z. B. in Händen, Lippen, Bauchmuskulatur...“ Datiert ist die Mail mit dem 16. April 2007.

Drei Jahre lang habe ich mich mit immer schlechterem Gewissen aus der Affäre gezogen: wo es ging, eine Oktave tiefer gespielt, Unisonostellen ausgelassen, statt Sechzehntel jede zweite Achtel gespielt usw. Natürlich hat Christian Lombardi das bemerkt. Der Mann ist ein sehr erfahrener Musiker. Aber die Audi Bläserphilharmonie ist bei allem Qualitätsanspruch noch immer ein Amateurorchester. Und daher... Nur ich wurde mit mir selbst immer unzufriedener und merkte, wie meine Möglichkeiten von Tag zu Tag – das ist nicht übertrieben – schwanden. Im Sommer diesen Jahres setzte ich diesem schon fast unwürdigen Spiel ein Ende. Der „Yorkscher Marsch“ war mein letzter.

Gestern Abend konzertierte mein Orchester ohne mich. Ich war nicht dabei, auch nicht im Saal. Wer auf Entzug ist, sollte nicht zur Droge greifen. Es gibt hoffentlich noch viele Konzerte der Audi Bläserphilharmonie, bei denen ich mich im Saal so freuen kann, wie ich es die meisten der viel, viel zu schnell vergangenen 24 Jahre auf der Bühne tun durfte.

Und wenn ich jetzt ganz kurz bilanziere, dann war meine schönste Musikantenzeit die in der Kaszner-Kapelle und die lehrreichste und spannendste die im Werkorchester bzw. in der Bläserphilharmonie.

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