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Vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation in die Europäische Union oder Was würde mein Urgroßvater wohl dazu sagen?
artikel [ Kreativ ]
Essay

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von [Delagiarmata ]

2007-01-01  |     | 



Mein Urgroßvater mütterlicherseits schrieb sich Anton Krämer. Im Dorf hieß er aber Berns Vetter Toni, wobei das Mittelwort als ehrenbezeichnende Anrede der Jüngeren stand. Eines Tages pflanzte er in seinem Hausgarten ein Nussbäumchen ein und sagte zu mir, dem etwa zehn Jahre alten Buben: „Wenn der Stamm dieses Bäumchens so dick wie mein Hals ist, dann will ich sterben.“

Das dauerte auch keine Ewigkeit, denn sein Hals wurde von Jahr zu Jahr dünner und das Bäumchen mauserte sich in dem südosteuropäischen Klima mit kalten Wintern, heißen Sommern und den dazwischen liegenden feuchten Herbst- und Frühjahrsmonaten ziemlich schnell zum Schatten und Nüsse spendenden Baum. Trotzdem reichte die Zeit, um einem Reporter der deutschsprachigen Regionalzeitung die Chance zu geben, ihn mit seiner Wess Liss, also meiner Urgroßmutter, die sich Elisabeth Krämer schrieb und eine geborene Greif war, als „das älteste Paar“ im Dorf abzulichten und das Zeitungsfoto mit folgendem Text zu versehen: „[...] Obzwar Vetter Toni schon das 86. und seine Wess Liss das 80. Lebensjahr vollendet haben, sind beide noch sehr rührig. ‚Ich kann mr des Lewe ohni Arweit gar net vorstelle‘, meint Vetter Toni gut gelaunt. [...]“

Es war der 26. November 1969, als das alte Paar sich in der Neue Banater Zeitung beim Zeitungslesen, er ohne Brille, sie mit Brille und kunstvoll geformtem Kopftuch, wiederfand. Der Kommentar zum Foto vermittelt auch heute noch eine Zeit sozialer Sorglosigkeit und man muss fairer Weise sogar zugeben, dass er dem damaligen Lebensgefühl durchaus gerecht wird, obwohl der Regierungschef schon Nicolae Ceauşescu hieß. Es gibt aber ein langes Davor und ein kurzes Danach. Beides sind europäische Geschichte, eine Geschichte die über den Vetter Toni und seine Wess Liss herfiel, ohne sich einen Deut um ihre Meinung zu kümmern.

* * *

Das lange Davor hat seinen Ursprung schon im 17. Jahrhundert. Wären die Osmanen nicht so lüstern gewesen, hätten die Habsburger sie auch nicht bis in die Unendlichkeit Pannoniens verfolgt und Prinz Eugen hätte sich vermehrt seinen Kunstsammlungen widmen können, anstatt die Banater Sumpfburg Temeswar zu belagern. Hätte er in Gyarmath, nach einem gottgesandten und zur Sage ausgereiften Traum, sein Schwert nicht in eine tausend Jahre alte Weide gestoßen, woraus dann ein quellklarer Wasserstrahl schoss, wäre Temeswar nie gefallen und aus Gyarmath oder Jermat oder Gormad oder Jermata oder ... wäre nie Jahrmarkt geworden, das Dorf in dem sich schon 1730 ein Krämer oder Gremer niederließ. Er gehörte zu einer Siedlergruppe, die in eine alte Dorfchronik als „Familien ausgedienter Soldaten, teils auch schon Auswanderer aus der Rheingegend, besonders aus der Umgebung von Mainz“ Eingang gefunden hat.

Was folgte, war alles andere als ein Pappenstiel. Vom Juli 1770 bis Juni 1771 starben im Dorf 700 Kinder, Frauen und Männer am Ungarischen Fieber, ein Petechialtyphus. Mindestens ein Krämer muss überlebt haben. Sie waren trotz allem zäh, die Europäer der damaligen Zeit, obzwar der Tod ein ständiger Gast in ihren Häusern war, auch und besonders dort, am südöstlichen Rande der Monarchie. Der Johann Peter Krämer war zur Fieberzeit erst 18 Jahre alt und er hat überlebt und Kinder gezeugt: vierzehn an der Zahl. Fünf sind über ihr erstes Lebensjahr nicht hinausgekommen. Dabei hat er spät geheiratet, der Hans, wie man ihn damals wahrscheinlich rief. Er war schon sechsundzwanzig. Darum hat er auch noch im fortgeschrittenen Mannesalter seiner Zeugungspflicht gefrönt. Bei der Geburt seiner jüngsten Tochter hatte er immerhin sein einundfünfzigstes Lebensjahr erreicht. Drei Jahre später, fast auf den Tag genau, legte er den Löffel ab und ließ seine angeheiratete Anna Catharina mit den hungrigen Mäulern allein. Man schrieb das Jahr 1806. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, von dessen westlichsten Gebieten Johann Peter Krämers Großvater in diese gottverlassene Gegend vor den westlichen Karpatenausläufern gekommen war, die nicht mehr und nicht weniger als die südöstlichste Grenzregion des gleichen Reiches auf alten Karten zu erkennen ist, wurde soeben auf dem Gottesacker der Geschichte beerdigt.

Das Leben überwog aber in jenen fernen Zeiten auf der Daseinswaage und dies konnte den Architekten des damaligen Europa natürlich nur recht und billig sein. Die gekrönten Häupter der Habsburger verwalteten im 18. Jahrhundert zwar keine Europäische Union, schufen aber durch ihre Populationspolitik durchaus ein Klima des Fortschritts in so manchen Regionen der Monarchie. Das Kultursiegel der Wiener Hofkammer bekam aber den sogenannten Nationalisten in den eroberten Gebieten nicht besonders gut. Zu groß war einfach der Zivilisationsunterschied. Die Kulturen des katholisch geprägten Abendlandes und des orthodoxen Übergangslandes zum Orient, sprich die ganze Balkanzone, prallten schonungslos aufeinander und der Drang nach nationaler Selbstbestimmung konnte nur für kurze Zeit gedämpft werden.

Das Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa herrschende Revolutionsklima war wie alle geschichtlichen Großereignisse eher eine Angelegenheit der großen urbanen Zentren. Die Menschen in den abgelegenen Gegenden hingen ihren Alltagssorgen nach, denn das Leben sollte auch weiterhin triumphieren. Es war ihnen ziemlich wurscht, ob Metternich oder Schwarzenberg in Wien das Sagen hatte und Louis Philipp in Frankreich interessierte sie gleich gar nicht, falls sie überhaupt je von ihm gehört hatten. Ja, sie merkten oft kaum, dass sie von heute auf morgen in einem anderen Land lebten. Als der Vater meines Urgroßvaters 1853 geboren wurde, war er österreichischer Staatsbürger. Schließlich hatte das Wiener Werbepatent vom 21. Juni 1755 doch festgeschrieben, dass die deutschen Siedler in Südosteuropa „für immer als unmittelbare k.u.k. Untertanen gehalten“ werden. Das war am 17. Februar 1867 plötzlich alles futsch. Ungarn erlangte seine Unabhängigkeit zurück. Aus der Habsburger Monarchie ward plötzlich Österreich-Ungarn. Und mein Ururgroßvater? Den mag das mit seinen zwölf Jahren wenig interessiert haben. Er wuchs halt zum ungarischen Bürger heran. Na und? Die anlaufende Madjarisierungswelle war eh überwiegend ein Intellektuellenproblem. Zu Hause redete man weiter, wie einem der Schnabel gewachsen war, und das Ungarische aus der Schule verflog beim Pferdeführen auf dem Acker schnell in alle Winde. Um sich auf dem Wochenmarkt der nahen Kreisstadt durchzuschlagen, langte das Kauderwelsch aus Rumänisch, Ungarisch, Serbisch und Deutsch allemal. Und das kriegte man beim Großwerden sowieso mit.

Die hohe Politik, die heute die Geschichte ist, spielte woanders, nicht in Jahrmarkt und nicht in den umliegenden Dörfern des Banats. Das Provinzdasein wirkte sich, aus jetziger Sicht betrachtet, positiv auf das Gedeihen der Region aus. Der französische Geograph Emmanuel de Martonne spricht sogar von „une sorte d’aristocratie rurale“, also einer Form ländlicher Aristokratie, die sich um 1900 dort entwickelt hätte.

Aber irgendwie kann man ihr, der Politik und Geschichte, doch nicht entkommen. Sie erreichte die Krämers genau in der Generation meines Urgroßvaters, des Berns Vetter Toni aus Johrmark, wie in die Jahre gekommene Mundartsprecher sich noch heute seiner erinnern. Er wurde eingezogen. Man brauchte ihn, den deutschen ungarischen Staatsbürger, um Franz Ferdinands Tod zu rächen. Da begannen sich tatsächlich zwei zum Bekriegen zusammengebündelte Halbeuropas zu bekämpfen. Die Alliierten gegen die Mittelmächte, das klingt wie ein Spiel; ein böses Spiel, das Millionen Menschen das Leben kostete, auch 51 jungen Männern aus Jahrmarkt. Ihre Gebeine ruhen auf den Schlachtfeldern Galiziens und Italiens. Mein Urgroßvater wollte nur überleben. Was die Deutschen, Österreicher und Ungarn mit den Engländern, Franzosen und Russen auszufechten hatten, war ihm völlig gleichgültig. Seine Strategie war ebenso einfach wie genial. Nur nicht den Helden spielen. „Ich hun em General immer die Stiwle geputzt, dass er sich drin gsiehn hot. No hot er mich zu seim Kutscher gemach.“ Dieser Krämer hat überlebt. Ist doch klar.

Kaum war er aus dem Krieg daheim, wurde er über Nacht rumänischer Staatsbürger. Die damalige Kriegspolitik brauchte auch ein Ende. In den Friedensverträgen von Versailles, St. Germain, Neuilly, Sévres und Trianon wurden alte Verbindungen gelöst und neue Zwangsvereinigungen beschlossen. Das Dorf meines Urgroßvaters war also über das Osmanenreich, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, die Habsburger Monarchie und Ungarn schließlich in Rumänien angelangt. Begehrt, begehrt, kann man da nur sagen, wie eine wirklich gute Jahrmarktsware.

Das ließ sich am Anfang mit den Rumänen auch ganz gut an. Leider kam der Nationalsozialismus und sprühte sein Gift bis in die entlegendsten Gegenden Europas, wo Menschen deutscher Zunge damals ein friedliches Diasporadasein vorlebten, inmitten eines Völkermeeres, wie der Wiener Schriftsteller und Theaterdirektor Adam Müller-Guttenbrunn (1852–1923) mal gesagt hat. Dann waren die diktierten europäischen Vereinigungen kaum zwanzig Jahre alt und schon wieder wollte man neue. Mein Urgroßvater war zu alt, um zur brachialen Erzwingung neuer Utopien eingezogen zu werden. Sein Schwiegersohn wurde aber in rumänischer Infanterieuniform etwa 60 Kilometer vor Stalingrad beerdigt und sein Sohn floh als gefangener SS-Soldat aus einem Viehwaggon, der sich auf rumänischem Gebiet in Richtung Nordosten, an dessen Ende Sibirien liegt, fortbewegte. Ja, das war für ein so böses Jahrhundert natürlich nicht genug, auch für den Berns Vetter Toni nicht. Die Russen verschleppten am 14. Januar 1945 seine zwei Töchter in die Sowjetunion, wo sie einige Jahre lang Wiederaufbauarbeit leisten mussten. Väterchen Stalin gab sich eben um nichts humaner als der Führer.

Neue Vereinigungen waren durch neue Teilungen entstanden. Jahrmarkt blieb bei Rumänien. Das war aber kein großrumänisches Königreich mehr, sondern eine von Kommunisten regierte Volksrepublik. Und weil da alles dem Volk gehörte, wurde dem Volk gleich nach dem Krieg alles genommen, um es dem Volk wieder neu aufzuteilen. So landete meines Urgroßvaters Feld mitsamt seinen Gerätschaften in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. Also waren alle Dorfbauern, große, mittlere und kleine, wieder gleich, wie unmittelbar nach der Ansiedlung vor über 200 Jahren.

* * *

Das Danach ist schnell erzählt. Zu der Zeit, als der fast 90jährige Berns Vetter Toni im Gassentürl saß und in die Abendsonne blinzelte, tauchten sporadisch filmende und knipsende Touristen aus Deutschland hinter dem Eisernen Vorhang auf und staunten über die erhaltene Urwüchsigkeit einiger in Anführungszeichen deutscher Dörfer im rumänischen Banat. Das ging aber nicht lange gut, denn der Wandel von der Volksrepublik zur kommunistischen Diktatur vollzog sich mit riesigen Schritten.

Auf diese neue Zeit war mein Urgroßvater aber anscheinend nicht besonders scharf gewesen. Als sein Hals dünn und der Stamm des Nussbaumes dick genug waren, klopfte er seine Pfeife aus, legte sich auf den mit Maislieschen gefüllten Strohsack, unter dem er immer seinen Schafskäse bis zur Wurmreife abliegen ließ, und starb. Das war 1975.

Was der Dahingegangene von damals bis heute alles versäumt hat, war eigentlich wenig Erfreuliches. Sein Dorf hatte es plötzlich sehr eilig und einige seiner Urenkelinnen und angeheirateten Urenkel gehörten zu den ersten, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um den Eisernen Vorhang zu überwinden. Und da waren nicht nur geglückte Fluchtversuche dabei. Ihr Drang nach Freiheit, nach den unbegrenzten Möglichkeiten jeden Jugendtraumes, blieb aber unwiderstehlich und auch ihre Eltern warfen schließlich ihr Hab und Gut den Securitate-Unterhändlern in den Rachen und überboten sich selbst zum Verkauf an. Der europäische Sklavenhandel des 20. Jahrhunderts bekam seine Impulse von der Ware, nicht vom Händler. Der große Exodus hatte in Rumänien schon lange, bevor das Diktatorenehepaar in die Gewehrmündungen starrte, begonnen. Rührend getarnt in der Vereinigungsbeseelung mit dem deutschen Mutterland, verließen die Nachkommen der deutschen Siedler das rumänische Vaterland, um sich von den Lastenausgleichssegnungen noch berieseln zu lassen, bevor man sich in Bonner Regierungskreisen eines Besseren besinnen sollte.

Wer heute die Landkarte Westrumäniens betrachtet, findet nordöstlich von Timişoara (Temeswar) die Großgemeinde Giarmata (Jahrmarkt), eine ethnisch rein rumänische Ortschaft. Nur die beiden Friedhöfe sind noch stark deutsch geprägt. Das Leben um sie herum hat sich wesentlich verändert und die Menschen dort glauben alle an ein fernes, aber sicher nicht unrealistisches Ziel: die EU-Osterweiterung bis an den Pruth.

Und mein Urgroßvater, was würde der wohl dazu sagen? Das könnte so klingen: Es ist doch nicht entscheidend, wie die da oben heißen, ob König, Kanzler, Präsident oder wie auch immer. Wichtig ist, den Menschen geht es so gut, dass sie nicht von zu Hause weg wollen. Ja, und wenn ich dann auch noch mein Stückchen Feld in diesem zum ersten Mal ohne Krieg vereinten Europa zurückbekommen würde, dann wäre dass eine recht prima Sache.

[Ingolstadt, 2003]


VIDEO: Jahrmarkt / Giarmata im Banat, 1969



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